Mehrere Menschen sitzen am Rand eines Kanals, ihr Bild spiegelt sich im Wasser wieder; es handelt sich um Crack-Süchtige in Paris, wo ein ernsthaftes Crack-Problem herrscht, das die Behörden wegen falscher Maßnahmen kaum in den Griff kriegen
Bei den Anlegestellen des berüchtigten Place de la Bataille-de-Stalingrad in Paris bereiten mehrere Crack-Konsumierende ihre Pfeifen vor | Foto: Joel Saget/AFP via Getty Images
Drogen

Paris hat ein ernsthaftes Crack-Problem

Die als "lebenden Toten" bezeichneten Konsumenten werden verdrängt und bloßgestellt. Die Behörden sind überfordert und setzen auf falsche Maßnahmen.

Ein Mann streift durch die Büsche der Parkanlage Jardins d’Éole in Paris. "Er wühlt im Dreck herum und versucht, das Crack zu finden, von dem er denkt, dass er es dort vergraben hat", sagt Sarah Vinet, Sozialarbeiterin der französischen Hilfsorganisation Charonne. "Aber da ist nichts. Das ist nur ein Tick. Sie nennen es 'Huhn-Syndrom'."

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Hunderte Crack-Konsumierende kommen jeden Tag in diesem dünnen Grünstreifen im Nordosten von Paris zusammen – nur wenige Gehminuten vom geschäftigen Transportknotenpunkt Gare du Nord und dem Hipsterspot Canal Saint-Martin entfernt. Sie wollen günstig an Drogen kommen, Freunde und Bekannte sehen oder einfach nur Zeit totschlagen.

"Dieser Ort ist wie ein Open-Air-Gefängnis", sagt Vinet. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen von Charonne schaut sie regelmäßig an den Crack-Hotspots vorbei. Diese Hotspots befinden sich vor allem im 18. und 19. Bezirk. Sie verteilen saubere Konsumutensilien und geben Tipps für freie Notunterkünfte. "Wir wollen das Risiko, dem die Konsumierenden sich aussetzen, minimieren und ihren Alltag zumindest ein bisschen erleichtern", sagt Vinet. "Das ist aber nicht so einfach."

Paris hat ein ernsthaftes Crack-Problem. Obwohl im Mai 2019 ein neun Millionen Euro teures Programm gestartet wurde, mit dem dieses Problem eigentlichen angegangen werden sollte. Crack wird aus Kokain hergestellt und macht extrem süchtig. Abhängige rauchen die Droge einfach so am helllichten Tag an den geschäftigen Hauptverkehrsadern von Paris.


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Aber auf die angenehme Wirkung folgen schnell Paranoia, Angst und ein schreckliches Gefühl der Leere. Einige stoßen dann schmerzerfüllte Schreie aus oder liegen völlig starr auf dem Boden. Viele sind vom Konsum schwer gezeichnet: rissige Lippen, zerfressene Zähne und eingefallene Wangen. Andere laufen jeden Tag Dutzende Kilometer, um irgendwo Geld für neuen Stoff aufzutreiben. 

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"Mit Crack kannst du eine Zeit lang wie ein normaler Mensch leben", sagt Joseph, ein 34-jähriger Stammgast in den Jardins d’Éole. "Aber du musst kämpfen, um nicht unterzugehen. Und irgendwann holt es dich immer ein. Nichts in deinem Leben ist sicher. Nach dem Tod meines Vaters erbte ich 150.000 Euro und gab sie in nur neun Monaten aus. Jetzt habe ich nichts mehr."

Viele machen die Drogenpolitik der französischen Regierung für die derzeitige Lage verantwortlich. Vor zwei Jahren wurde das berüchtigte "Colline de Crack" aufgelöst, ein verwahrlostes Zeltlager im Norden von Paris. Zeitweise lebten dort Hunderte Crack-Konsumierende. Aktivisten sagen, die Konsumierenden seien auf den Rest von Paris ausgewichen. Die eigentlichen strukturellen Probleme wurden dadurch aber nicht gelöst. 

"Das hat die Situation für die Süchtigen nur noch prekärer gemacht", sagt Elisabeth Avril, die Vorsitzende der Pariser Suchtberatung Gaia. "Das Colline-Lager war bei Weitem nicht perfekt, aber zumindest befand sich alles an einem Ort. Jetzt sind die betroffenen Menschen überall verteilt. Das erschwert es uns, ihnen gezielt Hilfe anzubieten."

"Die Antwort der französischen Politik auf den Crack-Konsum fokussiert sich zu sehr auf Kriminalisierung und Verdrängung."

