Kellnern ist Kunst & Philosophie

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Paris

Kellnern ist Kunst & Philosophie

Das Bistro „Les Deux Magots“ in Paris ist seit dem 19. Jahrhundert ein Magnet für Künstler, Dichter und Denker. Wir haben uns mit einem der dienstältesten Kellner darüber unterhalten, was ein guter Kellner können muss.

Nach sechs Jahren in Kalifornien und unglaublichen Mengen an Dreifach-Burgern bei In-N-Out ist mein Interesse an französischer Gastronomie wenn überhaupt nur noch rudimentär vorhanden. Ich habe mich voll und ganz der amerikanischen Lebensweise hingegeben und deshalb auch wie ein echter Amerikaner Angst vor zwei Dingen: Essen, das sich ewig in die Länge zieht, und überschicke Restaurants.

Deshalb wusste ich, als ich nach Paris gezogen bin, quasi nichts über das legendäre Les Deux Magots. Ich kannte den Laden eigentlich nur aus dem Film La Maman et la Putain („Die Mutter und die Hure") von Jean Eustache. In einer Szene trifft Alexandre, gespielt von Jean-Pierre Léaud, auf der Terrasse dieses Cafés Veronika. Diese Brasserie ist jedoch mehr als nur schöne Kulisse einer einzigen Szene in einem dreistündigen Schwarz-Weiß-Epos. Les Deux Magots ist eine Institution im Pariser Stadtteil Saint-Germain-de-Prés. Hier spürt man den Geist von Paris und der Dichter, die einst an den Bistrotischen saßen.

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Alle Fotos von Melvin Israël

1884 schwebte in diesem Café-Bar ein ständiger Absinthdunst, hier gab es Likör, Schnaps und andere Spirituosen, hier trafen sich Verlaine, Rimbaud und Mallarmé, um zu trinken. Viel zu trinken. Das Les Deux Magots wurde zu einem Eckpfeiler der Pariser Kulturszene.

In den 20er-Jahren war das Café die zweite Heimat der Surrealisten um André Breton, dann folgten in den 50ern Sartre und die Existenzialisten. Schnell etablierte sich hier eine Art Hauptquartier für nationale und internationale Künstler: Oscar Wilde, Alfred Jarry, Guillaume Appolinaire, André Gide, Jean Giraudoux, Picasso, Fernand Léger, Prévert, Hemingway und viele andere. Hier trafen sie sich, diskutierten, entwickelten ihre Kunst und—sind wir mal ehrlich—chillten stundenlang trinkend auf der Terrasse.

1933 riefen einige Surrealisten in ebendiesem Café als klares Gegenstück zum eher akademischen Prix Goncourt ihren eigenen Literaturpreis ins Leben, den sie den „Prix des Deux Magots" nannten. Damit wurde aus dem Café-Bar ein wesentlich höher angesehenes Literaturcafé. Seitdem hat sich nicht viel verändert: Immer noch schwirren die Kellner durch den Saal imArt-Déco-Stil mit ihren Tabletts in der Hand, hier lebt die alte Tradition weiter. Ihre Kleidung ist makellos: weißes Hemd, schwarze Fliege, schwarzes Jackett, weiße Schürze und schwarze Schuhe.

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Um 15 Uhr habe ich ein Treffen mit einem derdienstältesten Kellner des Etablissements. Ich bin schon ein paar Minuten früher da und bin von dem schieren Anachronismus regelrecht erschlagen. Mit meinen abgetragenen Klamotten, meiner Lederjacke und den dreckigen Chucks passe ich nicht so richtig hier rein. Ich melde mich am Empfang, nehme an meinem Tisch platz und bestelle mir eine heiße Schokolade. Yves, der wohl bekannteste Kellner des Lokals, von dem ich alles über das Les Deux Magots wissen will, ist um die 60 und sehr freundlich. Er sitzt mir gegenüber. Mittlerweile ist es zehn nach drei, seine Schicht beginnt in 50 Minuten.

