"Die ganze Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale"

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"Die ganze Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale"

Zu Besuch in einem bayerischen Dorf, in dem fast nur Obdachlose, psychisch Kranke, Menschen mit Behinderung und Flüchtlinge leben.

Der SV Herzogsägmühle ist wohl der einzige Fußballverein Deutschlands, in dem Gewinnen völlig egal ist. Für die Spieler ist es schon ein Erfolg, wenn sie überhaupt den Mut aufbringen, den Platz zu betreten. Die 20 Spieler sind entweder ehemalige Obdachlose, körperlich behindert oder haben eine kognitive oder psychische Einschränkung. Jahrelang waren sie Tabellenletzter, und das in der Kreisklasse C, der niedrigsten Liga überhaupt. Bis zum letzten Jahr, da wurden sie schlagartig besser. Denn seit 2016 spielen auch Flüchtlinge mit.

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Herzogsägmühle ist ein Dorf, in dem jene leben, die im normalen Leben als "anders" gelten und auf Hilfe angewiesen sind: seelisch oder psychisch Erkrankte, Pflegebedürftige, Obdachlose, Menschen mit Behinderung und Suchterkrankung. 900 Menschen leben in dem Ort, 700 von ihnen sind Sozialfälle. Die anderen 200 betreuen sie. Die Bewohner finden hier, am Fuß der Alpen eine Stunde südwestlich von München, Zuflucht vor der Welt außerhalb, in der sie nicht mithalten können.

Nicht mal eine Landstraße führt nach Herzogsägmühle, lediglich eine Zufahrtsstraße schlängelt sich den Berg zum Dorf hinauf. Handys haben oben nur unregelmäßig Empfang. Selbst auf dem belebtesten Platz des Dorfs vor dem Supermarkt steht gerade mal eine Handvoll Leute. Herzogsägmühle ist ein Ort der Entschleunigung, für alle, die zu langsam sind für eine Welt aus WhatsApps, Bahn-Ticket-Automaten und Online-Bewerbungen.

In Deutschland bezogen Anfang 2016 1.038.008 Menschen Grundsicherung. Sie sind bedürftige Rentner oder erwerbsgemindert. Leute mit Erwerbsminderung können aufgrund von körperlicher oder geistiger Einschränkungen dauerhaft nicht am Berufsleben teilhaben. In Herzogsägmühle erhalten sie die Chance, so viel aufzuholen, damit sie an der Gesellschaft teilhaben können, der sie sonst nur hinterherlaufen.

Für die wenigen Autos, die den Berg hochfahren, steht am Ortseingang ein Schild: "Achtung, Menschen mit Einschränkungen könnten den Weg kreuzen". Es ist überflüssig. In den Ort kommt ohnehin niemand zufällig. Alle, die hier landen, wissen, wer hier wohnt. Die Bewohner im Landkreis nennen die Herzogsägmühle nur "die Heime". Pilu nennt das Dorf einfach "Zuhause".

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Pilu sitzt am Schreibtisch, vor ihm die Fragebögen für die Führerscheinprüfung. Im Sommer will er seine theoretische Führerscheinprüfung machen – nach insgesamt einem Jahr Vorbereitung darauf. Er ist 20 Jahre alt, breites Kreuz, etwas viel Gel im Haar, Wollcardigan. In einer Cocktailbar in Hamburg würde er nicht auffallen. Pilu zog vor zweieinhalb Jahren nach Herzogsägmühle. Er lebt mit einem Flüchtling in einer Wohngemeinschaft im Dachgeschoss eines dreistöckigen Wohnhauses: schmale Fenster, gelbe Tapeten, Holzvertäfelung. An der Wand im Flur hängt ein Holzschild: "Die ganze Welt ist ein Irrenhaus und hier ist die Zentrale."

Pilu hat keinen Schulabschluss. Bereits in der Grundschule musste er eine Klasse wiederholen, in der fünften Klasse verließ er weinend den Raum. Er verstand einfach nicht, was der Lehrer erklären wollte. Außerdem leidet er an ADHS. In seiner Schulzeit lernte Pilu vor allem eines: Ich reiche nicht aus.

Seine Mitschüler nannten ihn den "dreckigen Italiener". Sie riefen: "Geh zurück in dein Land!" Da schlug Pilu zu. Einmal nahm er einen Mitschüler so in den Schwitzkasten, dass dieser kaum Luft bekam. "Er war eine Gefahr für sich selbst und andere", sagte sein Betreuer.

Pilus Eltern zogen noch vor seiner Geburt als Gastarbeiter aus Italien nach Deutschland. Der Vater ist LKW-Fahrer, die Mutter war häufig alleine zu Hause. Weil sie kaum Deutsch sprach, verstand sie nicht, was Jugendamt, Ärzte oder Lehrer ihr rieten. Die Söhne – Pilu und seinen älteren Bruder – erzog sie auf Italienisch. Pilu ist zwar in Deutschland geboren, aber trotzdem nie angekommen. Bis er nach Herzogsägmühle kam.

