Das älteste deutsche Meme ist von 1919 – und hat den Nazis den Weg geebnet
Alle Fotos: Bundesarchiv | Wilhelm Steffen

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Popkultur

Das älteste deutsche Meme ist von 1919 – und hat den Nazis den Weg geebnet

Wie eine harmlose Badehose die Weimarer Republik zerlegt hat.

Wir alle lieben Memes. Aber spätestens seit Donald Trump wissen wir, dass Memes auch gefährlich sein können. Was die Wenigsten allerdings wissen: Memes haben sich nicht (wie zum Beispiel Anakin Skywalker) aus unschuldigen Anfängen erst langsam zu etwas Gefährlichem entwickelt – ganz im Gegenteil. Memes waren von Anfang an böse, und Memes haben schon immer auch die Arbeit für Nazis gemacht.

Glaubt ihr nicht? Dann erzittert! Denn hier ist es: das älteste Meme Deutschlands, vielleicht sogar der Welt!

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Eine Postkarte von 1919, die Reichspräsident Friedrich Ebert und den Reichswehrminister Gustav Noske am Strand zeigt.

Eine Postkarte, die 1919 von der rechtskonservativen Deutschen Tageszeitung in Umlauf gebracht wurde. Darauf zu sehen: oben Kaiser Wilhelm II., unten der Generalfeldmarschall Hindenburg, dazwischen ein Foto vom Reichswehrminister Gustav Noske und Friedrich Ebert, dem ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, in Badehosen.

Wie es zu dem Bild kam, wie es dann weiterverbreitet wurde und was es angerichtet hat, macht dieses Bild nicht nur zum ersten, sondern vielleicht sogar zum immer noch mächtigsten und zerstörerischsten Meme aller Zeiten – zumindest solange Donald Trump noch keinen Nuklear-Krieg ausgelöst hat.

Was ist ein Meme?

Zuerst ein kurzer (wirklich sehr kurzer) Ausflug in die Meme-Theorie: Das Wort erfunden hat der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, der damit jede Art von Idee bezeichnete, die sich von Mensch zu Mensch fortpflanzt. Das war zwar schon 1976, interessierte damals aber so gut wie niemanden außer absolute Nerds (was das Wort "Meme" praktisch fast selbst zum Anti-Meme gemacht hätte). Richtig eingeschlagen ist das Konzept erst, als man plötzlich ein cooles Wort für virale Internetphänomene brauchte.


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Eine der besten Definitionen, die ich gefunden habe, besagt, dass ein echtes Meme vier Eigenschaften haben muss:

Botschaft (das Meme muss eine zentrale Aussage haben), Evolution (das Meme muss sich verändern können), Formbarkeit (es muss sich für Veränderungen anbieten) und Effekt (es muss viele Menschen erreichen und etwas auslösen).

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Wie wir jetzt sehen werden, erfüllt die Postkarte von 1919 alle vier Bedingungen.

Wo kommt das Bild her?

Das Bild entstand am 16. Juli 1919, in einem der turbulentesten und traumatischsten Jahre der deutschen Geschichte überhaupt: Deutschland hatte im Jahr davor erst den Ersten Weltkrieg und kurz darauf seinen Kaiser verloren. Zum Jahreswechsel war der frisch ernannte sozialdemokratische Reichskanzler Friedrich Ebert damit beschäftigt, blutig Aufstände von Anarchisten niederzuschlagen, und im Sommer musste er den Versailler Vertrag unterschreiben, in dem Deutschland die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg auf sich nehmen musste. Kurz gesagt: ein holpriger Start für die neue deutsche Republik und Friedrich Ebert, der im Januar zum ihrem ersten Reichspräsidenten gewählt worden war.

Um mal ein bisschen Entspannung in die Sache zu bringen und sich dem Volk vorzustellen, unternahm Ebert im Juli eine Reise durch Deutschland, auf der er ein Kindererholungsheim in Hamburg besuchte. Dort ging er mit seinem Reichswehrminister Gustav Noske und ein paar anderen Leuten kurz baden, und als ein Fotograf fragte, ob er ein Foto machen dürfe, sagten die Männer ja. Dazu muss man wissen: Die Politiker damals hatten noch keine Ahnung, wie viel Macht Fotos durch die neuen Massenmedien entfalten konnten. Entstanden ist dieses Bild:

Ein Foto von 1919, das Reichspräsident Friedrich Ebert und den Reichswehrminister Gustav Noske am Strand zeigt.

Irgendwie bekam das allerdings jemand von der Deutschen Volkszeitung in die Hände. Die Zeitung konnte Ebert, das ganze Sozialistenpack und die blöde neue Republik nicht leiden und druckte das Foto am 9. August zusammen mit einer spöttischen Beschreibung: Die Politiker, hieß es, "stellten der Welt ihre ganze Mannesschönheit zur Schau". Das bekam zwar kaum jemand mit, ist aber der Ursprung, die Initialzündung des Memes.

