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Wie MMA die moderne Hooliganszene dominiert

Statt Lucky-Punches in der Kneipe auszutauschen, haben russische Hooligans dem Alkoholismus abgeschworen und trainieren auf der Matte. Und: Das Asoziale nimmt psychopathische Züge an.

Geil auf Gewalt: Unter Hooligans von Bill Buford ist ein sehr unterbewertetes Buch – vor allem, wenn du Probleme hast, dir deine eigene Faszination für regelfreie Gewalt zu erklären. Das 1992 erschiene Werk ist eine Odyssee durch die ultrabrutale, nationalistische und alkoholgeschwängerte Welt britischer Hooligans der 80er – der zweifelhaften Hochphase der Szene. Durch die Nähe des Autors zu erwachsenen, gar nicht mal so schlecht situierten Männern, die ihre Freizeit damit verbringen, ihren Vereinen durch Europa nachzureisen, nur um sich mit Menschen zu prügeln, die andere Clubs mögen, wirft sein Buch einen subjektiven Blick auf den Anreiz solcher Massengewalt. Es ist schon ein Weilchen her, dass ich Geil auf Gewalt gelesen habe, aber ich erinnere mich sehr gut an fette Suffköppe, die durch die Straßen fremder Städte marodieren und Schlägereien mit allem und jedem anzetteln; an apolitische Politik, die manchmal in ausgewachsenem Rassismus eskaliert; an den lustigsten Erfahrungsbericht darüber, von der Polizei zusammengeschlagen zu werden, den ich je gelesen habe, und ich erinnere mich an einen Autor, der in die tiefe Leere solcher Massengewalt blickt und aufschreibt, was er dort sieht.

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Hooliganismus ist Kämpfen aus dem nichtigsten aller Anlässe: Anhänger von verschiedener Vereine prügeln sich, weil sie … andere Vereine unterstützen. Es gibt keine geopolitischen Gewinne oder Verluste, keine Fragen der Ehre oder gar Noblesse und weder technische Finesse, noch Kompensation eines Preiskampfes. Es ist Prügeln zum stumpfen Selbstzweck. Einst galten die Briten als Goldstandard für die hässliche Seite des schönen Sports, aber mittlerweile dürften russische Hooligans diese zweifelhafte Ehre für sich reklamieren.

Die New York Times veröffentlichte letztes Wochenende einen ausführlichen Artikel über russische Hooligans, die sich spätestens bei der Europameisterschaft 2016 einen Namen machten, als sie mit GoPros bewaffnet durch Frankreichs Straßen zogen und ihre bierseligen englischen Gegenspieler aufmischten. Anstatt sturzbetrunken loszuziehen und im Vollrausch blind drauflos zu prügeln, trainiert der moderne russische Hooligan fleißig Boxen, Ringen, Muay Thai, Mixed Martial Arts – und meidet Alkohol.

Laut der Times gibt es eine Art Ehrenkodex: ein Faustkampf ist männlicher, Waffen verboten, kein Eintreten/Herumspringen auf Köpfen, keine Angriffe auf Unbeteiligte und wenn der andere "Stop" sagt, hört man auf. Da die russische Polizei im Vorfeld des diesjährigen Confed-Cups und der Weltmeisterschaft 2018 verstärkt gegen die Szene vorgeht, müssen sich die dortigen Crews jetzt heimlich mit denen rivalisierender Clubs verabreden, um mit MMA-Handschuhen zu Dutzenden im Wald die Scheiße aus sich herauszuprügeln.

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Dass MMA und diverse Komponenten des Kampfsports Teil der Kleinkriege auf den Tribünen werden ist ein recht neues Phänomen. Neu ist es aber nicht, dass trainierte Kämpfer ihre Techniken zu spontanen Schlägereien bringen. Typen mit Schwarzem Gürtel in Brazilian Jiu-Jitsu kontrollieren die Surf-Line-Ups auf Hawaii und vermöbeln einfach unbekannte Gesichter. Vor zwei Jahren verpasste ein Rugbyspieler seinem Gegner einen MMA-reifen Aufgabegriff. Die Dynamik kann aber auch in die andere Richtung gehen: Der polnische Fußballhooligan Artur Szpilka schaffte es zu einem 20-2 Boxer und kämpfte letztes Jahr gegen Deontay Wilder um den WBC-Weltmeistertitel im Schwergewicht. Einige haben tatsächlich versucht, ihre gewalttätigen Impulse in geordnete Bahnen zu leiten. Ein russischer Politiker machte sogar den Vorschlag, Hooliganschlägereien zu einer eigenen Sportart zu machen, und im Februar organisierte der russische Veranstalter M-1 Global einen MMA-Kampf zwischen Hooligans rivalisierender Vereine. Und viele erinnern noch an die Team Fighting Championship, in dem Hooligan-Gruppen bei einem professionell durchkonzipierten Kampf-Turnier gegeneinander antreten.

Das alles macht die Intention hinter solchen Massenprügeleien nicht besser. In der Regel sind Kämpfe bei und im Umfeld von Fußballspielen schlicht hohl. Das Ganze mag vielleicht noch irgendwie nachvollziehbar sein, wenn man besoffen und einen torlosen Grottenkick verfolgt. Vielleicht sind die Schläge auch weniger schädlich, wenn man nicht wirklich weiß, was man gerade tut. Wenn man aber stocknüchtern ist und die letzten Monate jede freie Minute damit verbracht hat, sich auf Matten zu wälzen und gegen Trainingspads zu schlagen, damit man andere Hooligans vermöbeln kann, dann kann von Spontanität bei solchen Gewaltausbrüchen keine Rede sein und die Kämpfe werden zu etwas anderem. Das Asoziale nimmt psychopathische Züge an und selbst auferlegte Verbote, wie keine Köpfe einzutreten, bleiben am Ende ohne Gewähr. Diese Entwicklung war am Deutlichsten bei den Kämpfen von Marseille, als 150 russische Hooligans (Killer-Maschinen) den bierbäuchigen Engländer Angst und Schrecken lehrten und einen Fan ins Koma prügelten.

Klar, moralisch befinden wir uns hier längst im Dunkelgraubereich. Und nein, neu ist das alles nicht: Die Ursprünge des Hooliganismus reichen zurück bis in die 1930er. Niemand verschwendet ernsthaft irgendwelche Gedanken daran, wie Hooligans bessere Vorbilder sein oder eine sponsorenfreundliches Außenbild kultivieren könnten – das Wichtigste ist immer noch, Unbeteiligte aus der Schusslinie zu halten. Wenn du dich so dringend mit deinen Kumpels im Namen einer Gruppe wemmsen musst, dass du dafür extra in ein abgelegenes Waldstück fährst, wo gleichgesinnte auf dich warten, dann ergibt es vielleicht auch Sinn, dafür ins Fitnessstudio zu gehen. Mir egal. Das Wichtigste bleibt weiterhin: Es dürfen keine Unbeteiligten zu Schaden kommen.

Der Artikel erschien ursprünglich bei Fightland.