Ein aktueller Bericht der Non-Profit-Organisation Observatoire Français des Drogues et des Toxicomanies (OFDT) und der Forschungseinrichtung Institut national de la santé et de la recherche médicale (INSERM) gibt ebenfalls der Politik die Schuld an der prekären Situation. Trotz aller Maßnahmen sei der Crack-Markt in den vergangenen 30 Jahren sehr beständig gewesen. Und derzeit kämen sogar neue Anbieter aus den benachteiligten Vierteln von Paris dazu. Die Politik reagiere zu überstürzt – und scheitere deshalb.

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Marie Jauffret-Roustide, Forscherin am INSERM, hat den Bericht mitgeschrieben. Sie beschäftigt sich schon seit den 90er Jahren mit Crack. Sie sagt, Paris sei heute eine der Crack-Hauptstädte, weil die Droge dort günstig ist, weil Schmuggelrouten zwischen anderen europäischen Großstädten durch Paris verlaufen und weil Paris der einzige Ort in Frankreich ist, wo Crack quasi überall konsumfertig verkauft wird. 

"Die Antwort der französischen Politik auf den Crack-Konsum fokussiert sich zu sehr auf Kriminalisierung und Verdrängung", sagt Jauffret-Roustide. Es fehle an öffentlichen Geldern für soziale Inklusionsprogramme wie etwa Notunterkünfte. "Das ist paradox, Frankreich gehört zu den wenigen Ländern, die viel in die Drogenhilfe investiert haben. Gleichzeitig kriminalisiert man den Konsum so, dass der Zugang zu dieser Hilfe erschwert wird."

Laut dem OFDT-Bericht gibt es in Paris und den Vororten etwa 13.000 Crack-Konsumierende. 2015 waren es noch 10.000. Im Vergleich zu den 90er Jahren habe sich die Zahl sogar verfünffacht, schätzt Jauffret-Roustide. Zum Vergleich: In London geht man von 36.000 Konsumierenden aus, bei fast fünfmal so vielen Einwohnern. 

"Crack-Konsum ist in den vergangenen Jahren viel sichtbarer geworden – vor allem weil der Norden von Paris gentrifiziert wurde", so Jauffret-Roustide weiter. "Das Zusammenleben mit Drogenkonsumierenden ist üblicher geworden."

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In einem öffentlichen Park in Paris stehen mehrere Menschen zwischen hohen Gräsern und Büschen vor einem Baum zusammen

Crack-Konsumierende treffen sich in den JARDINs D’ÉOLE im Nordosten von Paris | Foto: Peter Yeung

Wenn die Polizei in den Jardins d’Éole kontrolliert und Crack-Rauchende wegschickt, kommen diese Stunden oder gar nur Minuten später wieder zurück. Gleichzeitig steht der zerbeulte Van der Hilfsorganisation Charonne vor der Parkanlage und verteilt mehrmals pro Woche saubere Crack-Pfeifen, Mullbinden und Hygieneartikel an Bedürftige. 

Das Charonne-Team notiert oft die Vornamen und das Geburtsjahr der Menschen, die Hilfe beanspruchen: Karim 1970, Giles 1991, Pascal 1978, Nody 1983, Raphael 1997, Aissa 1971. Einige der Bedürftigen tragen mehrere Schichten Wollmützen, Pullover und Schals, andere kleiden sich schick. Eine Frau in einer braunen Lederjacke trägt eine rote, herzförmige Sonnenbrille, eine Zigarette hängt zwischen ihren Lippen.

Wenn es kalt ist oder regnet, haben es die Menschen in den Jardins d’Éole oft eilig, bedanken sich aber trotzdem höflich für die Hilfe. Wenn die Sonne scheint, verweilen viele auch mal für einen Plausch.

Einer von ihnen ist der 27-jährige Jonathan aus Straßburg. "Ich verabscheue Crack", sagt er. "Das Problem ist, dass man immer mehr will, man hat nie genug. Einmal habe ich in nur zwei Tagen 150 Steine geraucht – weil ich sie halt da hatte."

Ein junger Mann mit Drei-Tage-Bart, dicker Jacke und Wollmütze steht vor einer Kreuzung in Paris und blickt in die Kamera

Das ist Jonathan, ein Crack-Konsument mit MA-Abschluss in Philosophie | Foto: Peter Yeung

Als Jonathan 2015 wegen mehrerer Drogendelikte zwei Jahre ins Gefängnis musste, fing er hinter Gittern an, Philosophie zu studieren. Auch nach seiner Freilassung setzte er sein Studium fort und schloss bald seinen Master an der Universität Paris VIII mit dem Schwerpunkt moderne Sklaverei ab. "So etwas erwarten die meisten Leute bei Crackheads nicht", sagt Jonathan. Er habe bei einer Party eines Freundes zum ersten Mal Crack geraucht. "Das kann jedem passieren. Dein Leben kann sich schnell komplett ändern, ohne dass du etwas dagegen tun kannst."

