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millennialism

"Unseenzoned": Ein Plädoyer für das Öffnen von Nachrichten

Warum wir nicht ans Telefon gehen, uns vor Türklingeln fürchten und manche Nachrichten gar nicht erst lesen.

Liebe Brüder und Schwestern, liebe Gemeinde! Liebe Schwestern, die ihr Brüder werden wollt, liebe Brüder, die ihr dabei seid, Schwestern zu werden und liebe alle, die ihr irgendwo dazwischen seid! Millennials, Millennials, Millennials – wow! Wir machen uns echt gut: Dem Business Insider zufolge sind wir nämlich drauf und dran, die Ölindustrie, das Geschäft mit Diamanten und sogar schleißige "Breastaurant"-Ketten wie Hooters endgültig zur Strecke zu bringen. Gute Arbeit, weiter so!

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Nun jedoch zu den weniger erfreulichen Programmpunkten: Wenn wir so weitermachen, dann töten wir womöglich die Türklingel-Industrie. Dieselbe Türklingel-Industrie, die auch schon für die Möglichkeit gesorgt hat, der eigenen Anwesenheit mit "Für Elise" oder "Morgenstimmung" Ausdruck zu verleihen! Wollt ihr das? Wollt ihr das wirklich?

Laut dem Wall Street Journal und meiner persönlichen Expertise reagieren Leute in meinem Alter nämlich nur dann auf das Läuten einer Türglocke, wenn sie Besuch oder Pizza erwarten. Ein Bimmeln aus heiterem Himmel hingegen lässt uns in eine Art Schockstarre verfallen, was dazu führt, dass wir bei plötzlichem Klingeln einfach nicht zur Tür gehen, stattdessen aber ängstlich kauernd auf dem Sofa ausharren, bis dieser Psychoterror ein Ende hat. Zumal ja nahezu jedes Türklingel-Schellen auf dieser Welt dermaßen aggressiv und alarmierend mit 100 Dezibel dröhnt, dass man meist nicht ohne Mini-Herzinfarkt davonkommt.

Darüber hinaus scheint es aber auch umgekehrt üblich geworden zu sein, die eigene (wohlgemerkt vorangekündigte) Präsenz eher mit einem schlichten "Bin da!"-SMS bekanntzugeben, als mit einem elektrisierenden Ding Dong, das womöglich noch jemanden erschrecken könnte. Türklingeln sind also – ähnlich wie Nachnamen auf Wohnungstüren – ein Ding der Vergangenheit. Und ihr wisst ja, wie das mit der Vergangenheit ist – um es mit dem großen Boris Becker zu sagen: Vergangenheit ist over! Und nicht nur das:

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Telefonieren ist auch over!

Türklingeln sind nämlich bei Weitem nicht der einzige Aspekt unserer Interaktion, der es irgendwie geschafft hat, sich über die Jahre hinweg selbst ins Aus zu befördern. Ähnlich verhält es sich auch mit Telefonaten: Dass wir inzwischen ungern zum Hörer greifen und für unsere Angelegenheiten lieber auf das geschriebene Wort, wahlweise auch einfach nur Emojis zurückgreifen, wird allein von der Tatsache untermauert, dass das Vorhaben, seine eigene digitale Kommunikation eine Woche lang auf Telefongespräche zu reduzieren, dieser Tage als Selbstversuch gilt.

Wie aber erklären wir unseren Müttern und uns selbst, dass wir die meisten unserer eingehenden Anrufe einfach ignorieren? Dass wir wissentlich auf das leuchtende Display starren, vielleicht noch schnell den Vibrationsalarm im Keim ersticken, um das augenblickliche schlechte Gewissen zu lindern, und anschließend so lange abwarten, bis wir den Anruf mutwillig "verpasst" haben?

Wie erklären wir unseren betagteren Mitbürgern, dass Memes mit den Worten "Finally decided to make an important phone call – hope nobody answers" die ganze, unbequeme Wahrheit unseres Seins auf den Punkt bringen? Und was sollen wir eines Tages unseren ungewollten Kindern erzählen, wenn wir ihre Anrufe solange aussitzen, bis wir wieder tindern können? Haben wir alle einen geistigen Knacks?

