"Jö! Jetzt ist uns was Rechtes passiert." Ein Erklärungsversuch zu Schwarz-Blau

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Schwarz-blaue Geschichten

"Jö! Jetzt ist uns was Rechtes passiert." Ein Erklärungsversuch zu Schwarz-Blau

Österreich befindet sich mit voller Geschwindigkeit auf der Autobahn in die Vergangenheit. Auf der Suche nach authentischen Anführern sind wir auf die alten Inszenierungstricks der Theaterstadt Wien hereingefallen.

Dieser Artikel ist Teil unserer laufenden Berichterstattung über die schwarz-blaue Regierung, die wir hier unter dem Namen "Schwarz-blaue Geschichten" gesammelt haben.

"Österreich ist eine Folge Black Mirror von Deutschland", hat Jan Böhmermann auf Twitter mal geschrieben. Das war zwar vor der neuesten Staffel, die im Vergleich zur Wirklichkeit fast wie Spa-Urlaub wirkt, und auch vor der Angelobung der neuen Regierung in Österreich. Und vor dem Wahnsinn, der seither seinen Lauf nimmt, aber es stimmt heute mehr denn je.

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Abartige Dinge haben eine merkwürdige Tendenz dazu, in unserem schrulligen Land zu passieren. Die oft bemühte Metapher vom Autounfall, bei dem man einfach nicht wegsehen kann, greift da schon lange nicht mehr. Vielmehr ist es, als würde man am Rand einer Massenkarambolage stehen, die als brennender Metallklumpen auf vereister Fahrbahn in die Gegenfahrbahn steuert – und das Ganze über Stunden hinweg auf Facebook Live streamen.

In der neuesten Folge von Österreich geht es unter anderem um Ex-, Neo- und Nennt-uns-bitte-nicht-Nazis, die sich selbst für die neuen Juden halten und die Bevölkerung mit ihrer großen Angst-Roadshow bullshitten. Und um gemäßigte Rechte, die ihnen dafür die Abendkassa machen. Auch heute gibt es noch keine Anzeichen, dass sich die Wirklichkeit maßgeblich von den Prognosen abheben wird. Lassen wir den Zirkus beginnen.

Musikantenstadl, Sektenkongress und Stellvertreter-Glaube

Als kleine Einordnungshilfe vorab: Die schwarz-blaue Regierung von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache ist ein Bündnis aus Rechten und Rechtsrechten, getarnt als Koalition der Konservativen und Heimatliebenden, und eine antiislamistische Allianz mit Anbindungen im Musikantenstadl-Milieu auf Seiten der FPÖ und Sektenkongress-Inszenierung auf Seiten der ÖVP.

Wer es wagt, auch nur den kleinsten Aspekt daran in Frage zu stellen, wird schnell mit der Worthülsendevise der Stunde geprügelt: Einfach mal machen lassen. Entsprechend hat Schwarz-Blau gleich zu Beginn eine Reihe an Maßnahmen beschlossen, die ihnen die uneingeschränkte Gunst der Über-70-Jährigen sichern dürfte: Das geplante Rauchverbot wurde wieder gekippt, in der Grundschule soll es bald wieder verpflichtende Noten geben (eine Entscheidung, die von Pädagogen vor allem als gefährlich für bildungsfernere Kinder eingeschätzt wird) und für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wollte man in gebührender Kurzsicht eine Österreich-Quote einführen.

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Dass mittlerweile die Hälfte der Regierung nicht nach Israel einreisen darf, sollte uns in diesem Zusammenhang vermutlich auch irgendetwas sagen, aber ich komm nicht drauf. Außerdem muss man mit Nazi-Vergleichen heute aufpassen; fast mehr als mit dem Nazi-Verehren, hat man das Gefühl. Ein User namens Edmund D. kommentiert diesbezüglich auf Facebook: "Ehrlich, es ist mir wurscht, ob Nazi oder Nichtnazi, so lange gute Arbeit für das Land und Volk geleistet wird." Genau.

