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Feminisme

Woran du merkst, dass du ein Narzisst bist

Ein Experte erklärt, wo die Grenze zwischen aktivem Social-Media-Feed und narzisstischer Störung verschwimmt – und wie man aus dem Teufelskreis ausbricht.
Photo by Sonja Lekovic via Stocksy

Es ist immer leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn sie sich benehmen wie selbstsüchtige Arschlöcher. Vielleicht konnten sich unsere Leser auch deshalb so stark mit einer Studie identifizieren, laut der nur Narzissten und Psychopathen mit ihren Ex-Partnern befreundet bleiben wollen. Die Wissenschaftler haben anscheinend vielen Menschen dabei geholfen zu verstehen, warum ihr Ex sie noch immer regelmäßig anruft. Aber was, wenn nicht die anderen das Problem sind?

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Ich begann, ernsthaft an mir und meinem Selbstbild zu zweifeln, als ich über ein Zitat von Clarice Starling in Das Schweigen der Lämmer stolperte: "Sie haben sicher schon viel gesehen, Doktor", sagt Starling zu dem Kannibalen Hannibal Lecter. "Aber was ist, wenn sie ihren Blick mal auf sich selbst richten würden? Was passiert dann? Warum sehen sie sich nicht selbst an und schreiben auf, was sie sehen? Vielleicht haben sie aber auch zu viel Angst." Diese Aussage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was, wenn ich selbst ein Narzisst war und es einfach nicht wahrhaben wollte?

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Ich kontaktierte Dr. Tony Ferretti, ein Narzissmus-Experten, den ich im vergangenen Jahr mehrmals interviewt habe. Vielleicht konnte er mir eine Antwort auf meine plötzlich aufgetretene Sinnkrise geben.

Laut ihm könnten sich narzisstisch veranlagte Menschen sehr zuverlässig selbst identifizieren, in dem sie sich fragen, ob sie sich selbst als narzisstisch bezeichnen würden. "Ironischerweise sind Narzissten sehr stolz auf dieses Persönlichkeitsmerkmal und betrachten es nicht als negative Eigenschaft." Gleichzeitig seien aber viele Narzissten so selbstbezogen, dass sie wenig Einblick darin hätten, wo ihre eigenen Probleme liegen, schreibt er in seiner E-Mail an mich. "Meiner Erfahrung nach werden sie normalerweise zuerst von anderen auf ihren Narzissmus aufmerksam gemacht, bevor sie es an sich selbst erkennen."

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Narzisstische Eigenschaften können im Beruf auch durchaus hilfreich sein.

Es gibt einen Unterschied zwischen einem echten, pathologischen Narzissten und jemanden, der einfach nur narzisstische Eigenschaften besitzt. "Aktuell leiden nur zwei Prozent der Bevölkerung unter pathologischem Narzissmus", erklärt Ferretti und stimmt mich damit sehr optimistisch. Es sei nicht schlimm, narzisstisch veranlagt zu sein – vorausgesetzt, es lässt sich steuern. Selbstbewusstsein, Extroversion und die Fähigkeit, sich mit den Herausforderungen des Alltags auseinanderzusetzen, seien grundlegend nämlich alles positive Eigenschaften, sagt der Experte.

"Narzisstische Eigenschaften können im Beruf auch durchaus hilfreich sein. Wenn bestimmte Charaktereigenschaften allerdings zu einem beständigen Muster werden, das unser berufliches oder zwischenmenschliches Leben beeinträchtigt – und Gedanken, Emotionen oder Verhaltensweisen unsere Leistungsfähigkeit schmälern –, dann wird das Ganze als Störung bezeichnet", sagt Ferretti. Er teilt meinen Eindruck, dass Narzissmus in der westlichen Welt immer weiter verbreitet ist. "Meiner beruflichen Erfahrung nach hat das Maß an Narzissmus in unserer modernen Gesellschaft zugenommen."

Foto: Pixabay | Pexels | CC0

Wenn jemand zu selbstbezogen ist, um zu merken, dass er selbstbezogen ist, wie stellt er denn dann überhaupt fest, dass er ein Narzisst ist? Dr. Ferretti erklärt mir, dass Narzissten sehr leicht daran zu erkennen sind, dass sie "über sehr wenig Empathie und emotionale Intelligenz verfügen und ihnen das Bewusstsein für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen fehlt." Außerdem, sagt er, sind wahre Narzissten "andauernd auf der Suche nach Bestätigung und der Meinung, dass sie einen Anspruch auf Sonderbehandlung haben."

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Narzissmuss wird heutzutage aber auch über unseren gesellschaftlichen Kontext definiert, sagt Ferretti. Er erklärt, wie man erkennt, ob man ein Narzisst ist: "Wenn du etwas in den sozialen Medien postest und pausenlos nachsehen musst, ob jemand reagiert oder deinen Beitrag gelikt hat, dann könnte das ein Hinweis darauf sein, dass du narzisstische Tendenzen hast. Dasselbe gilt für Menschen, die andauernd Selfies machen und ihr gesamtes Leben in den sozialen Medien teilen müssen."

