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Armuts- und Reichtumsbericht

Wenn Deutschland so weitermacht, entscheiden alte, reiche Menschen über unsere Zukunft

Ein Bericht der Bundesregierung zeigt, warum arme Menschen wenig Einfluss haben.

Eine Freundin aus einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen machte nach ihrem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Eigentlich wollte sie Abitur machen und studieren, aber um auszuziehen, musste Geld her – und zwar nicht erst in fünf Jahren nach Abi und Bachelor. Sie wollte raus aus der Kleinstadt, und ihre Eltern konnten sie finanziell nicht unterstützen. Schon in der Ausbildung verdiente sie mehr, als es ihr neben Schule und Studium möglich gewesen wäre. Andere meiner Freunde, deren Eltern als Chemiker oder Unternehmensberater arbeiten und teilweise zwei Wohnungen oder mehrere Autos besitzen, konnten nach dem Abi erstmal ein Jahr nach Südamerika gehen oder nach ein paar Semestern ein Studium hinschmeißen und ein Neues anfangen. In der Gewissheit: Im Zweifel helfen die Eltern aus. Hätte meine Freundin aus NRW dieselbe Unterstützung gehabt, wäre sie heute nicht Kosmetikerin, sondern hätte vielleicht Kunst studiert, oder Chemie. Beide Fächer mochte sie in der Schule.

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Die Ungerechtigkeit beeinflusst nicht nur persönliche Entscheidungen, sondern auch, in was für einem Land wir leben. Wer uns regiert, welche Gesetze beschlossen werden. Wer weniger Geld hat, geht seltener wählen. Das zeigt der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der nun vorliegt. Darin steht: Seit 1980 ist die Wahlbeteiligung unter Gutverdienern kaum zurückgegangen, die Wahlwahrscheinlichkeit für Haushalte mit niedrigem Einkommen ist hingegen bis 2012 um ein ganzes Viertel gesunken. Die Bertelsmann Stiftung beobachtete außerdem bei der letzten Bundestagswahl 2013: Je mehr Menschen in einem Viertel arbeitslos waren, desto niedriger fiel dort die Wahlbeteiligung aus.

Sprich: Wohlhabende Menschen nehmen mehr Einfluss auf politische Entscheidungen als Geringverdiener. (Diese Folgerung findet man so nicht mehr im Bericht. In der ersten Fassung stand noch, dass Menschen mit mehr Geld mehr Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Laut Süddeutscher Zeitung ist die Passage aber wohl auf Druck des Kanzleramts weggefallen.)

Das Problem wird von Generation zu Generation weitergereicht, zeigt der Bericht: Wer reiche Eltern hat, wird später mit großer Wahrscheinlichkeit selbst wohlhabend – in einer Umfrage unter 130 Hochvermögenden gaben über zwei Drittel Erbschaften und Schenkungen als Grund für ihren Reichtum an. Fassen wir kurz zusammen: Besserverdiener gehen öfter wählen und haben so größeren Einfluss auf die Politik. Und wer Gutverdiener als Eltern hat, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit selbst Gutverdiener.

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Die Freundin aus NRW sagte letztens bei einem Spaziergang zu mir: "Erklär mir die Weltpolitik, ich weiß nichts." Währenddessen diskutiert der Freund mit den Chemiker-Eltern in seiner WG über den Umgang der Medien mit einem Tweet von Beatrix von Storch. Und die Freundin, deren Vater acht teure Autos besitzt, kann drei verschiedene Typen jener Linken unterscheiden, die sich als antideutsch bezeichnen. Ein Unterschied: Die Kosmetikerin zahlt ihre Miete selbst, bei vielen meiner Freunde, die studieren, zahlen sie die Eltern. Nein, das soll nicht heißen, dass Menschen mit Ausbildung sich alle nicht mit Politik befassen. Und auch nicht, dass es in irgendeiner Weise schlecht ist, während des Studiums Unterstützung von den Eltern zu bekommen, oder dass nicht auch manche Studenten sehr viel jobben müssen. Aber es zeigt trotzdem, was logisch ist: Wer mehr arbeiten muss, hat weniger Zeit, sich mit Utopien, Theorien und Artikeln auseinanderzusetzen – oder mit Parteiprogrammen.

Das müssen wir – junge Menschen von 18 bis 30 – allerdings machen, wenn wir keinen Bock darauf haben, dass alte, wohlhabende Menschen über unsere Zukunft entscheiden. Der Alterstrend zur Wahlbeteiligung ist beängstigend.

Bei den Bundestagswahlen von 1953 bis 2013 ist niemand fleißiger wählen gegangen als die Über-50-Jährigen. Bei der letzten Bundestagswahl 2013 war die Wahlbeteiligung der 21- bis 25-Jährigen am niedrigsten (60,3 Prozent). Auch bei den 25- bis 30-Jährigen (62,4 Prozent) und den Unter-21-Jährigen (64,2 Prozent) sah es nicht viel besser aus.

Das erklären manche damit, dass es uns wirtschaftlich gut geht und wir friedlich und satt unter Merkels Raute dösen und viele keine direkte Not sehen, sich zu politisieren. Oder aber mit einem Desinteresse, weil viele Politiker irgendwie dröge wirken. (Ja, teilweise sind sie das auch: Anton Hofreiter will Wähler erreichen, indem er das Erste einlädt, ihn zu filmen, wie er mit einer Mistgabel im Stall steht. Und wenn Politiker sprechen, hält es oft her für ein Bullshit-Bingo aus Phrasen von "Wir stehen an der Seite", "Gute Politik. Starkes Land", "XY verursacht neue Bürokratie" (Politiker-Tweets dieser Woche)). Wer aber will, dass der Armutsbericht in den nächsten Jahren anders aussieht, sollte sich in diesem Jahr trotzdem mit ihnen auseinandersetzen – und wählen gehen. Und wenn euch das nicht reicht: Alle Methoden, wie ihr politisch Einfluss nehmen könnt, fassen wir in unseren VICE-Guides zur demokratischen Selbstverteidigung zusammen.

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