Wie ich als Handball-Schiedsrichter quasi jedes Spiel verpfiff
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Wie ich als Handball-Schiedsrichter quasi jedes Spiel verpfiff

Unser Autor hatte als Jugendlicher den perfekten Job: Handball-Schiedsrichter auf dem Dorf. Er hatte nur eine Regel: Hauptsache es gibt keine enge Schlussphase.

Als Jugendlicher auf dem Dorf macht man Jobs, die sonst keiner machen will. Manche verdienten sich etwas Kohle als bemitleidenswerte Paketstapler im nächstgelegenen Postzentrum, andere trugen für einen Hungerlohn Werbeprospekte aus. Für semitalentierte Sportler wie mich bot der Job als Handballschiedsrichter eine einfache Einnahmequelle. Zumindest dachte ich das in meinem jugendlichen Leichtsinn. Die Bezahlung mit zehn bis 20 Euro für eine Stunde Arbeit war für einen Schülerjob echt mehr als gut. Fünf abendliche Lehrgänge im Vereinslokal des einen Nachbardorfes und einen simplen Multiplechoice-Test später war ich Handballschiedsrichter. Da Schiedsrichter auf dem Land händeringend gesucht werden, gibt es quasi auch keine Chance, nicht zu bestehen. Und so begann meine unverhoffte Karriere als Unparteiischer im Dorf-Handball.

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Es muss ein Samstagmorgen im Jahr 2006 in einer kalten Mehrzweckhalle im Osten von Sachsen gewesen sein. Hier liegt das Schiedsrichterwesen ebenso brach wie die ansässige Industrie. Zwei nervöse E-Jugend-Mannschaften in viel zu großen und schon sehr oft gewaschenen Trikots versuchen sich an der komplexen Sportart Handball. Dazwischen zwei staksige 16-Jährige in ebenso ausgewaschen Schiedsrichterhemden, die verzweifelt versuchen, Ordnung in das tobende Chaos zu bringen. Blöderweise war ich eine dieser beiden Bohnenstangen im vergilbten Gewand. Mein erstes Spiel als Jugendschiedsrichter wurde zur Belastungsprobe.

Reichlich überfordert versuchte ich mit meinem Schiedsrichterkollegen mittels der vorher ausgemachten Zeichen zu kommunizieren. Dieser jedoch musst gerade wieder einen der dickbäuchigen Trainer besänftigen, der vehement eine rote Karte für das andere Team forderte, weil er einen Ellenbogenschlag gegen seinen bislang einzigen Torschützen gesehen haben wollte. Überrascht von meinem eigenen Pfiff unterbrach ich die Partie. Kurze Absprache mit meinem Kollegen. "Er hat recht, das war Rot." "Hm, hast du eine rote Karte mit?" "Ne, zuhause vergessen." Also sprachen wir erstmal eine Zeitstrafe aus. Das besänftigte zum Glück den aufgebrachten Trainer. Eins hatten wir bei der Entscheidung nicht bedacht. Nun hatten wir die auf der Tribüne sitzenden Eltern des bestraften Teams gegen uns. "Auf Zuruf!" oder "Ey du Storch, pfeifst du alles, was man dir sagt?" waren noch die harmloseren Zurufe aus dem durch reichlich Bier und Bockwurst gestärkten Zuschauerraum. Zum Glück ging es in die Halbzeit. Für uns beide erstmal die Chance unseren unheimlichen Durst mit Wasser zu stillen. Hatten wir, so wie es sich für 16-Jährige auf dem Dorf gehört, am Vorabend doch mit reichlich Biermischgetränken und etwas Pfeffi erneut versucht, unsere Aufnahmegrenzen für Alkohol auszuloten. Sowas verträgt sich nicht mit Spielansetzungen um halb Zehn Uhr morgens. Kneifen war leider auch keine Option, brauchten wir die schmale "Aufwandsentschädigung" doch dringend für den kommenden Abend.

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"Zwei Minuten-Strafen gehen immer"; Foto: Imago

Wir waren uns einig, dass dieses Spiel ohnehin schon entschieden sei, die eine Mannschaft führte schließlich schon mit vier Toren und das bei nur noch 15 weiteren Spielminuten. Was könne da schon noch anbrennen? Ein Trugschluss. Das Spiel wurde nochmal eng. Wider Erwarten hatte der bierbäuchige Trainer die richtigen Worte an seine Truppe gefunden. Die gegnerischen Spieler wurden von ihren überengagierten und bierseligen Eltern derweil in die komplette Orientierungslosigkeit gebrüllt. Das Spiel drohte am Schluss noch zu kippen. Aber nicht mit uns. Die Angst vor der Hitzigkeit einer engen Schlussphase trieb uns an und bescherte der noch knapp führenden aber herumirrenden Mannschaft zahlreiche Pfiffe zu ihren Gunsten und am Ende den Sieg. Nach dem Spiel klopfte es an unserer Kabine und der Schiedsrichterwart trat ein. Er beglückwünschte uns zu einer gelungenen Partie, bis auf ein zwei strittige Entscheidungen wäre das sehr gut gewesen. Wir hätten uns nicht von den wütenden Eltern verrückt machen lassen und zu Beginn mit dem Nichtgeben der roten Karte außerordentliches Fingerspitzengefühl bewiesen. Da waren wir mal so richtig zufrieden mit uns.