Folgt Broadly bei Facebook, Twitter und Instagram.

Sehr aktiv auf Instagram und Facebook zu sein, ist allerdings nicht der einzige Hinweis darauf, sich selbst ein bisschen zu sehr zu lieben. Ferretti sagt, dass Selbstzentriertheit daran gemessen werden kann, "ob deine Stimmung oder deine Haltung negativ beeinflusst wird, wenn du keine Reaktionen oder keine Anerkennung in den sozialen Medien bekommst". Außerdem würden Narzissten von ihren Freunden erwarten, sich nach ihnen zu richten. Kränkt es dich, wenn ein Freund andere Pläne hat? Narzisst.

Doch wieder zurück zum Wesentlichen: Ferretti erklärt, dass es durchaus sein kann, dass du ein Narzisst bist, wenn du "übermäßig viel Zeit vor dem Spiegel verbringst" oder "auf deine äußere Erscheinung fixiert bist und erwartest, dass dich die anderen mit Lob überschütten". Einige der verräterischsten Symptome von Narzissmus sind laut dem Experten allerdings ein fehlendes Gespür für die Bedürfnisse anderer, das Ausnutzen der Freundlichkeit anderer und einen ausgeprägten Wunsch nach Macht. Ein ebenfalls klassisches Anzeichen sei, wenn man seinen Erfolg als immer etwas größer und spektakulärer sieht, als er tatsächlich ist.

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Hör auf, alles, was du tust, zu posten.

Auch wenn selbstverliebte Egoisten allem Anschein nach auch mit sich selbst glücklich werden können, kann das Leben in der eigenen Blase doch recht einsam werden. Sind Narzissten dazu verdammt, nur sich selbst zu lieben und beschissene Partner zu sein, die ständig mit ihren Ex-Partnern telefonieren? Gibt es eine Möglichkeit, sich zu "bessern"? Ferretti sagt, dass "sich Narzissten bis zu einem gewissen Grad ändern können. Allerdings erfordert es eine hohe Bereitschaft, viel Arbeit und einen starken Willen".

Wenn du ein Narzisst bist, der keiner mehr sein möchte, solltest du zunächst versuchen, "weniger zu reden und mehr zuzuhören". Das ist allgemein ein guter Rat. Zudem sollten sich Narzissten einen Partner suchen, der nicht von Selbstbesessenheit und mangelnder Empathie geblendet ist – jemand, der als moralische Richtschnur zurück zur Menschlichkeit agieren kann.

"Such dir einen verantwortungsvollen Partner mit Integrität und hohen moralischen Standards, der Beziehungen mehr Wert beimisst als Erfolg", sagt Ferretti. "Es sollte jemand sein, der dich zurechtweisen kann und dessen Meinung du respektierst." Man kann sich allerdings auch einen Therapeuten oder eine Selbsthilfegruppe suchen. "Narzissten können lernen, weniger selbstbezogen zu sein, wenn sie andere an ihrer Zeit, ihren Talenten und ihrem Vermögen teilhaben lassen", sagt Ferretti. "Sie werden davon profitieren, indem sie Demut, Mitgefühl und Empathie lernen – zum Beispiel durch ehrenamtliche Arbeit."

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Dem modernen Narzisst, der es liebt, sich selbst einen digitalen Schrein zu errichten, könnte es helfen, "die Zahl der Posts und Selfies oder die Online-Aktivität ganz allgemein einzuschränken", um die Störung kontrollieren zu lernen. "Hör auf, alles, was du tust, zu posten und begrenze deine Zeit in den sozialen Medien", sagt Ferretti. Sein Vorschlag: Eine Stunde pro Tag reicht.

Anstatt also mit seinen Schmollmund auf Instagram zu posieren, schlägt der Experte vor, "die Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten und einen Freund oder ein Familienmitglied anzurufen, um herauszufinden, wie es den anderen geht".

Dr. Ferrettis Erkenntnisse dürften viele von uns zutiefst verstören – vor allem, wenn man sich selbst noch nie zuvor als Narzissten betrachtet hat. Doch das ist halb so wild. Immerhin ist es möglich, dass du dich "bis zu einem bestimmten Grad" ändern kannst. Wenn es dir noch immer schleierhaft sein sollte, wie du ein normaler Mensch werden kannst, der nicht komplett von sich selbst eingenommen ist, solltest du laut Ferretti "die Menschen, die dir wichtig sind fragen, wie du ihnen helfen kannst, anstatt immer nur so selbstbezogen zu sein." Wie Hannibal Lecter will ja nun wirklich niemand von uns enden – oder?


Foto: Andrés Nieto Porras | Flickr | CC BY-SA 2.0