Menschen

Ich habe versucht, erwachsen zu werden

Wenn man erwachsen ist, dann hat man Termine und kocht Rezepte aus der 'New York Times'.
Die Autorin sitzt in einem Trainingsanzug auf der Lehne eines Stuhls vor dem Kühlschrank.
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Keine Ahnung, was Erwachsensein ist. Ich bin 23. Für kleine Kinder ist 23 sehr alt. Für ein kleines Kind bin ich so ein richtig echter erwachsener Mensch und das ist mir sehr unangenehm. Erwachsensein ist aufgeräumter Küchenschrank, Bescheid wissen, Termine haben. Erwachsen sein klingt aber auch nach alt und hässlich und pünktlich sein. Und ich bin jung und schön und immer zu spät.

Ich warte immer noch darauf, dass ich mich auf dieselbe Art sehe, wie ich meine Mutter gesehen habe, als sie mir erklärte, wie lange es dauert, bis ich nach dem Essen wieder schwimmen darf oder ob mein zehnjähriger Knöchel nun verstaucht oder geprellt ist. Erwachsene wissen solche Dinge. Und heute ist der Tag gekommen. Ab jetzt werde ich mir immer einen Pulli drunterziehen. Ich will alle Dinge meistern, von denen ich als Kind dachte, dass ich sie mit 23 schon lange könnte. Als Kind hatte ich ein klares Bild davon, was Erwachsene tun. Ich habe es mir zusammengereimt, als ich meine Eltern oder meine Nonna dabei beobachtet habe, wie sie ihr Leben leben. In die "erwachsen sein"-Schublade stapelte ich dann alle Dinge, die ich damals nicht ganz verstand. Heute will ich sie verstehen.

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Zum Frühstück lese ich Zeitung. Klar, um informiert zu sein, aber auch damit ich was zu zitieren habe, wenn sich bei Dinnerpartys mit erwachsenen Freunden jemand mit dem Satz "Ja, schon schlimm, was da passiert" unpolitisch zu einer politischen Lage äußert.


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Als Nächstes räume ich den Küchenschrank auf. Ich finde zwar immer alles und außer meiner Mitbewohner und mir schaut da nie jemand rein. Aber das Wissen, dass sich hinter der Tür Chaos auf zwei Ablagen abspielt, gibt mir das Gefühl, nur so zu tun, als hätte ich mein Leben unter Kontrolle, als würde ich Erwachsensein nur spielen. 

Eigentlich dachte ich, das Gefühl würde kommen, als mir mit 17 das erste Mal ein Friseur und nicht meine Mutter die Haare schnitt. Oder am ersten Tag meines ersten festen Jobs als Journalistin. Aber da hatte ich keine Zeit mich erwachsen zu fühlen. Ich war damit beschäftigt, so zu tun, als wäre ich wirklich 23 und nicht eine schlecht gelaunte Teenagerin im Körper einer 23-Jährigen, die Angst hat vor allem. Erwachsensein heißt, nicht mehr so zu tun als ob. Heute meine ich alles ernst. Also räume ich die ganze Pracht an Tupperdosen auf den Küchentisch und nehme mir ernsthaft vor, mal Curry, Tomatensauce und Kürbissuppe darin einzufrieren, bevor ich sie geordnet zurück auf die Ablagen räume.

Die Autorin sitzt auf dem Boden und versucht ein Bettlaken zu falten.

Die komplette Überforderung, das Bettlaken und ich

Auf YouTube suche ich nach einem Video, das mir sagt, wie man ein Laken faltet. Bisher landete es immer in einem Knäuel zwischen den gefalteten Bettdecken. Erst das dritte Video, in dem mir eine Ashley erklärt, welche Handgriffe ich machen muss, geht mir nicht zu schnell. Obwohl ich sie manchmal nicht höre, weil der Stoff zu laut knistert, habe ich nach zwei Minuten und 19 Sekunden ein perfekt gefaltetes und schlecht gebügeltes Päckchen. Ich bin so stolz, dass ich sogar ein Foto davon auf WhatsApp verschicke.

Nachdem ich meine Angst vor 180 mal 200 Zentimeter Stoff überwunden habe, widme ich mich einer anderen. Ich telefoniere mit einer Steuerberaterin. 

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"Zum Termin bringen Sie dann einfach alles mit. Welche Unterlagen wir brauchen, wissen Sie?"

"Klar", sage ich und überzeuge damit keine von uns beiden.

Als Teenagerin wollte ich gar nicht erwachsen sein, sondern Winona Ryder. Ich weiß nicht, ob sie von sich denkt, dass sie erwachsen geworden ist. Aber was sie auf jeden Fall geworden ist, ist kriminell und das fand ich als Teenagerin irgendwie cooler. Aber ich bin weder kriminell noch erwachsen geworden. Heute schaffe ich vielleicht eins von beidem.