Noch ein "Unparteiischer": Bekenntnisse eines Kreisliga-Schiedsrichters

In den folgenden Wochen und Monaten hat mich mein Dasein als Handball-Schiedsrichter einiges gelehrt. Zum Beispiel den diplomatischen Opportunismus, den es braucht, den Altherren-Grabenkampf der zweiten Mannschaft des einen Dorfes gegen die dritte Mannschaft des Nachbardorfes in der untersten Liga zu überstehen, ohne von der Abwehrkante mit der auf der Wade tätowierten Reichskriegsflagge aus der Halle geprügelt zu werden. Mit den dort erworbenen Fähigkeiten hätte ich sicherlich später einen Job bei den Vereinten Nationen anstreben können.

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Die Konzentrationsfähigkeit wird ebenso geschult. Oder versucht ihr mal, euch vom Schiedsrichterwart direkt von der Dorfdisco abholen zu lassen und ein turbulentes C-Jugendspiel zu pfeifen. Es erfordert schon eine immense Körperbeherrschung, einerseits 14 umherschwirrenden Jugendlichen die Handballregeln beizubringen und andererseits selbst einigermaßen gerade zu stehen. Die Angst, die Trainer oder andere Eltern könnten meine suboptimale körperliche Verfassung mitbekommen, war allerdings unbegründet. Die Betreuer hatten es nämlich selbst am Vorabend ordentlich krachen lassen.

Nicht mit dem Boss! Foto: Imago

Doch ich konnte mich nicht immer auf mein Gefühl verlassen. Einmal habe ich es in einer gut gefüllten Halle geschafft, mich beim Rückwärtslaufen so auf die Fresse zu legen, dass mir die Trillerpfeife und meine gelbe Karte aus der Brusttasche fiel. Wenn ich versucht hatte, mir mit meinem Auftreten etwas Autorität zu verschaffen, war diese spätestens jetzt dahin. Daran änderte auch meine spontan eingefügte (aber missglückte) Rückwärtsrolle nichts, um der Sache noch etwas Eleganz zu verleihen.

Dazu bekommt man als Schiedsrichter ein völlig neues Zeitgefühl. Es liegt wohl daran, dass unangenehme Sachen einem sowieso länger vorkommen, als sie eigentlich sind. Jugendspiele dauern je nach Altersklasse 30 bis 50 Minuten. Nun hat sich im Handball eingebürgert, bei diversen Spielunterbrechungen, Fouls, Siebenmetern oft die Zeit anzuhalten. Doch nicht mit mir. Gnadenlos lies ich die Zeit laufen, auch wenn sich einer eine Minute die Schuhe zumachen musste, was bei Nachwuchsspielen durchaus vorkam.

Alles das sind kleinere und größere Beispiele, für meine nicht immer ganz faire oder regeltechnisch einwandfreie Schiedsrichterleistung. Aber warum habe ich das gemacht? Die Gründe sind zahlreich, manchmal gab ich für die eine Mannschaft eben mehr Freiwürfe, weil der gegnerische Trainer ein Vollidiot war, der mir etwas von „schneller Mitte" erklären wollte, selbst aber keinen Handball von einer Apfelsine unterscheiden konnte. Dann pfiff ich auch oft aus Mitleid für kleinere Spieler, die zwar erkennbar talentiert waren, allerdings aus Personalmangel schon eine Jugend höher mitspielen mussten. Damit hatte ich dann wenigstens die Muttis auf der Tribüne auf meiner Seite. Den Großteil meiner Entscheidungen traf ich allerdings aus einer diffusen Mischung aus Konfliktvermeidung, Unkenntnis und meinem vom Wodka E schmerzenden Kopf.

Aus heutiger Sicht war es keine schöne, aber eine lehrreiche Zeit und heute bin ich meinem Kumpel, der mich damals dort reingequatscht hat, sogar dankbar für diese Erfahrung.

Also wenn ihr das nächste Mal bei einem Jugendspiel auf den Nachwuchsschiri meckert, habt ein Nachsehen, denn er ist vielleicht auch nur ein unsicherer Teenager, der irgendwie in die Sache reingerutscht ist.

Betrogene Ex-D-Jugendspieler (und Muttis!) können ihre Beschwerden an unseren Autor auf Twitter richten: @SoEinAlbrecht