Wenn wir Michel Houellebecq verstehen wollen, dann müssen wir sein Essen verstehen
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Wenn wir Michel Houellebecq verstehen wollen, dann müssen wir sein Essen verstehen

Er ist ein rätselhafter Schriftsteller, der Verfasser von Unterwerfung, der Mann auf dem Cover der Charlie Hebdo in der Woche des Anschlages.
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Screenshot aus „Die Entführung des Michel Houellebecq". Chic Films | Les Films du Worso | Arte

Jean-Marc Quaranta ist Dozent an der Universität Aix-Marseille. Er hat mehrere Artikel und Essays sowie seine Doktorarbeit über Marcel Proust geschrieben, wendet sich in seinem jüngstem Buch jedoch einer anderen Größe der französischen Literatur zu: Michel Houellebecq. In Houellebecq aux fourneaux, einer Mischung aus Kochbuch und Literaturanalyse, betrachtet er das Werk des enfant terrible der französischen Literatur aus einem neuen, kulinarischen Blickwinkel—inklusive 76 Rezepten.

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Drei bis vier Mal pro Tag essen wir. Wie auch das Atmen bringt uns das Essen in einen direkten Kontakt mit der Welt. Beim Kochen wird dieser biologischen Notwendigkeit noch Kultur verliehen, dadurch können wir uns ausdrücken. Und auch bei Michel Houellebecq ist das so. Die Küche bei Houllebecq würde ich mit drei Worten zusammenfassen: Großzügigkeit, Geschmack und Vielfalt.

Nichts lag für mich näher, als sich mit dem Essen bei Houellebecq zu beschäftigen, weil es bei allen entscheidenen Momenten in seinen Werken Essen gibt. Zum Beispiel François, die Hauptfigur aus Unterwerfung: Er findet sich selbstnicht in den Zigarette oder in den Studentinnen, sondern in seinem Essen undder Literatur. Diese Identitätsfindung ist eine der Aufgaben, die das Kochen und Essen in Houellebecqs Werken haben. Das erinnert auch an Tikka-Masala-Hühnchen, ursprünglich ein indisches Gericht, das jetzt Umfragen zufolge das Lieblingsgericht der Engländer ist. In der Rede vom ehemaligen britischen Außenminister Robin Cook ist es auchzum Symbol für Assimilation und Vielfalt geworden.

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Das lässt sich an den Textstellen zur regionalen Küche in Karte und Gebiet erkennen. Dieses „Gebiet", dieses Regionale, ist aber vor allem in Paris entstanden, so die Meinung von Soziologen und Historikern. Um diese Küche wertzuschätzen, brauchte es Distanz, man musste sie von außen betrachten. Und das wurde möglich, als sich Verkehrsmittel und Autos verbreitet haben. Erst wenn man zu dieser Küche hinkommen kann, wird sie lebendig. Dann passiert es auch, dass einzelne Elemente dieses kulinarischen Erbes glorifiziert, quasi zu Ausstellungsstücken werden.

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José Garcia und Philippe Harel in der Verfilmung von Ausweitung der Kampfzone. Mars Films

In den Büchern von Michel Houellebecq gibt es Verbindungen zwischen Essen und Sex, Essen und Tod, die allerdings beim ersten Lesen nicht sofort auffallen. Interessanterweise ist es bei Unterwerfung sogar so, dass der kulinarische Subtext etwas ganz anderes sagt als der Text—oder was man zumindest vom Text denkt.

Zwei Gerichte stechen besonders heraus: die Tajine, die erwähnt wird, als die „schleichende Islamisierung der Universität verkündet wird", an der François als Spezialist für das Werk von Noris-Karl Huysmans unterrichtet, und dann noch die Lammkeulen, souris d'agneau, das Hauptstück des typisch französischen Essens in Martel—was gleichzeitig eine Anspielung auf Karl Martell ist. Als ich für mein Buch beide Gerichte gekocht habe, hatte ich das Gefühl, beide Male mit dem gleichen Fleisch die gleichen Gesten zu machen. Für mich war es das Gleiche, abgesehen von den Kräutern. Viele reißen bei Unterwerfung gleich den Mund auf, obwohl sie nur den Titel gelesen haben. Die Küche im Buch erzählt jedoch eine andere Geschichte.

Für mich arbeitet er wie ein Magier, der das Publikum geschickt ablenkt, um dann—für das Publikum völlig unerwartet—ein Kaninchen aus dem Zylinder zu ziehen.

Erstaunlich ist jedoch, dass bei demselben Essen auch croustade landaise aux pommes serviert wird. Diese Apfeltörtchen werden, genauso wie die orientalischen Baklava, die auch im Roman erwähnt werden, aus Filoteig gemacht. Man denkt, das sei Zufall, aber genauso ist es beim Salat mit Bohnen, Löwenzahn und Parmesan: Es ist kein Zufall, dass diese Lebensmittel des Mittelmeerraums auftauchen.

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Ich weiß nicht, ob Houellebecq wirklich sagen wollte: „Achtung, wir stehen kurz vor einer Invasion."—wie man es seinem Buch gern zuschreibt. Ich weiß allerdings, dass die Küche in Unterwerfung eine andere Sprache spricht. Für mich arbeitet er wie ein Magier, der das Publikum geschickt ablenkt, um dann—für die Anwesenden völlig unerwartet—ein Kaninchen aus dem Zylinder zu ziehen.

