Die Golden-Goal-Regel: Never forget!
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gescheiterte reform

Die Golden-Goal-Regel: Never forget!

Das Golden Goal wurde erfunden, damit es weniger Elfmeterschießen gibt. Leider hat die grausame Innovation am Ende gestandene Männer zu Nervenbündeln gemacht und jede Menge Angsthasenfußball produziert. Ein Mahnmal.

Am 27. Januar 1994 passierte etwas, das zeigte, warum man wichtige Fußballentscheidungen nicht in die Hände von Bürokraten legen sollte.

In Saint Michael spielte Barbados gegen Grenada im letzten Qualifikationsspiel für die Karibikmeisterschaft. Es lief die 88. Minute und die Heimmannschaft Barbados führte mit 2:1. Das Ergebnis würde aber nicht ausreichen, denn Barbados musste mit zwei Toren Unterschied gewinnen, um sich noch für das Endturnier in Trinidad zu qualifizieren.

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Da man also dringend ein Tor benötigte, passte Verteidiger Marc Sealy den Ball zum Torhüter Horace Stoute und der drosch die Kugel ins eigene Tor. Warum? Um sich in die Verlängerung zu mogeln und so mehr Zeit zu haben, um noch ein Tor zu schießen. Kurz zuvor war nämlich die Golden-Goal-Regel eingeführt worden, die von den Organisatoren der Karibikmeisterschaft mit dem Extrapassus versehen wurde, das jedes in der Verlängerung geschossene Tor doppelt zählt.

Doch es wurde noch absurder. Um der Verlängerung zu entgehen, begann Grenada für den Rest der regulären Spielzeit, auf beide Tore zu spielen. Schließlich würde ein Treffer, egal für wen, ein Spielende nach 90 Minuten und einen Platz beim Endturnier bedeuten. Und das alles bei einem offiziellen FIFA-Qualifikationsspiel.

Der Vorfall von Saint Michael zeigte auf dramatische Art und Weise, wie sehr der Fußball darunter leiden kann, wenn man mit seiner DNA rumfuscht. Und war nur ein Beispiel unter vielen, warum das Golden-Goal-Prinzip dem Sport nie genutzt, sondern nur geschadet hat.

Dabei bestand Anfang der 90er-Jahre durchaus Reformbedarf im Fußball, da immer mehr Elfmeterschießen das unfaire Zünglein an der Waage zwischen Triumph und Tränen waren.

Bis heute kam es zu 26 Elfmeterschießen bei WM-Endturnieren und 10 bei EM-Endturnieren. Es gibt wohl keine schlimmere Art, aus einem Turnier zu fliegen oder sogar ein Finale zu verlieren: Jahre der Hoffnung und Vorbereitung einer Mannschaft werden null und nichtig, weil ein Unglücklicher den Ball nicht aus elf Metern zu versenken vermag. 36 Mal wurde in der Geschichte des Sports ein Spiel durch den Fehlschuss des letzten Schützen entschieden. Werden wir jemals aufhören, Uli Hoeneß mit seinem Schuss in den Belgrader Himmel zu verbinden?

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Bei der Euro 96 rückte die Golden-Goal-Regel zum ersten Mal ins internationale Scheinwerferlicht. Sie wurde als innovative Korrekturmaßnahme der FIFA promotet, die den überhandnehmenden Entscheidungen durch Elfmeterschießen Einhalt gebieten sollte. Trotzdem war bei vier von sieben K.o.-Spielen der Gang an den Elfmeterpunkt nötig, während nur ein Spiel durch den Sudden-Death-Mechanismus entschieden wurde. Stichwort: Oliver Bierhoff.

Oliver Bierhoff nach seinem Golden Goal im EM-Finale 1996 gegen Tschechien. Foto: imago/Horstmüller

Was das Golden-Goal-Prinzip mit den Spielern—und dem Spiel—machte, wurde im Viertelfinale zwischen Frankreich und Holland deutlich. In der Verlängerung kam der Oranje-Stürmer Youri Mulder an den Ball und schoss aus rund fast 30 Metern aufs Tor. Auch wenn der Schuss harm- und kraftlos war und am Ende in die Arme von Bernard Lama kullerte, rastete der Torhüter der Franzosen komplett aus, weil seine Abwehr den Schuss nicht verhindert hatte. Die Möglichkeit, jede Sekunde ausscheiden zu können, hatte aus einem gestandenen Mann ein echtes Nervenbündel gemacht. Am Ende ging aber auch dieses Spiel ins Elfmeterschießen, wo die Franzosen das bessere Ende erwischten.

Man muss kein Genie sein, um zu verstehen, dass das neue System Elfmeterschießen eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher gemacht hat. Schließlich wurde die Verlängerung zu einem adrenalinschwangeren Drahtseilakt, der die meisten Spieler lähmte und so wenig Risiko wie möglich eingehen ließ. Häufig entwickelten sich in der Verlängerung regelrechte Nichtangriffspakte zwischen den beiden Mannschaften. Wer will auch einen Angriff fahren, wenn der Konter das Turnieraus bedeuten kann? Das Golden-Goal-Prinzip machte die Spieler zu Zauderern und Feiglingen.

