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Politik

Dieser AfD-Politiker blamiert sich seit Monaten mit Parlamentsanfragen

Carsten Hütter ist um einen krawalligen Facebook-Post nie verlegen, nur wenn ihm die Antwort auf seine Anfragen nicht passt, dann schweigt er.
Carsten Hütter im Anzug
Foto: imago | Jens Jeske ||Bearbeitung: VICE

Viel könne man über Carsten Hütter sagen, stellte Jan Böhmermann vor zwei Jahren im Neo Magazin Royale fest: "Dass er aussieht, wie jemand, der Keyboard spielt in 'ner Top 40-Band", oder wie jemand, der mit "Ich zaubere gern auf ihrer Betriebsveranstaltung" für seine Leistungen wirbt.

Seit 2014 zaubert Hütter für die AfD im sächsischen Landtag und spätestens seit Herbst 2016 hätte man ahnen können, was der Einzug des KFZ-Meisters für die Parlamentsarbeit bedeuten wird. Damals wollte Hütter knallhart wissen, ob es im Maxim-Gorki-Park eine Vergewaltigung durch einen Asylbewerber gab, ob der Fall an die Presse kommuniziert wurde und ob es seitens der Behörden Versuche gegeben habe, "das Opfer zum Schweigen zu bringen". Das Problem an der Sache: Es gibt in Sachsen keinen Maxim-Gorki-Park.

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"Das ist politische Parlamentsarbeit, wie sie im Buche steht", lautete damals das Fazit von Jan Böhmermann. Und genau diese intensive politische Arbeit betreibt Hütter seitdem konsequent weiter. Mit gleichbleibendem Erfolg.

Extremismus in Sachsen

Mittlerweile ist Hütter Fraktionsvize der AfD Sachsen und deren sicherheitspolitischer Sprecher. Als solcher will er offensiv gegen Extremismus in dem ostdeutschen Bundesland vorgehen. Dazu hat er vor Kurzem auch einen Verein mit dem griffigen Namen "Exfreisa" gegründet. Das Kürzel steht für "Extremismusfreies Sachsen", der Verein will vor allem an Schulen aktiv werden.


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Was Hütter mit Extremismus meint, ist offensichtlich: "Der linke Terror in Sachsen wird immer heftiger", bilanzierte er kürzlich. Auch der religiös motivierte Islamismus – Hütter führt das Beispiel der Muslimbruderschaft an – sei in Sachsen nicht zu unterschätzen. Diese Grundthese vertritt er auch bei AfD-Veranstaltungen mit dem klangvollen Namen "Extremismus in Sachsen – ein Land im Fadenkreuz" und in brisanten Sharepics, die er mehrmals täglich auf seinen Facebook-Accounts veröffentlicht.

Was er hingegen nicht teilt, sind die tatsächlichen Antworten auf seine zahlreichen Parlamentsanfragen. Darin wird nämlich regelmäßig sein Weltbild widerlegt. Und zwar nicht mit Behauptungen, sondern mit Fakten.

Als er im Januar von der Landesregierung wissen will, wie viele Extremisten es in Sachsen gibt, sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache: 2.800 Rechtsextremisten, davon 1.500, die als gewaltbereit eingeschätzt werden. Das gewaltorientierte salafistische Personenpotential liegt laut Landesregierung hingegen "im unteren zweistelligen Bereich". Im Linksextremismus werden gut 400 Personen als gewaltbereit eingestuft.

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Demnach gibt es in Sachsen also etwa 100 mal so viele Neonazis, vor denen man aufgrund ihres Gewaltpotentials Angst haben sollte, als entsprechend entschlossene Islamisten. Bisher veröffentlichte Meldungen von Hütter oder der AfD Sachsen zu der Erkenntnis, die sie zu Tage gefördert haben: keine.

