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Flucht

Wir haben junge Menschen gefragt, was sie von Seenotrettung halten

"Ich frage mich immer, was mit mir passiert wäre, wenn sie unser Boot wieder weggeschickt hätten. Ich wäre wahrscheinlich ertrunken und meine Familie wüsste nicht mal etwas davon." – Precious

Niemand weiß genau, wie viele Menschen bereits auf ihrer Flucht über das Mittelmeer gestorben sind. Der UNHCR schätzt, dass 2018 mindestens 2.275 Migranten und Migrantinnen diese Route nach Europa nicht überlebt haben. Und der deutsche UNHCR-Repräsentant Dominik Bartsch erklärte, in diesem Jahr sterbe jeder 45. Migrant oder Geflüchtete auf dem Mittelmeer. Eine zeitnahe Lösung scheint dennoch nicht in Sicht. Im Gegenteil.

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Seenotretterinnen wie den Kapitäninnen Pia Klemp oder Carola Rackete drohen Geld- oder Haftstrafen, weil sie die Menschen auf hoher See einsammeln und unerlaubt nach Europa bringen. Küstenstaaten wie Italien wehren sich, da sie durch das Dublin-Abkommen die Hauptverantwortlichen für neue Asylanträge wären. Und die EU finanziert mit der libyschen Küstenwache Menschen, die den Ertrinkenden in der Vergangenheit beim Sterben zugesehen haben.

Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass Seenotrettung bei den European Development Days der Europäischen Kommission in Brüssel nicht gerade das prominenteste Thema war. Dort trafen sich im Juni über 66.000 Menschen, um über Entwicklungshilfe und Ungleichheiten zu sprechen. Wir haben junge Menschen bei der Konferenz gefragt, wie sie zu den Rettungsmissionen im Mittelmeer stehen.

Léa, 22, aus Frankreich

Eine Frau steht vor einer Wand

Léa hat ein Jahr lang in Deutschland beim Roten Kreuz als Freiwillige gearbeitet. Sie ist Jugend-Botschafterin bei einer NGO

VICE: Weißt du, was gerade im Mittelmeer passiert?
Léa: Ich komme aus Marseille, wo die Aquarius mehrere Monate angelegt hat und SOS Meditérranée arbeitet. Was die Organisationen im Mittelmeer machen, ist sehr bewundernswert und wichtig. Ich würde mir aber auch wünschen, dass mehr über die tunesischen Fischer geredet wird.

Was ist mit ihnen?
Tunesische Fischer haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Leichen aus dem Meer zu bergen und von den Stränden einzusammeln, damit sie in Würde beerdigt werden können. Sie haben Friedhöfe auf ihren Grundstücken gebaut, um diesen Menschen damit ihren Respekt zu zeigen. Europa lässt die Menschen dagegen im Stich. Es ist gegen die Menschenwürde.

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Was sollte deiner Meinung nach passieren?
Wir müssen uns fragen, ob das die europäischen Werte sind, die wir zukünftigen Generationen mitgeben wollen, oder ob wir lieber eine diverse Gemeinschaft mit Teilhabe sein möchten. Warum wollen wir nicht, dass der Kontinent Afrika uns wirtschaftlich ebenbürtig ist? Warum wollen wir keine Partnerschaft? Warum wollen wir nicht ehrlich zu uns sein und zugeben, wie sehr die Kolonisierung zu der heutigen Situation beigetragen hat? Ich finde, dass Europa Reparationen zahlen sollte, damit man gleichauf weitermachen kann.

Unserer NGO ist es wichtig, dass Afrika ein starker und gleichwertiger Wirtschaftspartner neben Europa wird. Wenn das der Fall wäre, würden junge Menschen auch eher in ihren Heimatländern bleiben, weil sie dort arbeiten können.

Das wäre eine längerfristige Lösung, als kurzfristig die libysche Küstenwache zu bezahlen.
Libyen ist ein Ort, an dem Bürgerkrieg herrscht und an dem Geld alles regiert. Das ist keine Lösung, nicht einmal kurzfristig. Eigentlich sollte es nicht einmal ein Lösungsvorschlag sein. Es gibt die sinnvollere Möglichkeit, humanitäre Visa in Libyen zu verteilen, damit die Leute von dort aus sicher und legal nach Europa kommen können.