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Nicht immer hängen Crack-Konsum und Obdachlosigkeit zusammen. Eine OFDT-Studie fand heraus, dass in Paris nur jeder vierte Crack-Konsumierende keinen festen Wohnsitz hat oder in einem provisorischen Unterschlupf lebt. Konsumierende wie Jonathan fallen in der Öffentlichkeit aber nicht auf.

Tagsüber rauchen in den Jardins d’Éole ganz offen auch Teenagerinnen und schwangere Frauen Crack. Nachts schließen die Behörden den Park. Die Konsumierenden müssen sich dann einen neuen Platz suchen und landen oft an Orten wie dem nahegelegenen Place de la Bataille-de-Stalingrad – einem berüchtigten Drogenumschlagplatz, der von den Anwohnern auch "Stalincrack" genannt wird.

"Die Süchtigen nehmen öffentliche Plätze ein, andere Leute können dort quasi nicht mehr hin."

Florence Adam ist Polizeibeamtin und im 19. Bezirk für die Maßnahmen gegen den Crack-Konsum verantwortlich. "Es ist ein ständiges Katz-und-Maus-Spiel", sagt sie. "Mit Kontrollen, Ermittlungen und großen Beschlagnahmungen halten wir den Druck gegen den Crack-Konsum aufrecht. Es wird aber Jahre dauern, bis dieses Übel wirklich weg ist."

Manche Anwohnerinnen und Anwohnern nennen die Konsumierenden "lebende Tote". Ein Twitter-Account zeigt voyeuristische, unzensierte Videos, in denen Menschen sich prügeln, in Autos einbrechen oder auf die Straße kacken. 

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Für Jean-Raphaël Bourge, den Vorsitzenden der örtlichen Anwohnervereinigung Action Barbès, ist die Situation "furchterregend" geworden: "Der Colline de Crack war die pure Hölle für die Nachbarn und die Konsumierenden", sagt er. "Die Behörden räumten dann einfach das Lager, hatten aber keinen Plan für die Zeit danach." 

Bourge sagt, die Anwohnenden leiden unter ständigem Lärm, Schmutz, aggressivem Verhalten und "einem Gefühl der Unsicherheit", wenn sie durch die Straßen gehen. "Die Süchtigen nehmen öffentliche Plätze ein, andere Leute können dort quasi nicht mehr hin", sagt er. "Aber wir können diese Leute nicht einfach immer weiter nach draußen drängen. Wir müssen ihnen einen Ort bereitstellen, an dem sie ihre Drogen sicher konsumieren können."

"Ich weiß, dass es nicht einfach ist, Dealer zu stoppen, aber die Polizisten sollten nicht auf die Konsumierenden draufgehen."

In Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz gibt es zahlreiche Drogenkonsumräume, in Paris nur einen einzigen. Für Avril, Vorsitzende der Suchtberatung Gaia, die den Pariser Konsumraum betreibt, viel zu wenig. "In Zürich gibt es vier solche Orte, obwohl dort viel weniger Menschen leben. Aber in Paris unterstützen Politikerinnen und Politiker das nicht." 

Die Pariser Behörden wollen kein offizielles Statement abgeben, aber ein Großteil der Gelder für die Anti-Crack-Maßnahmen sei dazu verwendet worden, die Polizeikontrollen zu erhöhen und die Plätze in Notunterkünften von 60 auf 420 zu erhöhen.

Nur François Dagnaud, der Bürgermeister des 19. Bezirks, ist weiterhin überzeugt, dass der "Crack-Plan" von 2019 erfolgreich ist. Er sei eine bahnbrechende politische Maßnahme, die langfristig funktionieren werde. "Noch nie zuvor haben so viele öffentliche Institutionen gleichzeitig erkannt, dass es sich hier um ein enormes Problem handelt", sagt er. "Ist das Problem dadurch verschwunden? Offensichtlich nicht. Die Maßnahmen sind keine Wunderwaffe." Um die Situation zu verbessern brauche es beides: Polizei und medizinisch-soziale Hilfe.

Konsumierende wie Jonathan, deren Leben durch Crack komplett zerstört wurde, leiden weiter unter dem paradoxen Ansatz. "Die Hilfsorganisationen machen eine tolle Arbeit und helfen uns, so gut es geht", sagt er. "Aber die Unterdrückung durch die Polizei ist echt beschissen. Ich weiß, dass es nicht einfach ist, Dealer zu stoppen, aber die Polizisten sollten nicht auf die Konsumierenden draufgehen. Wir sind in diesem System genauso Opfer."

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