Und wie sieht es aus mit der Gefahr von links? Auf der Jagd nach angeblich grassierendem Linksterrorismus in Ostdeutschland stellt Hütter immer wieder Anfragen zu "linksextremistischen" Verbindungen von Abgeordneten und Vereinen. Eine der häufigsten Antworten der Landesregierung: "Es liegen keine Erkenntnisse im Sinne der Fragestellungen vor."

Der Aufwand, um eine Hütter-Anfrage zu beantworten, würde den "Verlust der Funktionsfähigkeit der Staatsanwaltschaften" bedeuten

Die extremistische Gefahr in Sachsen könnte aber nicht nur auf der Straße lauern. Deshalb wollte Hütter im Februar in Erfahrung bringen, wie stark die sächsischen Behörden von Extremisten durchsetzt sind.

Seine Anfrage beantwortet die Landesregierung allerdings nicht ganz wie erhofft, sondern rechnet ihm erst einmal vor, dass mindestens 1.687 Arbeitstage nötig seien, um allein alle Verfahren wegen Gefährdung des inneren Friedens zu sichten, die mit dem Zusatz "rechtsextremistisch" gekennzeichnet sind. Davon gab es seit 1990 in Sachsen nämlich fast 27.000. Würde man nun versuchen, diese mutmaßlich rechtsextrem motivierten Vorfälle darauf zu sichten, ob ein Behördenmitarbeiter beteiligt war, würde dies den "Verlust der Funktionsfähigkeit der Staatsanwaltschaften" zur Folge haben, schreibt die Landesregierung weiter.

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Dass der innere Frieden in Sachsen seit der Wende so oft von rechts bedroht war, dass man fast sieben Jahre benötigen würde (bei durchschnittlich 250 Arbeitstagen im Jahr), um sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen, könnte einige Klischees über Ostdeutschland bestätigen – die AfD schweigt dazu.

Wie beachtlich diese Zahl ist, zeigt der Vergleich mit als linksextremistisch gekennzeichneten Fällen, die Hütter natürlich ebenfalls abgefragt hatte. Dort sind 3.975 Verfahren seit 1990 erfasst, also knapp ein Siebtel der rechten Vorgänge.

Fakten, die an Carsten Hütters Weltbild rütteln, fallen unter den Tisch

Doch nicht nur durch den Extremismus sieht Carsten Hütter Sachsen anscheinend in Gefahr. So stellte er Anfang des Jahres mehrere Anfragen zu Übergriffen auf Polizisten, Übergriffen auf Rettungskräfte und Tötungsdelikten in Sachsen und erbat dabei jeweils eine Aufschlüsselung "nach Nationalität der Täter". Die Antwort rüttelte vermutlich erneut an seinem Weltbild: In allen drei Bereichen führen Deutsche die Liste der Täter und Täterinnen an. Bei Übergriffen auf Polizistinnen und Polizisten beispielsweise sind es 863 der 1.148 ermittelten Personen, hinzu kommen zahlreiche Deutsche mit doppelter Staatsbürgerschaft – viele aus ehemals sowjetischen Bruderstaaten.

Ebenfalls in Erfahrung brachte Hütter übrigens, dass es 2018 in Sachsen kein linksextrem motiviertes Tötungsdelikt gab, aber sehr wohl eines von rechts, ebenso wie ein religiös motiviertes und ein Tötungsdelikt, das nicht eindeutig zugeordnet werden konnte. Weil aus Datenschutzgründen in den letzten Fällen keine Nationalität genannt wurde, bat Hütter in einer weiteren Anfrage zumindest um eine Aufschlüsselung der Täter in "ausländisch" und "deutsch". Ein reißerisches Sharepic dazu, dass Rechte in Sachsen aus ideologischem Hass jemanden getötet haben, findet man nach wie vor nicht auf Hütters Facebookseite.

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Wie Hütter auf die Themen für seine Anfragen kommt

Woher Hütter den Stoff für seine Anfragen nimmt, lässt sich an einem aktuellen Beispiel gut nachvollziehen. In einer Anfrage möchte er brisante Diskrepanzen auf höchster Sicherheitsebene aufdecken und fragt, warum der ehemalige Inspekteur der sächsischen Polizei nicht durch eine offizielle Dankesformel geehrt wurde, nachdem er seinen Posten abgeben musste. Die Antwort der Landesregierung: Er ist weiterhin im Dienst, leitet jetzt aber einen anderen Bereich. Somit gab es kein Dienstende und weder Möglichkeit noch Anlass für einen Dankesakt.