Und weil die geriatrischen Gehirne der Österreicher nun mal schlecht mit Neuem können – wie nicht zuletzt der Volksrocker Gabalier mit seiner renitenten Reaktion auf die neue Bundeshymne bewiesen hat –, hat man die Adi-Karte einfach gefälligst nicht mehr auszupacken. (Es sei denn, es handelt sich um ein eingeschweißtes Sammlerstück, dann: am Naschmarkt-Flohmarkt zu Höchstpreisen verkaufen!) So sind wir: Andere Länder schließen mit ihrer Vergangenheit ab, wir nur mit dem Schlechtreden derselben. Wem es hier nicht passt, der kann sich ja einfach verpissen.

Zum Glück sind das aber ohnehin nicht viele. Die meisten Menschen haben zu Schwarz-Blau eine ähnliche Einstellung wie die Einwohner der Sowjetunion zum Kommunismus. Wie der Philosoph Slavoj Žižek beschreibt, heißt "Ich glaube an den Kommunismus" nichts anderes als "Ich bin davon überzeugt, dass jemand anders an den Kommunismus glaubt".

Žižek nennt es "Interpassivität": Das System erhält sich durch Stellvertreter, die ihren Glauben an andere weiterdelegieren, vor einem fiktiven Publikum. Egal, ob eingespielte Sitcom-Lacher uns glauben lassen, dass wir Spaß haben oder eingespielte Rechte uns glauben lassen, dass nur sie das Abendland retten können. Diese Mischung aus Passivität, Rausrederei, Opferdenken und Selbstbetrug hat in Österreich Tradition. In gewisser Weise ist genau das unsere eingedickte und in Einmachgläsern verpackte Mentalität.

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Der ewige 1. April: "Turteln und Täuschen"

Wer eine Zeit verstehen will, sollte immer einen Blick auf ihre Science-Fiction werfen, sagt der Autor und Cyberspace-Erfinder William Gibson. Und wer Österreich verstehen will, sollte den österreichischen Sci-fi-Propaganda-Schinken Der 1. April 2000 kennen.

Hier eine kurze Zusammenfassung: Wir befinden uns im Jahr 2000, als der Ministerpräsident des immer noch besetzten Österreichs die Unabhängigkeit verkündet, was die Weltpräsidentin auf den Plan ruft, die in Raumschiffen vor Schönbrunn landet und ein Tribunal abhält. Es ist der Anfang eines Folklore-Ausflugs auf Acid, komplett mit "Oh du lieber Augustin", Flaggen-Entstehungsmythos und natürlich Hans Moser.

In der Politik ist die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nur schwer von der Fiktion aus dem Jahr 1953 zu unterscheiden.

Aber es kommt gar nicht erst zu einem echten Prozess. Der ganze Grund für ihr Tribunal geht im Trubel unserer Gemütlichkeit unter und der charismatische Ministerpräsident tut, was Österreicher am besten tun: Er zieht eine Show ab. Mit viel "Wiener Schmäh" wird die Welt(-Präsidentin) vom kleinen friedliebenden Österreich weich gewalzert, bis sie uns großzügig die Freiheit schenkt.

Auch sechseinhalb Jahrzehnte später gibt es keine bessere filmische Statusbeschreibung der österreichischen Seele. Dem Prinzip vom "Turteln und Täuschen" sind wir bis heute treugeblieben. Vor allem in der Politik ist die Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nur schwer von der Fiktion aus dem Jahr 1953 zu unterscheiden.

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Schwarz-Blau III: Das "Soft-Reboot"

Wie sehr die Dinge wirklich im Argen liegen, merkt man immer daran, wie sehr sich die Menschen in Pop-Referenzen flüchten. Nach Trumps Wahlsieg waren die sozialen Medien voll mit Anspielungen auf House of Cards und Witzen darüber, wie schlecht "die neue Staffel von Amerika" sei. Und ja, auch dieser Text hat den abgenudelten 2018-ist-wie-eine-Serie-Witz gleich in der Einleitung gedroppt. Schuldig, Euer Ehren.