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Jetzt arbeitet er im Mühlenmarkt, dem dorfeigenen Supermarkt, und räumt Regale ein. Am Eingang, zwischen Kisten mit Äpfeln, Töpfen mit Schnittlauch und Paletten mit bunt bemalten Eiern, steht ein junger Mann und wiegt das Obst und Gemüse der Kunden. Auf dem ersten Arbeitsmarkt wäre er schon lange durch die automatische Waage an der Kasse ersetzt worden. Aber hier geht es nicht darum, schnell und kostengünstig zu arbeiten. Es geht darum, überhaupt zu arbeiten.

In der Wachsfabrik steht ein ehemaliger Obdachloser und steckt Dochte in die Teelichter, die vor ihm von einem Fließband in einen Kasten fallen. In der Briefmarkenfabrik soll ein Mann mit geistiger Behinderung Briefmarken für Sammler aus Umschlägen schneiden. Tatsächlich hält er die Schere bewegungslos in die Luft. Er rührt sich erst, als plötzlich zur Mittagspause alle um ihn herum aufstehen. In der Gärtnerei macht der Azubi früher Feierabend, weil er nicht mehr kann, die Sonne ist ihm zu viel. Hier herrscht kein Leistungsdruck. Dann gießt er die restlichen Pflanzen in den Gewächshäusern eben am nächsten Morgen.

Als nach der Industriellen Revolution viele Menschen arbeitslos wurden, zogen sie als Vagabunden durch Deutschland. Der Pfarrer Adolf von Kahl gründete daraufhin den "Verein für Arbeiterkolonien in Bayern" und kaufte 1894 das Land der Herzogsägmühle, um die Wohnungslosen hier unterzubringen und zu beschäftigen. Das funktionierte gut, bis die Nationalsozialisten 1936 das Dorf übernahmen. Sie glaubten, das Nicht-Sesshaftigkeit genetisch bedingt sei und operiert werden könnte – im Namen der Volksgesundheit. Wer zu dieser Zeit in der Herzogsägmühle lebte und zuvor durch einen Diebstahl oder eine Kneipenprügelei aufgefallen war, wurde nach Dachau deportiert. Heute ist von dieser Vergangenheit nichts mehr zu erahnen. Seit 1946 betreibt das Dorf die Diakonie, finanziert durch Spenden und die deutschen Steuerzahler.

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Die Gärtnerei bereitet gerade die Blumenkästen für die Balkone der Häuser vor. Die Mitarbeiter der Töpferei stellen die Kübel dazu her. Fast alles, was in der Herzogsägmühle gebraucht wird, wird selbst produziert. Die Semmeln beim Bäcker werden von Bewohnern gebacken. Das Fleisch vom Metzger stammt von der Kuh, die auf den Wiesen der Herzogsägmühle stand. Der eigens hergestellte Leberkäse ist Verkaufsschlager im Mühlenmarkt, wenn Mittagspause ist. Indem die Bewohner großteils autark leben, lernen sie, Verantwortung zu übernehmen.

Pilu hat feste Regeln, die ihm helfen, sich im Alltag zurechtzufinden. Er muss sich täglich Fragen stellen, über die sich die meisten Erwachsenen keine Gedanken machen müssen. Wann muss ich den benutzten Teller aus meinem Zimmer in die Küche tragen, damit es nicht dreckig ist? Wann darf ich mir eine Nacht mit Serien um die Ohren schlagen? Wie viele Chips darf ich essen, ohne ungesund zu leben?

In einem grünen Schnellhefter ordnet Pilu seine Wochen-Kontrollpläne. Sie zeigen ihm, worauf er im Alltag achten muss. "Pünktlichkeit", "Umgang mit Geld", "Freizeitverhalten/Sport" oder "Sauberkeit" stehen darauf. Hinter jedes Feld trägt Pilu seine Punktzahl. Er soll lernen, sich selbst einzuschätzen.

Einmal die Woche geht er mit seinem Betreuer und seinem Mitbewohner in Schongau oder Peiting einkaufen. Dort ist es billiger. Sie planen dann, was sie in einer Woche an Lebensmitteln benötigen. Einmal schlug Pilu vor, eine Pizza zu machen. Er bereitete den Teig nach italienischem Rezept zu, den Belag machten sie arabisch.

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Voraussichtlich im Sommer kann Pilu alleine nach Schongau-West ziehen und mit dem berufsvorbereitenden Jahr beginnen. Dann hat er die Möglichkeit, an der Berufsschule den Schulstoff nachzuholen, den er bei einer Ausbildung benötigen wird. 41 Ausbildungsberufe werden in der Herzogsägmühle angeboten. Pilu möchte Einzelhandelskaufmann lernen, "weil er dann mit Menschen zusammenarbeiten kann", sagt er.

Ein bisschen fürchtet sich Pilu vor dem Moment, in dem er die Herzogsägmühle verlassen wird. Hier fühlt Pilu sich sicher und akzeptiert. Was er sich wünscht? "Nichts. Ich habe hier doch alles." Im Dorf darf er Fehler machen, ohne dafür verurteilt zu werden. Und das ist, was er braucht.

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