Wie kam Hütter darauf, hier könnte etwas im Argen liegen? Eine Google-Suche nach dem Fall bringt einen einzigen Pressebericht: Unter der Überschrift "Ohne Dank und Begründung: Innenminister Wöller feuert Polizeiinspekteur" schreibt Tag24 einen reißerischen Artikel über eine "brutale Personalrochade an der Polizeispitze". Das Boulevardmagazin Tag24 ist so etwas wie Bild Online auf Speed. Ein Artikel über Handtaschendiebstahl wird dort beispielsweise mit "Frau greift sich nach Kinobesuch zwischen die Beine und ist schockiert" angeteasert. Und dort findet Carsten Hütter anscheinend brisante Infos, um anschließend das Parlament mit sinnlosen Anfragen zu beschäftigen. Die Geschichte mit der Vergewaltigung im nicht existierenden Maxim-Gorki-Park machte zuerst auf rechten Blogs und in Pegida-nahen Facebook-Gruppen die Runde, bevor Hütter die Geschichte ins Parlament trug.

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Vorbereitung der Machtübernahme?

Trotz all der Absurdität ist die Anfragenflut von Hütter keineswegs ein Grund zum Lachen. Vielfach deutet sich an, dass er damit bereits Vorbereitungen für die Zeit nach der Landtagswahl im September trifft. Die sächsische AfD hat als Ziel vorgegeben, stärkste Kraft werden zu wollen. Mehrere CDU-Politiker haben eine Regierungskoalition mit der AfD auf Landesebene zuletzt nicht mehr ausgeschlossen.

Dies könnte vor allem für die Arbeit von Demokratie- und Kulturvereinen in der sächsischen Provinz einen entscheidenden Einschnitt bedeutet. Seit Jahresbeginn stellte Hütter knapp 20 Anfragen zum aktuellen Stand der finanziellen Förderung diverser Vereine. Einige der Vereine arbeiten vollkommen ohne Fördermittel des Landes, andere wiederum organisieren mit den Fördergeldern Fahrten zu Gedenkstätten und ehemaligen Konzentrationslagern, um so Geflüchtete für den Holocaust zu sensibilisieren. Eigentlich also ganz im Sinne der AfD, die nicht nur auf ihrer Website von der Bedrohung durch einen angeblichen "importierten Antisemitismus aus dem arabischen Raum" spricht.

Besonders brisant erscheint eine Anfrage Hütters aus dem letzten Sommer, in der er Sinti und Roma in Sachsen durchzählen lassen wollte. Mehrere Sozialverbände fühlten sich "an die dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte" erinnert. Die statistische Erfassung von Sinti und Roma gab es zuletzt in der Nazizeit. Es sei wichtig für eine Gesellschaft zu wissen, "wer sich in ihr aufhält" sagte der Pressesprecher der AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag damals zu VICE. Hütter scheue nicht davor zurück, Anfragen zu stellen, die eventuell als "politisch inkorrekt" gewertet werden.

Ob Carsten Hütter bei einer Regierungsbeteiligung der AfD in Sachsen einen wichtigen Posten einnehmen darf, kann aber zumindest bezweifelt werden. Aktuell steht möglicherweise die nächste interne Schlammschlacht der Partei bevor. Am letzten Wochenende hielt die sächsische AfD ihren Parteitag ab. Der offizielle Facebook-Account der AfD Sachsen postete danach ein Gruppenfoto und ein Grußwort des Vorsitzenden Jörg Urban: "Wir haben nun eine schlagkräftige Mannschaft". Das dazugehörige Bild war so beschnitten, dass Carsten Hütter nicht mehr zu sehen ist.

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