Ich bin kein Experte für Essen in der Literatur allgemein, also steht es mir eigentlich nicht wirklich zu, für andere Schriftsteller zu sprechen. BeiProust nimmt das Essen sicher eine wichtige Rolle ein: Hier isst man viel und das wird mit vielen Details zu Farben und Texturen ausgeschmückt. Diese Beschreibungen drücken auch gleichzeitig Genuss aus, zum Beispiel das Rindfleisch mit Karotten in Im Schatten junger Mädchenblüte oder die Erdbeeren mit Sahne in In Swanns Welt. Bei Houellebecq ist das Höchste der Gefühle jedoch, wenn er schreibt, dass ein Gericht lecker ist.

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Bei Zola erinnert es eher an den Realismus und den Symbolismus, wie zum Beispiel die Szene mit der Gans in Der Totschläger. Houellebecq bedient sich des Essens auf eine sehr persönliche Art, was ihn noch näher an die Autoren des 19. bzw. vom Anfang des 20. Jahrhunderts ranrücktich wüsste nicht, welcher zeitgenössische Schriftsteller der Küche so eine große Rolle zuspricht (vielleicht noch Annie Ernaux, aber eher aus anderen Gründen).

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Mir kommt es so vor, als würde sich Houellebecqs Küche im Laufe der Romane immer weiter verbessern. Nach Elementarteilchen, so mein Gefühl, es anders: Ab da gibt es schicke Restaurants mitraffinierten und komplizierten Geschichten. Eine Art Lebenssteigerung, die sich vor allem darin zeigt, was Houellebecq isst.

Ich glaube, dass diese Eindruck vom deprimierenden Essen bei Houellebecq durch Ausweitung der Kampfzone entstanden ist, wo man wirklich die schlimmsten Dinge findet. Dieses Bild bleibt haften, weil in seinen anderen Romanen wenig Fertigessen vorkam—und wenn dann war es nicht unbedingt schlecht. Nach diesem Roman musste er einfach nur „aufgetauter Fisch" schreiben und alle fanden es ekelhaft.

Ich denke, für ihn ist Tierhaltung ein wichtiges Thema und ihn reizt der Vegetarismus. Er schafft es allerdings nicht.

Ab Plattform essen seine Charaktere Kaviar, aber es sind noch nicht alle gastronomischen Spielarten dabei, keine Spur beispielsweise von Molekularküche. Ein Kollege von mir hat Houellebecq einmal anlässlich eines Kolloquiums zu sich eingeladen. Seine Frau hat ihm das Menü der Großmutter aus Elementarteilchen gekocht: Paprika, gefülltes Gemüse. Houellebecq hat alles gegessen, aber aufgefallen ist es ihm nicht.

Ich denke, für ihn ist das Tierwohl ein wichtiges Thema und ihn reizt der Vegetarismus. Er schafft es allerdings nicht, aber vielleicht erklärt das, warum in seinen Werken immer wieder Fische auftauchen. Diese Frage beschäftigt ihn, glaube ich, so zum Beispiel am Anfang von Die Möglichkeit einer Insel.

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In Karte und Gebiet gibt es eine ganze Abhandlung über Schweine, die man nicht essen darf, weil sie intelligent sind, anders als Schafe, die blöd sind. Und trotzdem isst er Wurst. Er beansprucht für sich das Recht, sich widersprechen zu dürfen, wie Baudelaire.

Eineige Rezepte kannte ich schon; wenn ich auf ein unbekanntes Gericht gestoßen bin, habe ich in Kochbüchern oder im Internet ein paar rausgesucht. So wie ein Musiker eine Partitur lesen kann, weiß man ja ungefähr, was bei rauskommt. Meine Mutter hatte ein Feinkostgeschäft und meine Schwester war auf der Hotelfachschule, ich bin also mit dem Kochen aufgewachsen. Einmal musste auch mein Vater mir etwas zu essen machen: Es gab Reis mit einem Rosmarinzweig und Rotkohl, sehr nahrhaft.

Für das Couscous bin ich zwei Mal nach Algier gefahren und habe dort die ganze Zeit Couscous essen, um den Geschmack zu verstehen, den er in Elementarteilchen beschreibt.

Bei einigen Gerichten, Pot-au-feu oder Couscous brauchte ich ein bisschen mehr Theorie oder Insiderwissen. In meiner Familie gab es selten Pot-au-feu, also habe ich geschaut, wie bei den einzelnen Rezepten das Fleisch gegart wird, und dann das genommen, was am ehestem dem von Houellebecq entspracht. Für das Couscous bin ich zwei Mal nach Algier gefahren und habe dort die ganze Zeit Couscous gegessen, um den Geschmack zu verstehen, den er in Elementarteilchen beschreibt; die Mutter der beiden Hauptcharaktere ist, wie auch Houellebecq, in Algerien aufgewachsen.

Als Houellebecq aux fournaux erschien, habe ich mich gefragt, welchen Einfluss wohl ein literaturkritischer Essay auf einen zeitgenössischen Autor haben kann. Ich wünsche mir, dass mehr über die Küche in den Büchern diskutiert wird—und weniger über Houellebecq; dass die Leute mir sagen: „Dieses Pot-au-feu-Rezept geht überhaupt nicht, meine Großmutter macht das anders." Oder dass sie die Rezepte lesen und sich denken: „Ah, da geht's ja auch um Literatur." Für Einsteiger empfehle ich übrigens den Tomaten-Mozzarella-Salat.

Aufgezeichnet von Alexis Ferenczi.