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Kriminalität

Der Obdachlosen-Anzünder wollte nur einen "Streich" spielen

In Flüchtlingslagern sei das ein beliebter Scherz gewesen, sagt der 21-jähriger Asylbewerber aus Syrien bei der Verhandlung in Berlin.
Foto: imago | Olaf Selchow

"Ich weiß, dass das jetzt unangebracht klingt, aber dem Zeugen sollte eigentlich nur ein Streich gespielt werden", ließ Nour N. seinen Anwalt am Freitag vor Gericht vorlesen. "Ich wollte ihn mit dem Feuer nur aus dem Schlaf aufschrecken. Zu keinem Zeitpunkt habe ich gedacht, dass er dadurch ernsthaft zu Schaden kommen könnte."

Mit Nour N.s Aussage begann am Freitag der zweite Verhandlungstag im Prozess gegen sieben jugendliche Asylbewerber, die an Heiligabend 2016 in einer Berliner U-Bahn-Station einen schlafenden Obdachlosen angezündet haben sollen. Die Tat hatte damals bundesweit für Entsetzen gesorgt und eine Debatte über Gewalt durch junge Geflüchtete ausgelöst, denn bis auf einen Libyer stammen alle Verdächtigen aus Syrien. Sechs der sieben Täter sind jetzt wegen versuchten Mordes angeklagt.

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Nour N., mit 21 der älteste der Gruppe, ist der Hauptangeklagte: Er soll ein brennendes Taschentuch neben den Kopf des Obdachlosen geworfen haben, das dann eine Plastiktüte und den Rucksack des Mannes in Brand setzte – während der noch schlief. Die Täter seien sofort abgehauen und hätten dadurch "billigend in Kauf" genommen, dass der Mann "qualvoll hätte verbrennen können", sagt die Staatsanwaltschaft.


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An den Fakten des Falles bestehen kaum Zweifel, da zwei Videokameras der BVG die gesamte Tat in der U-Bahn-Station Schönleinstraße aufgezeichnet haben. Es ist eindeutig zu erkennen, wie Nour N. das brennende Taschentuch wirft und sich die Gruppe davonmacht. Aber das Problem in diesem Fall sind auch nicht die Fakten – sondern wie man sie interpretiert. Das Gericht muss letztlich entscheiden, was während der Tat in den Köpfen der jungen Männer vorging. Wollten sie, dass der Mann stirbt? War es ihnen egal? Oder wollten sie ihm nur einen Schreck einjagen?

Nour N. bestreitet, dass es sich um einen Mordversuch gehandelt habe: Das ganze sollte nur ein harmloser Scherz sein. In den Flüchtlingslagern in der Türkei, in denen er einige Zeit verbracht habe, sei das ein bei Jugendlichen beliebter Zeitvertreib gewesen: Man erhitzte kleine Plastikkügelchen, um sie Schlafenden zwischen die Zehen zu stecken und sie so "aufzuschrecken".

Zu Beginn seiner Aussage hatte Nour gestanden, vor der Tat Alkohol und Ecstasy konsumiert zu haben. Nachdem er das Taschentuch geworfen hatte, habe er sich schnell entfernt und gar nicht bemerkt, dass neben dem Mann ein richtiges Feuer ausgebrochen war. Er habe nie beabsichtigt, dass der Obdachlose wirklich zu Schaden komme. "Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht, aber so verroht bin ich nicht", liest der Anwalt Nours Aussage vor. "Trotzdem war es ein unverzeihlicher Fehler."

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Nach der Aussage Nour N.s verlesen nacheinander auch die Anwälte der Mitangeklagten Mohammad M., Khaled A., Ayman S. und Mohammad Al-J. die Aussagen ihrer Mandanten. Alle sind sich einig, dass Nour N. der einzige gewesen sei, der überhaupt Interesse an dem Obdachlosen hatte. Die Stimmung sei friedlich gewesen, lediglich Nour habe "nervös und aufgekratzt" gewirkt, sagte Mohammad M. aus. "Ich vermutete, dass er Alkohol oder Drogen genommen hatte, weil er so unruhig auf und ab lief." Khalid A. wiederum sagt aus, Nour wirkte "betrunken – und als wenn er einen seelischen Knacks hatte". Alle vier behaupten, mit der eigentlichen Tat nichts zu tun gehabt zu haben – und beteuern, nicht bemerkt zu haben, dass ein Feuer ausgebrochen war. Und alle bedauern angeblich, abgehauen zu sein, ohne nach dem Mann gesehen zu haben.

Die jungen Männer konnten wahrscheinlich tatsächlich nicht mehr sehen, wie die Flammen vom Taschentuch auf die Plastiktüte und dann den Rucksack unter dem Kopf des Mannes übersprangen und immer heller loderten. Zu seinem Glück fuhr knapp zwei Minuten später die U-Bahn ein, aussteigende Fahrgäste und der U-Bahn-Fahrer bemerkten das Feuer und löschten es, bevor es den schlafenden Mann verletzen konnte.

Erst als sie den U-Bahn-Fahrer mit einem Feuerlöscher hantieren sahen, wurde ihnen bewusst, in welche Gefahr sie den Mann gebracht hatten, darin sind sich die Angeklagten einig. "Ich war sehr erleichtert, als ich sah, dass es dem Mann gut ging", gibt Muhammad M. an. Am nächsten Tag sahen sie die Fahndungsplakate.

"Mir ist bekannt, welch verheerendes Bild das auf andere Flüchtlinge in Deutschland wirft", schließt Nour N. seine Aussage. "Ich schäme mich wirklich sehr."

Bis zum Urteil sind noch sechs Verhandlungstage angesetzt. Am Ende wird das Gericht entscheiden müssen, wie es die Tat der Jugendlichen wertet: als sadistischen Streich – oder als Mordversuch an einem wehrlosen Opfer.

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