Zu meiner Verteidigung passt der Vergleich im Fall von Österreich aber auch nicht nur für das ganze Land, sondern insbesondere für seine Rechtsregierungen. Bei uns redet man nach Schwarz-Blau I und Schwarz-Blau II von Schwarz-Blau III, als wäre es der dritte Teil einer gewissen Saga, die zufällig zur Zeit der Angelobung Rekordsummen an den Kinokassen einspielt. Und genau wie bei jeder Saga, die in periodischen Abständen mit Updates die Welt überschwemmt, stellt sich auch bei Schwarz-Blau III die Frage: Ist es eine Neuauflage? Eine Fortsetzung? Oder ist es ein komplettes Reboot des Franchises, das die bisherige Geschichte negiert und wieder bei Null anfängt?

Die Antwort ist natürlich, genau wie bei jedem Hollywood-Franchise der letzten Jahre: ein bisschen von allem. In der Popkultur gibt es dafür seit einiger Zeit einen eigenen Namen. Das Prinzip nennt sich "Soft-Reboot", also sanfter Neustart, und ist bei allen großen Filmreihen mit Kinostarts seit 2015 zu beobachten. Egal, ob Star Wars, Jurassic Park, Terminator, Star Trek, Mad Max, Planet der Affen oder Batman – die neuen Inkarnationen sind ein Hybrid aus Nostalgie und Neustart und knüpfen (ich mutmaße mal ganz frech: auch aus wirtschaftlichen Gründen) für Fans ein Netz aus kleinen Erzählungen, in denen jeder und jede sehen kann, was er oder sie darin sehen will.

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Auch auf VICE: Kein Österreicher, aber dennoch passend


Es ist eine Mischung aus Altbekannten für eingefleischte Hardliner, ausreichend viel Neuem, damit junge Fans ohne Vorwissen einsteigen können, und genügend Wiederholung von Ikonischem, um als Remake durchzugehen. Damals bei Schwarz-Blau I – der Regierung, die Jörg Haider maßgeblich mit geformt hat, auch wenn er keine offizielle Funktion in ihr hatte – war die FPÖ noch einfacher zu greifen: Haider hatte in der Vergangenheit die "ordentliche Beschäftigungspolitik" von Nazideutschland gelobt und war auch sonst nicht zurückhaltend mit antisemitischen Andeutungen.

Die heutige FPÖ unter Vizekanzler Strache ist einerseits rechter und deutschnationaler als in der ersten Auflage von Schwarz-Blau. Andererseits ist sie aber auch ganz klar weniger antisemitisch (zumindest was die Parteilinie angeht) und hat sich stattdessen, dem Zeitgeist der rechten Entrechteten entsprechend, auf Antiislamismus und Heimatliebe mit Volksmusik-Flair verlagert. Das lässt sie auf den ersten Blick harmloser wirken – was auch immer an Volksmusik harmlos sein soll. Auch die ÖVP ist heute rechter als jemals zuvor und feiert in ihrer Inkarnation unter Kurz eine neue autoritäre Parteistruktur, den absoluten Personenkult rund um Super-Sebi und die Abschaffung ihrer christlich-sozialen Werte.

Trotzdem war Schwarz-Blau I radikaler. Es war eine neue Bewegung, die einen großen Haufen auf alte Strukturen legte und alleine schon deshalb "Punk" war, weil ihre Mitglieder genau so wenig Fachwissen hatten wie jemand, der nur drei Akkorde spielen kann – mit Dilettantismus im Tank und Korruptionsvorwürfen quer über ihre Regierungsbank.

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Dass sich Schwarz-Blau I zu einem Clusterfuck sondergleichen auswuchs, könnte einen fast schadenfroh machen. Der Politikwissenschaftler Emmerich Tálos sieht die Sache allerdings anders, wie er mir im Gespräch einmal sagte: Denn das eigentliche Problem von Schwarz-Blau I war, dass sie nicht auf dasselbe wasserdichte Netzwerk zugreifen konnten wie die Sozialpartner von Sozialdemokraten und Volkspartei. Ein bisschen zynischer könnte man sagen: Schwarz-Blau I hat durch seine Unfähigkeit vor allem aufgezeigt, was wir über die Großen Koalitionen bisher nicht wissen.

