Menschen

Große Gruppen schüchtern mich ein: Was soll ich tun?

Ein Psychologe erklärt, warum sich manche Menschen in größeren Runden eher introvertiert verhalten, obwohl sie sonst sehr kontaktfreudig sind.
Vincenzo Ligresti
Milan, IT
Eine Illustration zeigt eine junge Frau, die auf einer Party alleine an einem Tisch sitzt und auf ihr Handy schaut; Ein Psychologe erklärt, warum sich Menschen in der Gruppe eher introvertiert verhalten, obwohl sie sonst kontaktfreudig sind
Illustration: Djanlissa Pringels

"Frag VICE" ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal ob es sich um nicht erwiderte romantische Gefühle oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Dieses Mal beschäftigen wir uns damit, warum sich eigentlich extrovertierte Menschen in größeren Gruppen eher zurückhalten.

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Hey VICE,

ich habe vor Kurzem neue Freunde gewonnen. Aber wenn ich mit ihnen unterwegs bin, neige ich dazu, eher still zu sein. Wenn zu viele Leute an der Unterhaltung teilnehmen, ziehe ich mich zurück und sage nichts. Das ist komisch, eigentlich bin ich ein sehr geselliger und kontaktfreudiger Mensch.

Ich bin schon immer besser zurechtgekommen, wenn ich nur mit ein paar wenigen Leuten unterwegs bin. In dieser sozialen Situation gehe ich richtig auf. Aber wenn zu viele neue Gesichter dabei sind, erstarre ich und denke zu viel darüber nach, was ich sagen soll und wie man es auffassen könnte. Und dann sage ich letztendlich praktisch gar nichts.

Keine Ahnung, ob ich in diesen Situationen einfach schüchtern bin, oder ob da etwas anderes ist. Ich weiß nur, dass ich gerne weniger Druck verspüren würde, etwas zur Unterhaltung beitragen zu müssen. Wenn ich nach einem Abend voller Stille meinerseits nach Hause komme, mache ich mir oft Sorgen, dass ich in Wahrheit langweilig sein könnte. Wie mache ich mich locker?

D.


Hi D.,

sich in einem neuen Freundeskreis zu etablieren, ist ein bisschen so, wie eine unbekannte Welt zu erforschen: Es existieren bereits gewisse Dynamiken, Gepflogenheiten und Stimmungen, bei denen es einfach ein bisschen braucht, bis man sie versteht. In jeder Gruppe gibt es gemeinschaftliche Rollen, Beziehungen und Werte. In der Sozialwissenschaft nennt man das Eigengruppe. Und man kann nicht erwarten, dass du dich sofort auf alles richtig einstellst.

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Du hast recht: In sozialen Situationen mit nur einer anderen Person, die wir bereits kennen, haben wir oft das Gefühl, mehr Kontrolle zu haben. Es wirkt einfach alles ein wenig ausgeglichener als in größeren Gruppen. 

Vor allem wenn man eher introvertiert ist, wird es in größeren Gruppen schwierig, wenn man sich wegen verschiedener Dinge einen Kopf macht – etwa wegen melodramatischen Leuten in der Gruppe, die sich zu jedem Thema lauthals äußern müssen, wegen der Sorgen, vielleicht einen schlecht ankommenden Witz zu machen, oder wegen der Angst, etwas Falsches zu sagen.

"Es kann passieren, dass eine neue Person in der Runde durch die Eigengruppe als 'Bedrohung' wahrgenommen wird."

"Wenn du nur mit ein paar Freunden zusammen bist, kann die Angst vor sozialer Beurteilung komplett verschwinden", sagt der in Mailand lebende Psychologe Gianluca Franciosi, der sich auf zwischenmenschliche Beziehungen spezialisiert hat. "Bei diesen Leuten muss man sich nicht beweisen."

Wie Franciosi erklärt, sei der Druck, den du beschrieben hast, eine verständliche Reaktion auf eine soziale Situation, in der es mehrere Variablen und nur wenige Gewissheiten gibt. "Es kann passieren, dass eine neue Person in der Runde durch die Eigengruppe als 'Bedrohung' wahrgenommen wird", so der Psychologe. "Deswegen wird diese Person versuchen, einen so guten Eindruck wie möglich zu machen."

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Das Problem ist bloß: Möglicherweise vertiefst du dich zu sehr in den Eindruck, den du machen willst. Und je mehr du darüber nachdenkst, desto mehr entfremdest du dich vielleicht von der Gruppe.

"Dieser gefühlte Druck hängt davon ab, wie sehr wir unserer selbst bewusst sind, wie ausgeglichen wir uns fühlen, und wie wichtig uns das Urteil anderer Menschen ist", sagt Franciosi.

D., was du gerade durchmachst, ist also vollkommen verständlich. Vielleicht beobachtest und ordnest du die Dinge unterbewusst nach deinem eigenen Tempo ein. Für Außenstehende mag das wie Schüchternheit wirken. Schüchtern zu sein, gilt oft als etwas Negatives, aber der Psychologe Franciosi weist darauf hin, dass diese Charaktereigenschaft auch für die Anpassungsfähigkeit nützlich sei: "Still zu sein und die Dinge erstmal auf sich wirken zu lassen, ist extrem wichtig, wenn man eine Gruppe und das eigene Verhalten darin verstehen will." 

"Wir verhalten uns vielleicht anders oder gar widersprüchlich, aber es geht hier auch um Anpassung."

Man darf nie vergessen, dass jeder Mensch in solchen Situationen anders agiert. Manche sind in der Lage, unter neuen Menschen sofort selbstsicher und aufgeschlossen zu wirken. Was vielleicht beneidenswert rüberkommt, ist in Wahrheit aber vielleicht nur eine Taktik, um die gleichen Gefühle zu kaschieren, von denen du erzählst.

Für Franciosi sei es entscheidend, immer daran zu denken, dass es kein Zeichen von einer Art innerer Unstimmigkeit ist, wenn man im Beisein verschiedener Leute anders auftritt. "Wir verhalten uns vielleicht anders oder gar widersprüchlich, aber es geht hier auch um Anpassung", sagt der Psychologe. "Zu verstehen, welche Rolle man innerhalb einer bestimmten Gruppe einnimmt und wie sich diese Rolle von Gruppe zu Gruppe verändern kann, zeugt von sozialer Intelligenz."

Wenn du dich also das nächste Mal unter Menschen zu still fühlst und dich zurückhältst, dann versuche, nicht so viel nachzudenken. Konzentriere dich weniger auf dein eigenes Auftreten und frage dich: Bin ich vielleicht nur so ruhig, weil niemand anderes sonderlich interessant ist?

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