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Dabei sind und bleiben Elfmeterschießen das eigentliche Problem. Vor ihrer Einführung 1970 (bzw. 1974 bei der ersten Weltmeisterschaft) gab es in 71 Begegnungen in der K.o.-Phase gerade mal vier Remis, die ihrerseits dann zu Wiederholungsspielen führten (keines davon endete erneut unentschieden). Um das nochmal zu verdeutlichen: In 40 Jahren WM-Geschichte gab es vor der Einführung des Elfmeterschießens nur vier Unentschieden. In den darauffolgenden 40 Jahren nach ihrer Einführung sollte es in der K.o.-Phase bei Weltmeisterschaften 26 Unentschieden geben. Klar gab es ab 1974 auch mehr Spiele pro Turnier, weil mehr Teilnehmer, trotzdem zeigen diese Zahlen ganz deutlich, dass sich der Charakter des Fußballs nachhaltig und grundlegend verändert hat, seitdem ein Spiel nach 120 Minuten ins Elfmeterschießen ging.

Warum das so ist, ist schwer zu sagen. Denkbar wäre, dass schwächere Teams ihre Taktik dergestalt verändert haben, dass sie sich vor allem darauf beschränken, hinten sicher zu stehen und sich ins Elfmeterschießen zu retten. Es scheint so, als ob sich viele bei der Lotterie vom Punkt bessere Chancen ausrechnen. Das war vor 1970/1974 nicht möglich, da eine solche Mauertaktik, wenn erfolgreich, zu einem Wiederholungsspiel geführt hätte, weswegen die meisten Mannschaften von vornherein mit „offenerem" Visier gespielt haben.

Andererseits ist eine Rückkehr zu Wiederholungsspielen heute nur schwer denkbar. Schon so dauert eine WM einen ganzen Monat. Wenn man dann auch noch anfangen würde, Spiele ein zweites Mal auszutragen, könnte das Turnier schnell zu einer Endlosveranstaltung werden. Keine Option für Spieler, die heutzutage unter der Saison eh schon viel mehr Partien als früher absolvieren müssen. Außerdem sind die meisten Spieler mittlerweile technisch viel besser ausgebildet, machen weniger Fehler—und damit auch Tore. Und selbst die „kleinen" Fußballstaaten sind schon lange nicht mehr nur Kanonenfutter für Brasilien, Deutschland und Co. und überraschen regelmäßig bei Endturnieren. Die internationale Fußballbühne ist in der Spitze zu ausgeglichen, so dass das „Risiko" von Unentschieden wohl zu groß wäre.

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Es scheint also fast so, als seien Elfmeterschießen das kleinste Übel. Und alle anderen Innovationen—wie das Golden Goal—eben nur übel. Das sah auch schon bald die FIFA ein, obwohl der offizielle Grund für das Abschaffen der Golden-Goal-Regel ein anderer war. Denn den Stadionverantwortlichen und der Polizei war es aus Sicherheitsgründen schlichtweg zu heikel, nicht zu wissen, wann genau eine Partie enden würde, und deswegen nicht entsprechend planen zu können. Aus diesem Grund wurde auch das „Silver Goal" eingeführt, weil da klar war, dass ein Spiel nach den ersten 15 Minuten der Verlängerung enden würde, wenn eine Mannschaft vorne lag.

In der Geschichte des Fußballs wurde nur ein einziges Silver Goal bei einem wichtigen Endturnier erzielt, und zwar im Halbfinale zwischen Griechenland und Tschechien bei der EM 2004. Die halbherzige „Lösung" sollte schließlich das Anfang vom Ende des gesamten Sudden-Death-Experiments sein. Im Jahr 2006 war es bereits Geschichte.

Dass Golden Goals von fast schon sadistischer Grausamkeit sind, zeigte sich wohl am deutlichsten in den Gesichtern der Spieler, die ihretwegen aus dem Turnier gekickt wurden. Als Laurent Blanc bei der WM 98 für Gastgeber Frankreich in der 114. Minute das entscheidende 1:0 schoss, sackten alle Spieler Paraguays wie vom Blitz getroffen zusammen. Den sonst so extrovertierten José Luis Chilavert sah man nur Sekunden nach dem Tor auf dem Boden liegen und sich vor Schmerz und Traurigkeit winden.

Glücklicherweise gehören Golden und Silver Goals seit fast zehn Jahren der Geschichte an. Ob das auch so bleibt? Mal schauen. Denn Fußball ist ein Sport, der—wenn es nach den Funktionären geht—gar nicht spannend genug sein kann. Drama sells! Wollen wir nur hoffen, dass wir niemals wieder ein zweites Saint Michael erleben müssen und Teams sehen, die bereit sind, ins eigene Tor zu schießen—und das im Namen der FIFA.