Heute ist auch das anders. Strache hat Politik von der Bezirksvertretung an gelernt, wo er als junger Schnösel krampfhaft um Anerkennung im System buhlte; und Kurz ist ein Parteisoldat mit kommunikationstechnischer Nano-Beschichtung, an dem jeder Vorwurf abprallt.
So schnell werden sich die alten Fehler nicht wiederholen – und so sanft wie in den Hollywood-Filmreihen wird der Neustart von Schwarz-Blau wohl nicht werden. Es gibt sogar noch ein paar weitere Unterschiede zum Original.

Die politische Überzeugung und ihr Gegenteil

Als im Jahr 2000 Kanzler Wolfgang Schüssel und Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer gemeinsam mit ihrer schwarz-blauen Regierungsmannschaft zur Angelobung schritten, taten sie das unterirdisch – aus Angst vor den Demonstranten. In der Hofburg standen sie der steinernen Mine von Bundespräsident Thomas Klestil gegenüber, der die Regierungspartner eine Präambel zur Einhaltung der Menschenrechte unterzeichnen ließ.

2017 marschierten die neuen Minister grinsend über den Heldenplatz, wie bei der Premiere nach einer 17 Jahre zurückliegenden Generalprobe. In der Hofburg wurden sie von einem lockeren Bundespräsident Alexander Van der Bellen empfangen, der sich erst ein Jahr davor in einem elendig langen, dreiteiligen Wahlkampf gegen Straches Parteifreund Norbert Hofer durchgesetzt hatte (wenn wir schon von Sagas reden). Ein Teil von Van der Bellens Appeal war damals übrigens unter anderem die Ansage gewesen, dass er eine Regierung mit FPÖ-Beteiligung nicht angeloben würde.

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Gut, in der Politik kommt es eben manchmal anders. Das ikonischste Bild der Gelöbniszeremonie stammt vom APA-Fotografen Robert Jaeger. Es zeigt Van der Bellen dabei, wie er die Hände vor dem Gesicht zusammenschlägt, während Heinz-Christian Strache im Hintergrund grinst. Die Titelseiten und sozialen Medien sprangen dankbar darauf an – nicht zuletzt, weil es zum Narrativ vom verzweifelten, aber machtlosen Guten und dem verschlagenen Bösen beitrug.

Der Präsident, einst ein starkes Bollwerk gegen Rechts, war zur harmlosen Volksbühnenfigur verschrumpelt, die mit hochgeworfenen Händen und einem Grinsen sagt: "Jö, wie peinlich! Jetzt ist uns was Rechtes passiert."

Kurz nach der Angelobung, die er ein Jahr zuvor kategorisch ausgeschlossen hatte, erklärte Van der Bellen auf Twitter, wo es wurscht ist: "Wir brauchen den Respekt vor Andersdenkenden, die Einhaltung von Minderheitenrechten und Unterstützung für die Schwächeren in unserer Gesellschaft. Am Umgang mit den Schwächsten zeigt sich, was unsere Werte wirklich wert sind." Das Schöne – und unendlich Österreichische – daran: Dasselbe Statement funktioniert auch als Begründung dafür, warum Van der Bellen niemals eine FPÖ-Koalition angeloben hätte sollen.

Die politische Überzeugung und ihr Gegenteil sind in Österreich eben nur zwei Seiten derselben Medaille. Die uns nie jemand verliehen hat. Kein Wunder also, dass wir uns bei jeder Gelegenheit selbst einen Preis verleihen. Und wenn es nur dafür ist, dass wir bei der Regierungsbildung schneller waren als Deutschland.

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"Küss die Hand" vs. "Leck mich am Arsch"

Aus demselben Minderwertigkeitskomplex heraus, der seit unserer Schrumpfung vom Habsburg-Imperium zu Deutsch-Österreich das Land fest in seinem Griff hält, sehnt sich wohl auch Schwarz-Blau nach Bestätigung in der Form von täglichen Schlagzeilen. Blöderweise verhält sich die Kritikfähigkeit von Kurz und Strache aber indirekt proportional zu ihrem Öffentlichkeitsbedürfnis. Entsprechend zieht Kurz die Linie aus seinem Wahlkampf konsequent weiter durch und setzt zur Gänze auf die österreichische Macht der höfisch anmutenden Abschottung.

