Nein, Gauland hat keine Hitler-Rede abgeschrieben
Foto Gauland: imago | Gutschalk; Foto Hitler: imago | United Archives International 

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AfD

Nein, Gauland hat keine Hitler-Rede abgeschrieben

Sondern eine ziemlich weit verbreitete Theorie vom "neuen Klassenkampf".

Diesmal haben sie ihn aber wirklich erwischt: Alexander Gauland hat bei Hitler abgeschrieben! Zuerst haben es Leute auf Twitter entdeckt, jetzt haben es zwei Historiker bestätigt: Gaulands Gastbeitrag in der FAZ vom Samstag klingt so sehr nach einer Rede von Hitler, dass sie eigentlich nur abgeschrieben sein kann.

Aber stimmt das wirklich?

Es geht vor allem um diese Passage im Text vom AfD-Chef:

"Diese globalisierte Klasse … Ihre Mitglieder leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen fließend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ziehen, finden sie überall ähnliche Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen. Dieses Milieu bleibt sozial unter sich, ist aber kulturell 'bunt'."

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Die Historiker meinen, das klinge verdächtig nach einer eher unbekannten Rede, die Adolf Hitler im November 1933 vor Siemens-Arbeitern in Berlin hielt. Darin warnt Hitler vor einer "kleinen wurzellosen Clique, die die Völker gegeneinander hetzt". "Es sind die Menschen, die überall und nirgends zu Hause sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in Prag oder Wien oder in London, und die sich überall zu Hause fühlen." Aus dem Publikum ruft dann jemand "Juden!" dazwischen.

Muss es immer Hitler sein?

Das Erste, was dagegen spricht, dass Gauland Hitlers Rede "paraphrasieren" wollte, ist die Tatsache, dass er die Grundthese Hitlers – diese "wurzellose Clique" hetze "die Völker gegeneinander" – gar nicht übernimmt, im Gegenteil. Gauland wirft der "globalisierten Klasse" stattdessen vor, sie träume "von der One World und der Weltrepublik" und sei generell dafür, alle Völker zu vermischen – weil sie die negativen Folgen der Einwanderung nicht spüre.


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Trotzdem: Wenn man Gauland und Hitler nebeneinander liest, sind die Parallelen nicht zu übersehen. Das gleiche könnte man aber auch behaupten, wenn man Gaulands Text direkt neben den hier legt:

"Zu den Gewinnern der Ökonomie des 21. Jahrhunderts zählt eine transnationale Elite, die sich in Singapur ebenso zu Hause fühlt wie in San Francisco, sich mit Uber fortbewegt, mit Paypal bezahlt und bestens auf die Herausforderungen der Digitalisierung vorbereitet ist."

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Das ist eine Passage aus einem längeren Artikel, den Holger Stark 2017 in der Zeit veröffentlichte. Oder neben den hier:

Diese neue globalisierte Klasse sitzt in den Medien, in den StartUps und NGOs, in den Parteien, und weil sie die Informationen kontrolliert ("liberal media", "Lügenpresse"), gibt sie überall kulturell und politisch den Takt vor. … Es ist eine Klasse, die fast ausschließlich in Großstädten lebt, die so flüssig Englisch spricht wie ihre Muttersprache, für die Europa kein abstraktes Etwas ist, sondern eine gelebte Realität, wenn sie zum Jobwechsel von Madrid nach Stockholm zieht.

Die Passage ist aus einem Gastbeitrag von Michael Seemann, erschienen 2016 im Tagesspiegel. Seemann hat das übrigens selbst schon angemerkt.

Womit ich nicht behaupten will, dass Holger Stark und Michael Seemann beide auch von Hitler abgeschrieben haben. Sondern, dass die Idee von dieser globalistischen Klasse eben nicht besonders originell ist – weil sie schon seit Jahren von Rechten und Linken auf der ganzen Welt erzählt wird.

