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Meinung

Ich komme aus Höxter und kann das Wort "Horrorhaus" nicht mehr hören

Nach zwei Jahren wurde heute das Urteil zum "Horrorhaus von Höxter" gesprochen. Und ich hoffe jetzt, dass man meine Heimatstadt endlich in Ruhe lässt.
Foto: Werner Otto | imago || Bearbeitung: VICE

Wenn ich an meine Heimat denke, dann an hübsche Fachwerkhäuser, ländliche Idylle und eine erfüllte Kindheit. Aber eigentlich weniger an misshandelte Frauen oder Drogenplantagen. Das hat sich vor zwei Jahren geändert – durch ein grausames Verbrechen und viele, viele Schlagzeilen. Höxter, eine Kleinstadt am äußersten Rand Ostwestfalens, gibt es nicht mehr ohne das Vorwort "Horror".

Im April 2016 wurden Angelika und Wilfried W. festgenommen. Das Paar, das sich als Bruder und Schwester ausgab, wohnte in einem stillgelegten Hof im kleinen Ort Bosseborn. Über Jahre hinweg sollen sie per Kontaktanzeige Frauen gesucht haben. Sie zielten auf psychisch labile Opfer ab und lockten sie in ihren kleinen Ort im Weserbergland, um sie dort zu misshandeln, zu erniedrigen, zu quälen, wie beide vor Gericht einräumen. Was genau mit den Frauen passierte, beschreibt vor allem Angelika W. detailliert beim Prozess und es ist so widerlich und menschenverachtend, dass ich es nicht wiedergeben möchte.

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Das erste Opfer Annika W. erlag 2014 ihren Verletzungen. Ihre Leiche wurde nach Aussage der Täterin eingefroren, anschließend zersägt und dann verbrannt. Das zweite Opfer Susanne F. starb 2016 im Krankenhaus. Das Paar wollte die bereits schwer verletzte Frau damals zurück in ihren Heimatort bringen. Ermittler gehen davon aus, dass sie dort zum Sterben zurückgelassen werden sollte. Doch Angelika und Wilfried W. hatten eine Autopanne und riefen erst ein Taxi, dann den Rettungswagen. Die Ärzte alarmierten aufgrund der Verletzungen und des Zustand des Opfers die Polizei.

Die Presse kommt ins Dorf

Dann ging alles Schlag auf Schlag. Festnahmen, Hausdurchsuchungen, Anklagen vorm Paderborner Landgericht. Eine Reporterin der Bild tingelt durch den kleinen Ort Bosseborn. Die ersten Messi-Fotos werden "exklusiv" veröffentlicht, Anwohner investigativ befragt, die von "immer geschlossenen Rollläden" berichten und dann wird der Name geboren, der bald die Newsseiten in ganz Deutschland beherrscht: "Horrorhaus Höxter". Eine Alliteration, die Klicks bringt, aber in Bezug auf die menschenverachtenden Taten nur eine reißerische Aufmachung ist.

Das Cover einer Spiegel-Ausgabe bezog sich weniger auf die beiden Täter als vielmehr auf die Adresse des Tatorts: "Die Falle: 37671 Höxter, Saatweg 6: Das Grauen von nebenan". Im Sekundentakt bekam ich zu Prozesstagen und neuen Erkenntnissen immer wieder Eilmeldungen unter dem Titel "Horrorhaus Höxter".

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Was in diesem Haus passiert ist, ist ohne Frage schrecklich. Und so grausam, dass es mir immer noch kalt den Rücken runterläuft. Ja, es fühlt sich komisch an, dass so etwas unmittelbar da passiert ist, wo ich als Kind im angrenzenden Wald mit der Grundschule Schnitzeljagden veranstaltet habe. Genau so wenig wie Chemnitz sein Nazi-Image los wird, wird die Kreisstadt und meine Heimat Höxter wohl ihren Horror-Ruf los.

Das Haus wurde nochmal verkauft

Nachdem die Polizei das Haus in Bosseborn leergeräumt hatte, wurde es verkauft, aber nicht als Wohnhaus benutzt. Ein Drogenring baute dort 38 kg Marihuana an, das bei der Sicherstellung auf rund 200.000 Euro geschätzt wurden. So skurril dieser Fall auch war, es änderte nichts am "Horrorhaus" im Saatweg in Bosseborn.

Früher musste ich umständlich erklären, wo ich geboren und aufgewachsen bin, weil niemand Höxter kannte. Heute vermeide ich es, diesen Namen zu sagen, weil die Antwort immer dieselbe ist: "Ach Höxter mit dem Horrorhaus. Seid ihr alle so irre da?" Nein, wir sind natürlich nicht alle grausame Sadisten, die in ihren Bauernhöfen Menschen quälen. Auch meine Heimat-Freunde sind genervt davon, seit zwei Jahren immer wieder damit konfrontiert zu werden.

Die Polizei richtete zur Ermittlung eine 40-köpfige Mordkommission unter dem Namen "Bosseborn" ein, die sich immerhin namentlich auf den richtigen Ort bezog. "Klar, Höxter ist die Kreisstadt, aber Bosseborn ist ein geografisch abgegrenztes Dorf", sagt Simon, ein Freund von mir. "Und das waren keine 'Einheimischen', sondern Leute, die einen abgelegenen Ort für ihre ekligen Taten gesucht haben. Da boten sich das 500-Seelen-Örtchen Bosseborn und ein günstiger Hof an. Aber hey, 'Horrorhaus Höxter' lässt sich besser verkaufen, als 'Mordfall in Höxter'".

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In Höxter wurde eigentlich anders Geschichte geschrieben: "Das angrenzende Kloster ist Weltkulturerbe. Die deutsche Nationalhymne wurde dort geschrieben."

Ein anderer Freund findet es schade, dass dieser Ort seit zwei Jahren mit seinem Image ringt. "Es nervt so brutal, dauernd darauf angesprochen zu werden. Und dass Höxter nur für dieses Verbrechen bekannt ist", sagt Markus. "Das angrenzende Kloster Corvey ist 2014 zum Weltkulturerbe geworden. Die deutsche Nationalhymne wurde dort geschrieben. Und die Landesgartenschau kommt nach Höxter. Dafür sind wir aber national nicht bekannt."

Nina sieht es so: "Jeder nimmt an, weil es hier so ein Kaff ist, dass man die Mörder persönlich kennt. Und es hat einen fiesen Beigeschmack, wenn in den Medien permanent die Heimat als Brutstätte von geisteskranken Bauern dargestellt wird."

Ich habe mich mit weiteren Freunden unterhalten. Keiner kann es mehr hören. Wir alle sind im vermeintlichen "Horror"-Höxter aufgewachsen und wir alle stellen fest: Horror ist eigentlich nur die Berichterstattung unter diesem reißerischen Namen, die nicht die Täter thematisiert, sondern einen Ort verurteilt.

Das richtige Urteil wurde heute trotzdem gesprochen: Angelika W. wurde zu 13 Jahren und Wilfried W. zu 11 Jahren verurteilt.

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