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MUNCHIES: Hallo Yves! Woher kommt eigentlich der Name „Les Deux Magots"? Und wie lange arbeiten Sie schon hier? Yves: „Les Deux Magots" bezieht sich auf die zwei asiatischen Figuren, die an einer der Säulen in unserem Café angebracht sind. Und was meine Arbeit hier angeht: Im März werden es 35 Jahre. Mein Gott, man wird schon alt…

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Großartig! Seit den 80ern arbeiten Sie in dieser Brasserie, da hat sich bestimmt einiges unter Ihren Augen verändert… Am Anfang war das Les Deux Magots ein einfaches Pariser Café, in dem man sich ein heißes Getränk oder eine Limo bestellen konnte. Erst in den 80ern wurde es zu der Brasserie, die es heute ist. Mit den Jahren wurde daraus ein wesentlich ausgefeilteres Café mit Koch und Konditor in der Küche.

Seit mehr als drei Jahrzehnten haben Sie also alle möglichen Leute hier ein und aus gehen sehen. Hat sich die Klientel und die Atmosphäre in den Pariser Brasserien in der Zeit verändert? In den letzten paar Jahren ist Paris irgendwie trübseliger geworden, in den 80er- und 90er-Jahren war alles viel lebendiger. Heute schottet man sich ab, es ist viel schwieriger, Beziehungen aufzubauen. Das erinnert mich ein bisschen an Deutschland vor ein paar Jahren. Früher gab es viel mehr Apéros, es gab keine Alkoholtests und die Leute sind einfach in ihr Auto gestiegen und auf einen Drink hergefahren. Es gab auch kein Internet. Das Café war einfach ein gut gelegener Treffpunkt. Drinnen hat man dicke Zigarren geraucht, man war unter Freunden. Auch die Einstellung der Menschen hat sich verändert. Als ich angefangen habe, hat unser Chef René Mathivat keinen Gast in Shorts reingelassen, das hätte unser Café ungepflegt aussehen lassen. Mittlerweile hat sich die Gesellschaft verändert, man ist lockerer geworden, deshalb gibt es solche Regeln nicht mehr, obwohl das hier immer noch ein edles Café ist.

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So wie ich heute aussehe, hätte man mich damals wohl nicht reingelassen, oder? Stimmt, ich denke nicht.

Verstehe. Wie würden sie die heutige Klientel beschreiben? Von den Parisern kommen die meisten hier aus dem Viertel. Außerdem gibt es viele, die schon als Kinder mit ihren Eltern hierher gekommen sind und die diesen Brauch einfach fortgeführt haben—mittlerweile sind sie um die 40. Wir haben erstaunlich viele Stammkunden, aber es gibt natürlich auch Touristen. Früher kamen viele Deutsche, heute eher Japaner, Koreaner und Chinesen.

Pariser Kellner genießen nicht gerade einen sonderlich guten Ruf. Wenn man in einer der berühmtesten Brasserien der Stadt arbeitet, unterstreicht man dieses Klischee nicht dann noch unterbewusst ein bisschen? Oder eher im Gegenteil: Muss man dann perfekte Arbeit leisten? Das habe ich nie so gesehen, aber so verkehrt ist das gar nicht. Ich versuche, so professionell wie möglich zu sein und einwandfreien Service zu liefern. Man muss sich erfahren, klug und kultiviert zeigen, eine gewisse Philosophie als Kellner haben und sein Privatleben und seine Adrenalinkicks aus dem Spiel lassen. Ich zwinge mich sogar dazu, immer zu lächeln.

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Zu den Kunden des Les Deux Magots gehören auch einige Berühmtheiten. Wen haben Sie bedient? Oh, ja! Ich habe Simone de Beauvoir und Sartre das Frühstück serviert. Sie hatten ihre speziellen Angewohnheiten und mochten es nicht, gestört zu werden, deshalb kamen sie morgens. Prévert habe ich immer seinen Ricard serviert—er saß jeden Tag mit seinem großen Hut auf der Terrasse. Außerdem habe ich amerikanische Schauspieler wie James Stuart, Politiker wie US-Präsident Clinton und den Premierminister Kanadas bedient. Dann noch Kouchner, Jacques Vergès und Alain Juppé, der Stammkunde war, als er noch hier gewohnt hat. Manchmal kann man mit den Leuten auch ein Schwätzchen halten…