Anstatt selbst vor die Presse zu treten, lassen sich Kurz und Strache seit Dezember 2017 von Peter Launsky als Regierungssprecher vertreten – einem weisungsgebundenen Beamten, irgendwo zwischen Habsburger-Charme und Heinrich Manns Untertan, der aussieht wie eine Computeranimation von Kirk Douglas in einem Prequel zu Spartacus.

Und genau das ist die Stärke von Sebastian Kurz. Er hat eine wesentliche Sache über Österreich verstanden, die weder Christian Kern noch Heinz-Christian Strache kapiert haben: Wir Österreicher lieben die Etikette. Nicht, weil wir so noble Geschöpfe sind und das eloquente Spiel mit Umgangsformen so mögen. Sondern weil die Etikette uns genau sagt, wo wir uns woran genau halten müssen – und wo wir die Benimm-Fassade fallen lassen und uns wie Schweine aufführen können.

Dort, wo uns jemand einen Knigge vorlegt, halten wir uns daran; aber abseits davon lassen wir uns nie wieder dreinreden. So ungefähr geht das Mantra in den Köpfen der sich historisch minderwertig Fühlenden. Oder anders: Wo wir müssen, sagen wir gerne "Küss die Hand", solange wir jederzeit "Leck mich am Arsch" denken dürfen. Das ist die ganze Freiheit, die wir brauchen: die Möglichkeit, unseren Welthass in die Bierbüchse der Pandora zu nuscheln und die Auslandsbeobachter dabei anzugrinsen.

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Die Märchenwelt zwischen Folklore und "Fakelore"

Genau das ist das Prinzip von Schwarz-Blau III: Auf der Bühne die PR-Leute, hinter den Kulissen die Player. Und man kämpft hart dafür, die Fassade zu erhalten. Unabhängige Fotografen sieht man nicht gern, "unbotmäßige" Journalisten noch viel weniger. Bereits im Wahlkampf waren die Zeitungen voll mit gezielt gestreuten PR-Fotos der Kurz-Mannschaft, wie der Medien-Watchblog Kobuk zeigte. Sie alle zeichneten den späteren Kanzler als weltmännischen Verhandler, der großen Männern mit großen Gesten die Welt erklärt, während sie andächtig von ihm lernten.

Kurz und Strache erschaffen ein Märchen. Vom wichtigen Österreich, von sicheren Grenzen, vom Rauchen in Lokalen. Es ist ein Märchen vom einfachen Leben in einer Welt mit klaren Regeln – und von einem Damals, das es nie gegeben hat.

In Kombination mit der generellen Rückwärtsgewandtheit des schwarz-blauen Regierungsnarrativs wird klar, was Kurz und Strache eigentlich tun: Sie erschaffen ein Märchen. Vom wichtigen Österreich, von sicheren Grenzen, vom Rauchen in Lokalen. Es ist ein Märchen vom einfachen Leben in einer Welt mit klaren Regeln, in der überall dieselbe Sprache gesprochen wurde und jeder jeden verstanden hat. Ein Damals, in dem es Sicherheit, eine blühende Wirtschaft und eindeutige Schulnoten gab, und wo nur eine Sache kompliziert war – nämlich, in den Club Österreich aufgenommen zu werden.

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Dass es dieses Damals – genau wie in allen anderen Märchen – nie gab, tut wenig zur Sache. Genau dafür haben wir nämlich Märchen: Damit das, wovon sie erzählen, zumindest durch das Erzählen irgendwann wahr wird. Märchen aus der Twilight-Zone zwischen Folklore und "Fakelore".

Fakten sind für die, die an sie glauben

Im Gegensatz zu anderen Rechten in aller Welt geht es bei der österreichischen Regierung weniger um dicke Eier, als um das Dekorum, mit dem man sie präsentiert. Im Vergleich zu den Rülpsern von Orbán und den Tweets von Trump wirken Straches Postings wie Gedichte in epischen Hexametern und der Regierungssprecher von Schwarz-Blau II sieht aus, als würde er erscheinen, wenn man dreimal vor dem Spiegel "Opernball" ruft.