Mbaye, 27, aus dem Senegal

VICE: Wie stehst du zur Seenotrettung im Mittelmeer?
Mbaye: Ich bin davon überzeugt, dass die Seenotrettung unterstützt werden muss. Viele Geflüchtetenboote auf dem Mittelmeer sind nicht dafür gemacht, das Meer zu überqueren. So sind schon Tausende Menschen gestorben. Es ist also wichtig, dass es Schiffe gibt, die diese Menschen retten. Ich finde sogar, dass die Wirtschaftsmächte der Welt diese Schiffe bereitstellen sollten. Die EU und auch andere hoch entwickelte Länder haben die Ressourcen und die Macht, um zu helfen.

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Also tragen auch andere Länder als die EU-Mitgliedsstaaten eine Verantwortung?
Die meisten Menschen auf diesen Booten kommen aus afrikanischen Ländern. Afrika muss also in die Lösung eingebunden werden. Die EU muss sich aber schon alleine deshalb kümmern, weil ein Teil der Boote auch in europäischen Küstengewässern untergeht oder in Seenot gerät. Außerdem haben viele afrikanische Staaten nicht die nötigen technischen Mittel, um die Boote im Mittelmeer zu überwachen. Die EU dagegen hat für sowas Radare. Sie kann also sogar sehen, wenn Geflüchtetenboote in Seenot geraten. Es gibt eine Verpflichtung, die Menschen auf den Booten zu retten. Selbst dann, wenn die Länder sie nicht aufnehmen wollen.

Stattdessen finanziert die EU die libysche Küstenwache mit, damit die Boote gar nicht erst losfahren.
Libyen ist ein instabiles Land. Es gibt dort Menschenhandel und viele Schlepper. Man kann Libyen natürlich zumachen, aber was ist die Konsequenz? Die Leute, die über das Mittelmeer flüchten wollen, kommen dann über die Wüste und legen dort ab. Da ist es aber noch schlimmer. Ich glaube nicht, dass das eine Lösung ist.


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Was wäre denn eine Lösung?
Man müsste mit den afrikanischen Staaten zusammenarbeiten, damit junge Menschen dort besser unterstützt werden und ihre Heimat nicht verlassen müssen. Afrikanische Länder müssen mehr Eigenverantwortung haben, um ihre Wirtschaft und ihr Ausbildungssystem aufzubauen und die Arbeitslosenrate zu senken. Die Arbeitslosigkeit ist eines der Hauptprobleme, die Afrikaner und Afrikanerinnen dazu bringen, ihre Heimatländer zu verlassen.

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Ein anderes Problem ist, wie afrikanische Medien Europa darstellen. Es gibt dieses Bild vom europäischen Eldorado. Es heißt oft, dass man es geschafft hat, wenn man in Europa ankommt. Es wird sehr schwer, dieses Bild in den Köpfen junger Afrikaner und Afrikanerinnen zu verändern. Aber man müsste diesen Mythos entkräften.

Precious, 23, aus Nigeria

VICE: Wie bist du vor drei Jahren nach Italien gekommen?
Precious: Ich wollte nie nach Italien. Ich wollte Nigeria auch nie verlassen. Aber eines Tages war ich in einer Situation, aus der ich nicht mehr rauskam. Ich musste weg und landete in Libyen. Dieses Land ist die Hölle. Vor allem, wenn du Schwarz bist. Ich habe viele Leute dort sterben sehen, sie wurden erschossen. Wer es schafft zu flüchten, rennt um sein Leben und sucht einen Platz auf einem Boot. So wie ich.