Die Erzählung vom neuen Klassenkampf

Um ehrlich zu sein: Ich habe natürlich keine Ahnung, ob Gauland die Passage nicht doch bei Hitler abgeschrieben hat, kann schon sein. Zuzutrauen wäre es ihm allemal. Ich glaube es aber nicht, weil er das auch – und zwar in ganz ähnlichen Formulierungen – überall sonst hätte aufschnappen können: nicht nur in der Zeit oder im Tagesspiegel, sondern fast in jedem zweiten Erklärstück über den Brexit oder Donald Trump. Der amerikanische Journalist David Goodhart hat der Idee von den "Somewheres" und den "Anywheres" ein ganzes Buch gewidmet.

Darin schreibt er von einer neuen globalen Klasse von Menschen, denen dank ihrer guten Ausbildung eigentlich egal ist, wo sie leben und arbeiten – die "Anywheres". Die hätten sich deshalb aber zunehmend von den Menschen entfernt, die fest an einem Ort leben, sich dort wohlfühlen wollen und Angst vor Veränderungen haben – den "Somewheres". Die Rache der Somewheres, schreibt Goodhart, ist das Erstarken des Populismus – also genau das gleiche, was Gauland in der FAZ schreibt.

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Ob man Goodharts Idee nun überzeugend findet oder nicht – bei Konservativen auf der ganzen Welt ist sie enorm gut angekommen. Die unsympathische "globale Elite" war als Sündenbock einfach zu perfekt. "Wenn du glaubst, dass du ein Bürger der Welt bist", lästerte Theresa May in einer Rede im Herbst 2016, "dann bist du ein Bürger von nirgends (a citizen of nowhere)!" Wer immer noch glaube, dass der Brexit ein Fehler war, sei einfach nur "ein überhebliches Mitglied einer liberalen, urbanen Elite".

Es gibt auch viele Linke, die diese Narrative überzeugt. "Denn in der neoliberalen Vorstellung ist der Mensch ein heimatloses, d. h. ein nicht sesshaftes Wesen, ruhelos und ohne Basis", schrieb Roberto J. De Lapuente im Februar in einem Text über "progressive Heimatgefühle" im neuen deutschland. "Ein Entwurzelter, dem man Flexibilität und Mobilität geradezu aufdrängen muss. Orts- und Stadtwechsel: Das sei doch menschliche Normalität. Die meisten Menschen empfinden das allerdings nicht so; sie erkranken an dieser Ruhelosigkeit, wollen einen sicheren Hafen."

"Hitler!" zu schreien löst gar nichts

"Damit wird offenbar", folgert der Historiker Benz aus seiner eigenen Analyse zu Gauland, "dass der eine so denkt wie der andere, dass die Vermutung zutrifft, bei der 'Alternative für Deutschland' handele es sich gar nicht um die verheißene Novität einer dringend nötigen Fundamentalopposition, sondern um einen aufgemotzten Ladenhüter – mit der völkischen Bewegung, der NSDAP und ihren Epigonen als Blaupause."

Die Botschaft ist klar: Zack, es ist bewiesen, die AfD besteht eben doch aus echten Hitler-Nazis. Und gegen Hitler-Nazis muss man gar nicht argumentieren, gegen die muss man nur Widerstand leisten.

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Das Problem ist aber: Das wird nicht funktionieren. Man kann Gaulands Argumenten nicht begegnen, indem man einfach "Das ist eine Hitler-Rede!" ruft.

Denn erstens ist es wirklich nicht sicher, dass Gauland Hitlers Rede überhaupt kannte oder absichtlich aufgegriffen hat. Und zweitens werden die Dinge, die er über eine globale Klasse sagt, längst von vielen Menschen – Zeit-Redakteuren, Premierministerinnen, linken Denkern – als völlig vernünftige Analyse der Welt akzeptiert.

Dabei ist Gaulands Text nichtmal besonders tiefgründig, im Grunde labert er nur ein paar gängige Analysen über den Aufstieg des Populismus nach und erklärt dann, dass man genau deshalb die Heimat schützen müsse. Um den Text auseinanderzunehmen, kommt man auch gut ohne Hitler aus.

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