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Fußball-WM 2018

Die Geschichte eines Eigentors, das in einem Mord endete

Bei der Fußball-WM 1994 machte der Kolumbianer Andrés Escobar einen Fehler, durch den sein Team ausschied. Aber dieser Fehler hatte noch viel drastischere Konsequenzen.
Andrés Escobar (links) während eines Vorbereitungsspiels gegen Schweden | Foto: Allstar Picture Library / Alamy Stock Photo (bearbeitet)

Wir wissen mittlerweile, zu was der Druck im modernen Fußball führen kann, wir kennen die Geschichten von Spielern, die sich vor wichtigen Spielen die Seele aus dem Leib kotzen oder an Depressionen erkranken. Aber schon im Jahr 1994 erreichte dieses Phänomen einen traurigen Höhepunkt, den viele mittlerweile vergessen haben.

Damals fand die Fußball-WM in den USA statt. Geheimfavorit Kolumbien hatte zum Turnierstart mit besonderen Umständen zu kämpfen: Zwar war der berüchtigt-brutale Kokain-Kingpin Pablo Escobar bereits seit sechs Monaten tot, aber die Regierung und die Drogenkartelle bekriegten sich weiter. Der Einfluss der mächtigen, reichen Drogenkartelle reichte bis in die kolumbianische Fußballwelt. Viele Narco-Bosse wetteten auf den Turniererfolg ihres Teams. Der Druck auf die Spieler war immens, ein Scheitern würde viele Menschen verärgern, die man besser nicht verärgern sollte.

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Andrés Escobar bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1994 in den USA

Andrés Escobar bei der Fußball-WM 1994 | Foto: Allstar Picture Library / Alamy Stock Photo

Von den 26 Spielen vor der WM 94 verlor Kolumbien nur ein einziges. Während der gesamten Qualifikation musste das Team nur zwei Gegentore hinnehmen und im letzten Quali-Spiel fegte es die stargespickte Mannschaft Argentiniens in Buenos Aires mit einem überzeugenden 5:0 vom Platz. Die kolumbianischen Spieler agierten als geschlossene Einheit, angeführt von Kapitän Andrés Escobar. Mit dem Drogenbaron teilte er sich den Nachnamen, hatte ansonsten aber nichts mit ihm zu tun. Neben dem Fußball waren ihm nur Gott, seine Familie und Frieden in seiner Heimat wichtig.

"Es fällt mir schwer, fokussiert zu bleiben. Was mich aber motiviert, sind die schönen Dinge, die vor uns liegen", sagte der damals 27-Jährige vor der Weltmeisterschaft. "Ich versuche, jeden Tag ein bisschen in der Bibel zu lesen. Meine Lesezeichen sind zwei Fotos, eins von meiner verstorbenen Mutter und eins von meiner Verlobten." Seine Freunde und Verwandten beschreiben Escobar als einen Mann, der fest davon überzeugt war, dass Fußball Kolumbien retten konnte.


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Michael Zimbalist hat mit seinem Bruder die Dokumentation The Two Escobars produziert, in der es um die miteinander verknüpften Schicksale der beiden Männer geht. "Die kolumbianische Nationalmannschaft versuchte damals wie heute, etwas gegen den miesen Ruf Kolumbiens zu tun", sagt er. Nirgendwo habe er Menschen kennengelernt, die so darum bemüht sind, das Image ihres Landes zum Positiven zu verändern. So wie es Andrés Escobar versucht hat. Und bereits in der Gruppenphase der Fußball-Weltmeisterschaft 1994 scheiterte.

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Hohe Erwartungen, tiefer Fall

Das erste Spiel hatte das kolumbianische Team 3:1 gegen Rumänien überraschend verloren und stand damit im zweiten Gruppenspiel gegen die USA bereits mit dem Rücken zur Wand. Der Druck auf die Mannschaft war immens. Und dann passierte es: In der 34. Minute fälschte Andrés Escobar einen Querpass unhaltbar ins eigene Netz ab. Zu Hause in Medellín sah sein neunjähriger Neffe mit dessen Mutter, Andrés’ Schwester, das Eigentor im Fernsehen. "In diesem Moment sagte er, dass sie Andrés umbringen würden", erzählt sie in The Two Escobars. Sie habe geantwortet: “Nein, mein Schatz. Leute werden nicht wegen solcher Fehler getötet. Alle Kolumbianer lieben Andrés." Leider führte dieser Fehler zur 2:1-Niederlage und auch der 2:0-Sieg im letzten Gruppenspiel half nicht mehr. Die hochgelobte kolumbianische Nationalmannschaft musste den Heimweg antreten.

Zuhause war für die Spieler allerdings der letzte Ort, an dem sie nun sein wollten. Bereits die erste Niederlage gegen Rumänien hatte eine Menge Kolumbianer verärgert – vor allem, weil viele Geld auf einen Sieg ihrer Mannschaft gewettet hatten. Schon nach dem ersten Spiel waren die ersten Morddrohungen aufgetaucht. "Der Druck war unglaublich hoch. Solche Morddrohungen waren nicht nur heiße Luft", sagt Zimbalist. "In Kolumbien wurden damals wirklich viele Menschen umgebracht." Wenn das Leben der eigenen Familie auf dem Spiel steht, dann fällt es natürlich nicht gerade leichter, die Weltmeisterschaft für ein gebeuteltes Land zu gewinnen, das sich nach Stolz, Freude und Erleichterung sehnt.