Glaubt man dem Guardian, basiert unsere Abneigung gegenüber Telefonaten mehr auf guten Manieren als sozialen Phobien: Demnach bringen uns unsere eigenen Erfahrungen mit einer Vielzahl an verschiedenen Kommunikationskanälen und den damit verbundenen Stress- und Drucksituationen dazu, dass wir selbst lieber zu den Kontakt-Optionen greifen, die für andere am wenigsten belästigend sein können. Telefongespräch ja, aber nur, solange man es sich im Vorhinein ausgemacht hat. Kurz: Wir wollen nicht gestört werden, und wir wollen echt nicht stören!

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Und nur deshalb, liebe Freunde – weil wir alle so gut erzogen sind –, findet wohl auch der kaltherzigste Millennial-Habitus ein vorzeitiges Ende:

Seen-Zone ist over!

Das heißt aber nicht, dass nicht gleich die nächste geisteskranke Facebook-Foltermethode hinterherkommt. "Do you ever not check your messages on Facebook messenger so other people won't see you've read their messages?" ist einer dieser Reddit-Threads, die einem vor Augen führen, wie unfassbar unsexy unsere Generation das Prinzip Kommunikation an sich findet. Gleichzeitig sind wir aber auch irgendwie empathisch genug, um darauf bedacht zu sein, dem Gegenüber nicht auf den Schlips zu treten.

In der Seen-Zone zu verrotten – also zwar gelesen, aber dann trotzdem hart ignoriert zu werden – ist bekanntermaßen das grausamste aller modernen Kommunikationsgefühle. Und weil man niemanden, wirklich niemanden seiner Mitmenschen in dieser Internet-Vorhölle der Ungewissheit schmoren lassen möchte – und auch deshalb, weil es inzwischen einfach unhöflich ist –, machen wir unsere erhaltenen Facebook-Nachrichten gar nicht erst auf. Quasi die "Ungeöffnet zurück"-Frankierung des digitalen Zeitalters.

Anders als auf WhatsApp (gesegnet sei dieses Feature), lassen sich diese unliebsamen "Gesehen"-Haken auf Facebook nämlich nicht einfach deaktivieren. Und falls ihr bisher dachtet, Nachrichten im Messenger wieder als "ungelesen" zu markieren würde das Problem lösen: Das tut leider nicht mehr als wenn ihr eure Mails als ungelesen markiert und ist nur als Orientierungshilfe für euch selbst da.

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Mit der Lösung, digitale Briefe einfach verschlossen zu halten, entzieht man sich gewissermaßen der gefühlten Verantwortung, Antwort geben zu müssen und dem stets anhaftenden Druck, dies möglichst schnell zu tun. Wie geläufig die Etikette des Nicht-Öffnens inzwischen ist, beweisen ganze Mashable-Guides, die zum Beispiel erklären, wie man Facebook-Nachrichten zur Gänze lesen kann, ohne dabei aufzufliegen. (Pro-Tipp: Flugmodus.)

Einen ähnlich eingängigen Begriff wie "Seenzoned" gibt es für diesen Next-Level-Shit unseres Wissens nach noch nicht, aber konsequenterweise müsste es wohl genau so heißen: "Next Level Seenzoned". Oder "Unseenzoned".

Am Ende bleibt nur, dass wir ein ziemlich paradoxer Haufen sind. Unsere permanente Erreichbarkeit hat uns irgendwie in die Unerreichbarkeit getrieben. Wir sind unter mehreren Nummern, Adressen und Profilnamen auf multiplen Plattformen und Kanälen verfügbar, gehen aber weder ans Telefon, noch zur Tür. Wir ziehen schriftliche Mitteilungen einem Telefongespräch vor, öffnen aber keine Nachrichten. Wir wollen eigentlich nur höflich sein und werden dabei unhöflich. Und aus irgendeinem Grund empfinden wir Zartrosa als die schönste Farbe, die diese Welt je gesehen hat.

Brüder und Schwestern – öffnet eure scheiß Nachrichten, denn ich ertrage diese Pein nicht mehr. Antwortet auf selbige Nachrichten, denn die Sitte verlangt es. Geht an euer Telefon, denn ich habe frohe Kunde zu verbreiten; und vielleicht ist es dringend. Und schaut bei unverhofftem Ding-Dong zumindest vorsichtig durch euren Türspion, einfach nur, um sicherzugehen, ob da draußen nicht jemand verblutet. Unfreundlichkeit ist over!

Franz auf Twitter: @FranzLicht

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