Andere Dinge sind dafür umso ähnlicher. Steve Bannon, der ehemalige Senior-Berater des US-Präsidenten und Breitbart-Gründer, hat in Kommunikationschef Alexander Höferl, der als Chefredakteur des rechtsextremen Freiheitlichen-Fanblogs Unzensuriert eine Art österreichisches Breitbart leitete, seine Entsprechung. Die Aufregung über die Berufung von Höferl war Ende 2017 groß; inzwischen wird sie längst von anderen Entgleisungen wie dem Bundestrojaner oder der BVT-Affäre überschattet.

Was Kickl daraus völlig zu Recht lernt, ist klar: Man muss nur ständig einen noch größeren Haufen legen, um vom Gestank von gestern abzulenken.

Was Kickl daraus völlig zu Recht lernt, ist klar: Man muss nur ständig einen noch größeren Haufen legen, um vom Gestank von gestern abzulenken. Fakten zählen in diesem Umfeld nicht. Das haben die neuen Rechten in Österreich mit allen anderen neuen Rechten gemeinsam.

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Ein inzwischen fast schon historisches Beispiel aus den Anfangstagen von Schwarz-Blau III (als würde es immer noch welche brauchen): Nach der ersten Ministerratssitzung verkündete Kurz, seine Regierung habe als erste Maßnahme die Entlastung der Niedrigverdiener beschlossen, indem man den Arbeitslosenversicherungsbeitrag senken wolle.

Der Wissenschaftsforscher Stephan Schulmeister hält dagegen, dass das nicht stimmen kann: Die 37 Prozent, die in Österreich am wenigsten verdienen (unter 1342 Euro netto), zahlen nämlich gar keinen Arbeitslosenversicherungsbeitrag – und werden daher auch nicht entlastet.

Aber Fakten sind fad und die Kritik an ihnen ist kleinteilig. Gegenüber Journalisten bleibt man deshalb einfach standhaft bei der Unwahrheit. Dem Fact-Checking entzieht man sich durch Negation. Was die (Achtung und sorry) Post-Faktiker so gefährlich macht, sind nicht ihre Lügen. Was sie gefährlich macht, ist, dass sie den gesellschaftlichen Konsens aufheben, die Wahrheit wäre noch irgendwas wert. In ihrer Welt sind Fact-Checking und Aufdecker-Journalismus längst kein Korrektiv mehr für die gesamte Gesellschaft – sie sind ein Hobby für diejenigen, die an sie glauben wollen.

"Die Wahrheit, ungefiltert von rationalen Argumenten"

Die Erklärung dafür könnte in der menschlichen Biologie liegen. In einem Artikel mit dem Titel "Warum Fakten unsere Meinung nicht ändern" erklärt der New Yorker: Vernunft ist aus evolutionärer Sicht nicht da, um abstrakte Probleme logisch durchzudenken. Sie ist nur ein Koop-Modus, der unser Überleben sichern soll. Nach dieser Definition gibt es sogar in Österreich Vernunft.

Was das in Bezug auf Politik bedeutet, hat der Talkshow-Host Stephen Colbert bereits beim White House Correspondents’ Dinner über George W. Bush ausgeführt, als er in seiner Roast-Rede mit erhobenem Zeigefinger sagte: "Ich gebe den Menschen die Wahrheit, ungefiltert von rationalen Argumenten." Das war zehn Jahre, bevor der englische Begriff "post-truth" vom Oxford-Wörterbuch zum Wort des Jahres gewählt wurde. Die Wahrheit steckt also nicht in überprüfbaren Fakten, sondern im Bauch – dort, wo es grummelt.

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Die geriatrische Anstalt auf der Autobahn Richtung Mad Max

Dass es hier so viel um körperliche Befindlichkeiten geht, ist kein Zufall. Österreich geht es nicht gut – auf dieselbe Art, auf die es auch alten Menschen nie gut geht, egal wie die Umstände liegen. Wir sind altersschwach; ein Staat, der im Sterben liegt und seinem früheren Glanz nachtrauert. Wie alle alten Säcke sind wir zu reich für unser eigenes Wohlergehen und werden nur noch angetrieben von allgemeiner, undefinierter Angst und dem intensiven Bedürfnis, 24 Stunden am Tag zuhause zu bleiben und nichts zu erleben.