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Ganz schön beeindruckend. Gibt es ansonsten noch irgendwelche alkoholgeschwängerten Storys? Einmal hatte ein Freund von Olivier de Kersauson—ein Maler, wenn ich mich richtig erinnere—ordentlich zu viel getrunken. Das war ein ziemlich heftiger Abend, ein großes Durcheinander. Aber am meisten erinnere ich mich an die Einführungsrituale der Kunststudenten der École des Beaux-Arts de Paris, die liegt gleich um die Ecke. Die haben immer zu viel getrunken und sich regelrecht besoffen. Wir mussten die Flaschen mit Alkohol verstecken, damit sie uns die nicht klauen. Jedes Jahr war es das gleiche Spiel. Einmal sind einige Gäste von der Terrasse nach drinnen geflüchtet, um sich vor der Meute von 40 betrunkenen, völlig abdrehenden Studenten zu schützen. Eine Mutter hat sich mit ihrer Tochter in Toiletten im Keller eine halbe Stunde lang versteckt, damit sie den Studenten aus dem Weg geht. Heute gibt es diese Einführungsriten nicht mehr. Schade eigentlich.

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Und was ist mit Affären und Liebesgeschichten? Oft kommen Männer mit ihren Geliebten ins Les Deux Magots, das weiß jeder. Der Ort hat einfach diese Intimität, diese Diskretion. Das ist auch heute noch so, war aber früher viel extremer. Erst neulich hatten wir ein Pärchen, das sich eine Flasche Champagner bestellt hatte und nach einem halben Glas anfing, sich heftig zu streiten. Dann ist jeder seiner Wege gegangen und auf dem Tisch stand eine immer noch fast volle Champagnerflasche im Wert von 240 Euro. Lief wohl nicht so gut mit seiner Geliebten.

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Sie haben Ihr ganzes Leben lang als Kellner hier gearbeitet. Wie ist das so? Es gibt immer weniger junge Leute, die das ihr Leben lang machen wollen, aber das ist auch ein möglicher Karriere- bzw. Berufsweg. Ich bin heute noch in derselben Position wie vor 35 Jahren, als ich angefangen habe. Ich mag meinen Beruf und finde es interessant, Menschen zu treffen, ständig zu lernen und auch zu diskutieren.

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Was würden Sie jungen Kellnern mit auf den Weg geben? Für diesen Beruf braucht man Leidenschaft und Geduld, ansonsten klappt es nicht. Man wird nicht über Nacht zum guten Kellner, sondern man lernt mit der Zeit und wird professioneller. Außerdem muss man darauf vorbereitet sein, dass der Beruf körperlich viel anstrengender ist, als es auf den ersten Blick scheint. Als guter Kellner muss man außerdem sorgfältig sein: Der Service muss immer einwandfrei sein. Ziel ist es, sich durch seine Arbeit von einem durchschnittlichen Pariser Kellner abzuheben. Freundlich muss man auch sein, ein gewisses Maß an Strenge gepaart mit Freundlichkeit. Und um dieses Gleichgewicht halten zu können, braucht man Erfahrung und eben diese eigene Philosophie.

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Gibt es etwas, das Sie bei Gästen überhaupt nicht ausstehen können, also Dinge, bei denen auch Sie ihre Erfahrung und ihre „Kellner-Philosophie" vergessen? Unhöflichkeit schmeckt mir gar nicht. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen immer unhöflicher und aggressiver werden. Einige antworten einem nicht einmal nach der Begrüßung, andere lassen ihre Wut an mir als Kellner aus—aber das ist immer noch ein verschwindend geringer Anteil der Gäste. Außerdem mag ich es nicht, wenn man seine Füße auf den Stühlen ablegt, dann weise ich sie höflich zurecht. Respekt ist sehr wichtig.

Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben und für die heiße Schokolade!

Mehr von Félix gibt es hier. Alle Fotos von Melvin Israël.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf MUNCHIES FR.