Du weißt also aus eigener Erfahrung, wie wichtig Seenotrettung ist?
Ich war zweimal auf einem Boot auf dem Mittelmeer. Beim ersten Versuch ist das Boot untergegangen, bevor wir richtig losgefahren sind. Zum Glück ist niemandem etwas passiert, weil wir so nah an der Küste waren. Beim zweiten Mal waren wir zwei Tage auf dem Meer, bevor wir gerettet und nach Italien gebracht wurden. Es gab viele Kinder und schwangere Frauen. Die Kleineren haben geweint, es roch nach Meerwasser, viele Menschen sind ohnmächtig geworden. Als wir ankamen, wurde eine Frau mit Wehen und eine mit Brustkrebs direkt ärztlich versorgt. Es war eine schreckliche Erfahrung und ich rede nicht gerne darüber. Wenn ich heute zurückblicke, frage ich mich, wie ich es geschafft habe, auf so einem Boot das Mittelmeer zu überqueren. Ich respektiere jeden, der das gemacht hat. Und ich fühle mich schlecht, wenn europäische Regierungen die Menschen aus den Booten nicht unterstützen.

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Findest du, dass die EU die Verantwortung besser verteilen sollte?
Wenn man das nicht selbst erlebt hat, versteht man nicht, was Migranten und Migrantinnen durchmachen müssen. Natürlich ist es so einfacher, Menschen auszuschließen und davon abzuhalten, ein Land zu betreten. Ich frage mich immer, was mit mir passiert wäre, wenn sie unser Boot wieder weggeschickt hätten. Ich wäre wahrscheinlich ertrunken und meine Familie wüsste nicht mal etwas davon.

Viele Menschen wollen nicht einmal in die Küstenstaaten, sondern von da aus weiter in ein anderes Land. Das können sie nicht, weil sie in Zentren festgehalten werden und nicht arbeiten oder sich fortbewegen dürfen. Die Menschen kommen ja nach Europa, weil sie bessere Chancen haben wollen. Aber die Situation nimmt vielen diese Motivation. Es ist frustrierend.

Was sagst du dazu, dass Seenotretterinnen in Italien eine Haftstrafe drohen kann?
Das ist total irre. Ich habe letztens in den Nachrichten gelesen, dass Salvini 50.000 Euro Geldstrafe für Leute fordert, die Geflüchtete ohne Erlaubnis nach Italien bringen. Ich wünschte, es würde etwas passieren, damit er die andere Seite versteht. Und ich wünsche mir, dass in Europa mehr über die Situation im Mittelmeer geredet wird. Es geht schließlich um Menschenleben.

Élise, 23, aus Frankreich

Eine Frau steht vor einer Wand

Élise arbeitet seit November beim Europäischen Umweltbüro in Brüssel. Davor hat sie studiert und ihren Erasmus in Berlin gemacht

VICE: Beschäftigst du dich mit Seenotrettung im Mittelmeer?
Élise: Ich finde, es wird nicht sehr viel darüber geredet. In meinem Alltag ist das Thema nicht sehr präsent. Ich weiß, was im Mittelmeer passiert, weil ich mich dafür interessiere und in dem Bereich gearbeitet habe: Als ich in Berlin war, habe ich ein paar Kurse zu EU-Migrationspolitik belegt. Aber ich denke, es gibt einen großen Wissensmangel und manchmal auch eine eher einseitige Berichterstattung in den Medien. Auf dem Sender France 2, dem größten öffentlich-rechtlichen Sender Frankreichs, haben sie zum Beispiel gesagt, dass Migranten auf den Stränden in Spanien "einfallen". Es ging darum, dass Touristen und Touristinnen sich davon gestört fühlen. Wie kann man die Bräunung von Strandbesuchenden über Menschen stellen, die gerade das Meer überquert haben?

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Du hast vor dem Interview erzählt, dass du dich in deinem Studium mit dem europäischen Grenzschutz beschäftigt hast?
Ich habe in meinem Bachelorstudium über die Migrationspolitik der EU geschrieben. Mir ist damals aufgefallen, dass die EU sehr viel über das Schengen-Abkommen und die damit verbundene Bewegungsfreiheit redet. Gleichzeitig verstärken wir die EU-Außengrenzen immer mehr. Wir glorifizieren eine Freiheit, die nur für Europäer und Europäerinnen gilt.