Wir wollen geregelte Abläufe, fixe Essenszeiten, keine neuen Mitbewohner und die Freiheit, uns alles schlecht zu reden, was unser vom Grauen Star getrübtes Blickfeld kreuzt. Schwarz-Blau kommt dieser geriatrischen Grundhaltung gerne entgegen. Wir befinden uns auf der Autobahn in eine fiktive Vergangenheit und keiner kann sagen, was als Nächstes kommt.

Ein Ministerium für Homöopathie und Impfgegnerforschung? Straßenmusizierverbot für Künstler mit ausländischen Instrumenten? Ein Abschusstag pro Woche im Tiergarten Schönbrunn, inklusive Verzehr am offenen Feuer? Dauerwellen als verordnete Volksfrisur? Like-Befehl für Regierungs-Accounts? Niemanden würde irgendetwas davon noch ernsthaft wundern.

Österreich im Jahr 2018, das ist eine Mischung aus Solipsismus, Eskapismus, Eigenbrötlertum und Opernball-Etikette, unter deren wohlkultivierter Oberfläche unser Minderwertigkeitskomplex immer noch gehörig brodelt. Noch nie hat eine Regierung diesem Land so gut Rechnung getragen wie Schwarz-Blau III.

Wie bei überalteten Geschöpfen üblich, juckt es auch uns Österreicher wenig, dass wir den Laden damit in den Dreck fahren. Der alte Sack sagt: Wir sterben sowieso – aussuchen können wir uns nur, mit wem. Also warum nicht gleich mit jemandem, der uns an früher erinnert und dabei ein bisschen unterhaltsam ist?

Zeit, dieses Land zu schließen

Schwarz-Blau ist unser ehrliches, kleingeistiges Hospiz. Mehr noch: Es ist das Scheißhaus im abgeschiedensten Trakt dieser Sterbeanlage – der Ort, wo wir uns hin flüchten, um kurz vor dem Ende noch einmal ungeniert zu furzen, zu fluchen und in der Nase zu bohren. Unsere Freiheit ist ein schallisoliertes Scheißhaus. Ein Ort, wo alles Allzumenschliche erlaubt ist, wo man auch mal ausfällig und rassistisch sein darf, weil es keine Ankläger gibt.

Deshalb sage ich: Es ist an der Zeit, dieses Land zu schließen. Nicht im Sinne der Grenzschließung, die Kurz und Strache als Belohnung für die anderweitig ausgebeuteten Arbeiter sowieso planen, sondern im Sinn einer Stilllegung. Zumindest für Außenstehende. Auf die Türe schreiben wir "Außer Betrieb" – und lassen uns drinnen gehen.

Nachdem Österreich noch vor wenigen Jahren auf der guten Seite angekommen war, und Wien erst 2015 als das "neue Berlin" gehypt wurde (unter anderem im ZEITmagazin), wurde es 2017 zur zweitunfreundlichsten Stadt der Welt gewählt. Wer jetzt denkt, uns Österreicher würde das stören, hat uns immer noch nicht verstanden. Hier gibt es nicht umsonst den Spruch "Mein Wien lass ich mir sicher nicht schönreden". Immerhin bedeutet so ein Ranking auch, dass uns das Ausland endlich bald in Ruhe lassen wird. Es könnte also alles viel schlimmer sein: Die Welt könnte uns loben. So ist es nur Alice Weidel.

Die Regierung hat Österreichs Umbau zum Scheißhaus vollendet: nach außen hin abgeschottet und innen gefliest, damit wir ungehört alles aus dem Bauch rausblasen können, was uns beunruhigt. Sicher, das ist nicht unbedingt eine frohe Botschaft für Gegner von Schwarz-Blau III. Aber mit ein bisschen Glück regt es die Richtigen genügend auf, um endlich etwas zu tun. Also: Lasst uns hier drinnen Klo sein – und denkt euch derweil draußen: Glück gehabt.

Markus ist auf Twitter: @wurstzombie

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