In meiner Mittagspause entscheide ich mich, einen Termin zu haben. Wenn Leute von ihrer Kosmetikerin sprechen, dann kommt mir das sehr erwachsen vor. Es bedeutet, dass sie Termine einhalten können und sich dem eigenen Verfall bewusst sind. Weil ich so spontan buche, gibt es Rabatt und ich fühle mich sehr effizient. Ich liege mit geschlossenen Augen auf einer Liege. Das Radio läuft. Da erzählt eine Frau, dass sie erst jetzt mit 26 herausgefunden hat, dass ein Bidet kein Pissoir ist. Und irgendwie werden wir beide erwachsen: Sie erfährt, was ein Bidet ist, und ich begrabe meine Kindheit unter diesen furchtbar schweren Silikonpads, die mir die Kosmetikerin auf die Augen gelegt hat. Eine halbe Stunde liegen, klingt nach viel zu lange. Ich werde schon nach fünf Minuten unruhig. Vielleicht lege ich heute auch diese Ungeduld ab. Mit 23 habe ich immer das Gefühl, dass mir das Leben wegläuft. Ich will alles jetzt erleben. Deshalb trinken wir die Weißweinflaschen immer leer. Aber heute habe ich eine halb getrunkene Flasche im Kühlschrank, weil "wir müssen die nicht austrinken, damit koche ich morgen Risotto".

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Eine Collage aus zwei Bildern, auf der linken Seite ist ein Bild von einer Weinflasche und zwei Gläsern und auf der rechten Seite hält die Autorin ein Berg aus Tupperboxen in den Armen.

Der hilfesuchende Blick nach links

Auf dem Nachhauseweg ruft mich mein Vater an, um über Finanzen zu sprechen. Er ist so erwachsen. Also sage ich Dinge über mein Bankkonto. 

Irgendwann frage ich ihn: "Meinst du, du bist erwachsen?"

"Nein, gar nicht. Ich finde, ich bin einer der Jüngsten."

Heute will ich ein erwachsenes Abendessen. Immer wenn ich bei Leuten zum Essen eingeladen bin, die nicht mehr in einer WG wohnen, dann füllen sie den Inhalt von Einmachgläsern in Schalen und stellen Teller mit irgendeinem nachgekochten Gericht aus der New York Times auf den Tisch, zum Beispiel gebratene Zucchini mit Zitrone und Parmesan. Also mache ich das auch und fülle Oliven und Artischocken in andere Behälter um. Dann kommen meine Mitbewohner und wir trinken Rotwein, den ich nicht mag. Aber ich arrangiere mich mit Dingen, die ich nicht mag, weil man das so macht als erwachsene Person. Ich arrangiere mich mit Rotwein, der Blockchain, dem Leben, Männern mit Fixie-Fahrrädern und damit, dass der Sommer nie so gut ist wie der letzte.

Auf die Frage "Wie geht's dir?" antwortet meine Mutter oft mit "Man lebt", als hätte sie sich mit jeder Schrecklichkeit auf dieser Welt abgefunden. 

Vor einer Bar treffe ich später ein paar Freunde. Ich komme zu spät, aber früher als alle dachten. Das finde ich OK. Ich trage zwei Jacken, weil ich mir jetzt immer eine Jacke drunterziehen will. Erwachsen sein heißt, nie wieder frieren. Ich bestelle einen Negroni und frage Alex, ob er findet, dass mich das erwachsen macht. 

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"It makes you middle-aged. Ordering a negroni means you're like in your thirties." Das reicht mir. Da sitze ich also, bin kurz Mitte dreißig und denke an Diabetes-Früherkennung und schon verheiratete Freunde und lese die Karte und frage mich, ob es hier so dunkel ist oder ob sie das schon ist, die Altersweitsichtigkeit.

Auf einem Tisch stehen zwei gefüllte Rotweingläser, ein Teller mit Zucchini, einer mit Tomaten und Burrata, einer mit Artischocken und einer mit Oliven, sowie eine Platte mit Parmesan.

Rotwein macht mich schlecht gelaunt und erwachsen

Erwachsensein bedeutet, sich sicher zu sein, und ich bin mir eigentlich nie sicher. Als ich vor ein paar Wochen in Zürich in den Zug stieg, war ich ein bisschen verliebt in jemanden. Aus Langeweile. Höhe Frankfurt am Main war das dann zum Glück vorbei. Vielleicht würde ich mir etwas mehr Beständigkeit wünschen. Verliebt sein bis Berlin Ostbahnhof zum Beispiel. Ich will mal so lange dieselbe Person sein, dass ich Zeit habe, mich an sie zu gewöhnen. Das verspreche ich mir vom Erwachsensein: Ein Ich, auf das ich mich verlassen kann, das Einkaufszettel schreibt und eine Kosmetikerin hat und Tupperdosen mit Spaghettisauce einfriert. Ganz an diesem Punkt bin ich noch nicht.

Wenn ich an das Gegenteil von Erwachsensein denke, dann denke ich an eine Mädchengruppe, die auf den Parkbänken immer auf der Lehne sitzt, statt auf der Sitzfläche. Und irgendwie will ich für immer so jung und frei sein wie diese Teenagerinnen. Ich kann jetzt ein Laken falten, aber vielleicht sitze ich auch noch mit 80 mit Falten und Cellulitis, verbeult wie so ein Rennwagen auf der Lehne der Parkbank statt auf der Sitzfläche.

In der Bar ist es jetzt irgendwie spät und ich sollte nach Hause gehen, weil morgen habe ich natürlich Termine. Erwachsensein ist: "Ich glaube, ich sollte nicht" oder "Ja, ich muss jetzt auch mal los" oder "Sorry, morgen früh jogge ich". Doch ich muss noch Alkohol trinken, der mir nicht schmeckt, also bleibe ich. 

Die Autorin sitzt in einem Trainingsanzug auf der Lehne eines Stuhls vor dem Kühlschrank.

Ein Leben lang auf der Stuhllehne sitzen

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