Wir sind gerade auf den Entwicklungstagen der Europäischen Kommission, das Thema sind Ungleichheiten. Findest du, dass hier mehr über das Sterben im Mittelmeer geredet werden soll?
Ja, vielleicht. Wir sprechen hier schließlich über Entwicklung und Umwelt. Migration hat schon immer existiert, und was gerade im Mittelmeer passiert, wird nicht aufhören. Unsere Wirtschaftsmodelle tragen dazu bei. Ich beschäftige mich bei meiner Arbeit viel mit Umweltgerechtigkeit. Es geht darum, dass unsere wirtschaftliche Entwicklung auf internationalen Ressourcen basiert und damit Emigration aus diesen Ländern provoziert. Wir beziehen unsere Ressourcen aus afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern. Wenn Europa nicht will, dass Menschen hierhin migrieren, dann müssen sie dabei helfen, dass es diesen Menschen in ihren Heimatländern gut geht.

Nelly, 32, aus den Niederlanden

Eine Frau steht vor einer Wand

Nelly arbeitet beim Theater und bei einem Rotterdamer Lokalsender als Vloggerin. Durch den Filmjob nimmt sie an einem EU-Projekt teil, bei dem sie jeden Monat mit einem anderen fremden Menschen ein Land bereist

VICE: Beschäftigst du dich mit Flucht und Migration?
Nelly: Ich habe ein Theaterstück mitinszeniert, in dem es um afrikanische Geflüchtete geht. Ich habe eine Freundin, deren Vater bei der Fahrt über das Mittelmeer gestorben ist und die auch selbst flüchten musste. Sie hat erzählt, dass ihre Mutter ihr eines Tages gesagt hat, sie müsse sofort das Land verlassen. Damals war meine Freundin noch eine Teenagerin. Ihre Mutter gab ihr einen Zettel mit Telefonnummern, die sie anrufen sollte. An der Grenze holte eine der Kontaktpersonen sie und brachte sie zu einem Boot. So kam sie nach Europa. Ich finde solche Geschichten total schlimm. Aber ich finde es fast schlimmer, dass Menschen sowas durchmachen und in Europa schlecht behandelt werden. Ich muss zugeben, dass ich am Anfang auch Vorurteile gegenüber Geflüchteten hatte. "Was machen all diese Leute hier?", dachte ich.

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Was hat deine Meinung geändert?
Ich habe Geflüchtete kennengelernt und verstanden, dass sie eigentlich lieber in ihrer Heimat geblieben wären. Die Umstände dort haben sie dazu gebracht, ihr Leben auf einem Boot im Mittelmeer zu riskieren. Jede Person hat eine Geschichte, die sie dorthin geführt hat, wo sie ist. Ich habe eine, du hast eine, meine Eltern hatten eine. Und die Geschichte meiner Eltern ist am Ende sogar ziemlich ähnlich, auch wenn sie nicht im Boot nach Europa kamen. Sie wären auch lieber auf den kapverdischen Inseln geblieben, aber weil es dort keine Jobs und keine Zukunft gab, kamen sie nach Europa.

Woher kam deine zurückhaltende Einstellung gegenüber Geflüchteten?
In vielen Medien wird Migration als etwas Negatives beschrieben. Ich habe das geglaubt, weil ich nicht anderweitig recherchiert habe. Die Perspektive der Migranten und Migrantinnen wird nicht ausreichend repräsentiert, die Berichterstattung ist oft sehr einseitig.

Weißt du, was Seenotrettung ist?
Ich habe im Fernsehen gesehen, dass es diese Rettungsschiffe gibt, aber ich kenne mich nicht sehr gut damit aus.

Private Schiffe retten Geflüchtete aus dem Meer und bringen sie in Europa an Land. Weil viele europäische Staaten das nicht wollen, beschuldigen sie zum Beispiel die Kapitäninnen, illegale Migration zu unterstützen.
Oh wow. Das sieht aus, als ginge es diesen Staaten vor allem darum, Asylbewerber und -bewerberinnen fernzuhalten? Es ist schrecklich, dass die Retterinnen als Schlepperinnen bezeichnet werden und die Fluchtursachen so wenig beachtet werden. Wir reden über Menschenleben. Wenn die Notre-Dame-Kathedrale brennt, haben doch auch alle Mitgefühl. Das ist doch nichts anderes. Was ist die Einstellung der EU? Menschen sind selbst schuld, wenn sie in ein Boot steigen und ertrinken? Würde sie auch so handeln, wenn Europäer und Europäerinnen im Meer sterben? Ich bin mir sicher, dass sich dann etwas bewegen würde.

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