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Zehn Tage nach seinem Eigentor verließ Escobar zum ersten Mal wieder sein Haus in Medellín – trotz der Warnungen seines Trainers und seiner Mitspieler.

Trotz seiner tragischen Rolle beim Ausscheiden seines Teams wollte Andrés Escobar sein Leben nicht von den gefährlichen Umständen in seiner Heimat bestimmen lassen. Er veröffentlichte in der größten kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo einen offenen Brief, in dem er seine Landsleute dazu aufrief, sich gegen die Wut und die Gewalt zu vereinen: "Das Leben ist nicht vorbei. Wir müssen jetzt weitermachen und wieder aufstehen, ganz egal, wie schwer das auch sein mag." Zehn Tage nach seinem Eigentor gegen die USA verließ Escobar zum ersten Mal wieder sein Haus in Medellín, um mit Freunden etwas trinken zu gehen – trotz der Warnungen seines Trainers und seiner Mitspieler.

Irgendwann im Laufe des Abends verfolgten vier Männer Escobar von der Bar hinaus auf den Parkplatz und beschimpften ihn als "Schwuchtel". Er fuhr daraufhin mit seinem Auto zu den Männern rüber, versuchte, ihnen zu erklären, dass sein Eigentor keine Absicht gewesen sei, und rief sie zur Besonnenheit auf. Daraufhin zog einer der Unbekannten eine Waffe und schoss. Er feuerte sechs Kugeln ab. Escobar sackte auf dem Fahrersitz zusammen. Sanitäter versuchten noch, den Fußballspieler wiederzubeleben, aber sie kamen zu spät. Andrés Escobar starb am 2. Juli 1994.

Fans halten eine Flagge zu Ehren Andrés Escobars hoch

Fußballfans trauern um den ermordeten Spieler | Foto: Allstar Picture Library / Alamy Stock Photo

"Natürlich bekamen wir das damals mit", sagt Terry Phelan, der bei der WM 94 für das irische Team auflief. "Muss wirklich jemand wegen eines Eigentors sein Leben verlieren?" Phelan erinnert sich daran, dass er vor einigen Jahren mit dem ehemaligen kolumbianischen Nationalspieler Carlos Valderrama über den Mord redete und der dabei in Tränen ausbrach: "Er sagte, dass das alles immer noch zu sehr weh tue. Da fragt man sich einfach nur: 'Warum?'."

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Die Frage nach dem Warum ist bis heute nicht geklärt – und das wird sie womöglich nie sein. Damals gingen viele Leute davon aus, dass verlorene Wetten das Motiv für den Mord waren. Dank Augenzeugen konnte die Polizei herausfinden, dass das Fahrzeug, in dem die Täter vom Tatort flohen, auf Pedro und Juan Gallón zugelassen war – zwei drogenschmuggelnde Brüder, die zuerst für Pablo Escobar arbeiteten und dann zum Los-Pepes-Kartell wechselten. Den Gallón-Brüdern konnte man damals allerdings nichts anhaben, denn einer ihrer Bodyguards, Humberto Castro Muñoz, gestand den Mord und wurde zu einer 43-jährigen Haftstrafe verurteilt. Nach elf Jahren kam er 2005 wegen guter Führung vorzeitig frei.

Die schwierige Suche nach der Wahrheit

Einer von Pablo Escobars ehemaligen Auftragsmördern, Jhon Jairo Velásquez Vásquez, hat jedoch von Anfang an behauptet, dass die Gallón-Brüder mit Hilfe von Schmiergeldern davongekommen seien. So sollen sie drei Millionen Dollar an die richtigen Leute im Justizsystem gezahlt haben, damit ihr Bodyguard für die Tat verurteilt wird. Allerdings gibt sich Vásquez davon überzeugt, dass verlorene Wettgelder nicht das Mordmotiv gewesen seien: "Andrés hat den Fehler gemacht, den Typen zu widersprechen", sagte er einst in einem Interview. "Die Egos der Gallón-Brüder waren nach dem Ableben ihres Rivalen Pablo Escobar so aufgeblasen, dass sie keine Widerworte duldeten – nicht mal vom Kapitän der kolumbianischen Fußballmannschaft."

Vielleicht ist es aber gar nicht so wichtig, herauszufinden, was damals wirklich passiert ist. Denn vielleicht wäre es für Andrés Escobar gar keine Genugtuung, wenn sein wahrer Mörder hinter Gittern sitzen würde. Ihm wäre es ihm wahrscheinlich wichtiger, dass sein geliebtes Heimatland nicht mehr unter dem Drogenkrieg leidet, der schon so viele Leben ruiniert hat.

"Eigentlich wollten wir einen Film über den Mord an Andrés Escobar drehen, aber das Endergebnis ist nun ein Porträt des gesamtes Landes. Ich glaube, darum geht es inzwischen auch beim Leben und Tod des Fußballspielers: um etwas viel Größeres als die Frage danach, wer den Abzug gedrückt hat", sagt Zimbalist. "In sehr dunklen Zeiten war Andrés ein Hoffnungsschimmer. Deswegen erschütterte der Mord an ihm auch ganz Kolumbien." Der Filmemacher sei sich nicht sicher, ob es in diesem Mordfall jemals einen emotionalen Abschluss geben wird, weil die Tragödie einfach einen so großen Einfluss auf Escobars Mitspieler, auf seine Freunde, auf seine Familie und auf das ganze Land hatte. Dennoch sagt er: "Ich glaube, wenn sich Kolumbien in eine positive, neue Richtung entwickelt, dann hätte André sein Ziel erreicht."

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