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Das Meme ist nicht mehr aufzuhalten

Wirklich brutal wurde es erst kurz danach: Die enorm auflagenstarke Berliner Illustrirte Zeitung besorgte sich das Foto, vergrößerte nur den Ausschnitt, der Ebert und Noske (und den Typen mit dem Dreizack) zeigte, und knallte das Ding auf die Titelseite. Und zwar am 21. August – genau dem Tag, an dem Ebert als Reichspräsident auf die neue Reichsverfassung vereidigt wurde.

Eine Zeitung von 1919, die Reichspräsident Friedrich Ebert und den Reichswehrminister Gustav Noske am Strand zeigt.

Das bedeutete, dass viele Deutsche, die das Gesicht ihres neuen Präsidenten noch nie gesehen hatten, ihn nun zum allerersten Mal sahen – in Badehose, mit Kugelbauch und leichten Moobs. Das war damals, als auch viele Männer noch Badeanzüge trugen, ein ziemlich ungewohnter Anblick für die Bürger und sollte Ebert noch auf Jahre schaden. (Heute ist das anders. Nur einer der Gründe, warum die Aufregung um Gaulands Badehosen-Foto so albern ist.)

Das Tragische daran ist, dass die Leute von der Berliner Illustrierten gar nichts Spezielles gegen Ebert und die neue Republik hatten – sie fanden die Titelseite einfach nur wahnsinnig witzig. Später sollte der Chefredakteur sich dafür bei Ebert entschuldigen, aber da war die Katze schon aus dem Sack. Das Meme hatte sich weiterenwickelt (die Evolution), und alle politischen Gegner Eberts, und davon hatte er viele, hatten nun das perfekte Bild, um den Reichspräsidenten lächerlich zu machen.

Und die schlugen zu: Nachdem das Bild von Ebert beim Baden also landesweit bekannt war, legte die Deutsche Tageszeitung nach und erschuf die Postkarte – das erste Meme, das schon alles hatte: ein bekanntes Bild, das in einen anderen Kontext gesetzt wird und einen kurzen, aber fiesen Text.

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Das Meme wird zum Virus, der die Republik zersetzt

Und das Meme wirkte: "Damit wurden die einfachen Gemüter angesprochen", schreibt der Historiker Walter Mühlhausen in seiner Abhandlung über die Episode, "um zu zeigen, was eigentlich aus diesem herrlichen Kaiserreich geworden ist: eine Republik, die sich selbst entblößt".

Die Badehose sollte Ebert nie mehr loslassen. Der Sozialdemokrat versuchte zwar, sich mit Dutzenden Beleidigungsklagen gegen die Veröffentlichungen zu wehren, das Badehosen-Bild aber war nicht aufzuhalten. In den folgenden Jahren entwickelte es sich zum Lieblingssymbol aller, die die Weimarer Republik hassten – von ganz links bis ganz rechts, aber meistens rechts. Das Bild des Präsidenten in Badehose wurde immer wieder nachgedruckt, in Dutzenden Cartoons, Karikaturen und Spottliedern aufgegriffen (womit das Meme die Bedingung der "Formbarkeit" erfüllt) und "schließlich zu einer Ikone der republikfeindlichen Polemik" (Wikipedia).

"Als Ebert in den folgenden Monaten durch die Lande reiste, um sich seinem Volk vorzustellen, war die Badehose oft schon da, meist in rot, zur besseren Kenntlichkeit", schreibt der Autor Ulli Kulke in einem Artikel über die Episode:

"Hier hing sie an einem Fahnenmast auf dem Platz, wo er eine Rede hielt, da schwang irgendein monarchistischer Korps-Student im Publikum die 'Büx' über seinen Kopf. Das Bekleidungsstück war der Wimpel der Bewegung 'Wir wollen unsern Kaiser Wilhelm wiederhaben'."

Und der Effekt? Zu behaupten, das Bild von Ebert in der Badehose allein hätte die Weimarer Republik zu Fall und die Nazis an die Macht gebracht, geht vielleicht zu weit. Aber es zementierte gleich zu Anfang der Republik das Bild von den schwachen, lächerlichen demokratischen Politikern und ihrer schwachen, lächerlichen Demokratie. Und das, obwohl die beiden Männer auf dem Foto gerade mit enormer Brutalität die Aufstände von Anarchisten und linken Revolutionären niedergeschlagen hatten, um ihre Republik durchzusetzen. Gegen das Bild konnten die Fakten sich aber nie durchsetzen.

Hitler lernte daraus: Er ließ sich nie in Badehose fotografieren.

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