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Wieso darf die Polizei in der Schweiz noch mit Gummischrot schiessen?

In anderen Ländern sind Gummigeschosse verboten. In der Schweiz kommen sie bei manchen Demos und Fußballspielen zum Einsatz – trotz Risiken wie gefährliche Augenverletzungen.

Am 6. Juli stürmten in Hamburg dutzende Polizisten in Riot-Ausrüstung in einen Demonstrationszug. Mit der Wucht ihrer eigenen Körper, Pfefferspray und Knüppeln lösten sie die friedliche Auftaktdemo gegen den G20-Gipfel auf und eröffneten so ein Wochenende voller brennender Autos, überbordender Polizeigewalt und vernachlässigter friedlicher Proteste. Hätte sich das Demo-Szenario einige hundert Kilometer weiter südlich abgespielt, wäre das Drehbuch wohl ein anderes gewesen, zumindest für die Rolle der Polizei. Denn in der Schweiz verfügt diese über eine Waffe, die in Deutschland verboten ist: Gummischrot.

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"Mit solchen Gummipatrönchen kann man doch nicht solch militante Leute vertreiben". Der Mann mit Gelfrisur und klobigen Brillengläsern spöttelt und zeigt dabei ein mitgebrachtes Geschoss. Sogleich spreizt er die Finger: "Diejenigen in Irland sind etwa so lang und so dick – darüber kann man reden." Während seine Partnerin zustimmend nickt, fordert er gar den Armeeeinsatz gegen randalierende Jugendliche – sonst sei die Revolution in der Schweiz passiert.

Herr und Frau Müller sind so etwas wie eine Legende des Schweizer Fernsehens. Verkleidet als spiessiges Ehepaar crashten die zwei Aktivisten im Sommer 1980 die Diskussionssendung "CH-Magazin". Thema der Sendung: Zürcher Jugendunruhen und das Vorgehen der Polizei. Die beiden Studiogäste, welche die Forderung nach einer knallharten Niederschlagung der Proteste ins Absurde führten, nahmen ihren verdatterten Gegnern glatt den Wind aus den Segeln.

Die zeitgemäss verpixelten Herr und Frau Müller in der Sendung 'CH-Magazin'

37 Jahre sind seither vergangen. Die Müllers sind längst Geschichte, Gummigeschosse aber nicht. Das kennt etwa Klaus Miklós Rózsa zur Genüge. Der Zürcher Fotograf ist bekannt als energischer Gegner dieser Waffe. Seit den 70er Jahren ist er mit der Kamera überall dort zur Stelle, wo es knallt, und dokumentiert die Polizeigewalt. "Ich verwende niemals das Wort Gummischrot", sagt Rózsa gegenüber VICE. Das sei verharmlosend, es handle sich um Geschosse.

Er muss es wissen, schliesslich bekam er schon am eigenen Leib so einige Ladungen davon zu spüren. Wie er sagt, kursiert unter Journalisten ein Spruch: "Besser nicht in der Nähe von Rózsa stehen, sonst kriegst du Gummigeschosse ab." Zum Glück blieb es in seinem Fall bei blauen Flecken. Erstmals begegnete er diesen Projektilen 1976 bei einer Anti-AKW-Demo bei der interkantonalen Polizeitruppe, vier Jahre später dann bei den Opernhauskrawallen in Zürich. Aus seiner Sicht ist die Hemmschwelle, abzudrücken, im Laufe der Jahre gesunken. Gummigeschosse seien halt bequemer für die Uniformierten: "So kann auch eine kleine Anzahl Polizisten eine Demo innert Minuten auflösen."

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Wie weit mit dieser Waffe gegangen werden kann, zeigte sich im Nordirlandkonflikt, auf den auch die Müllers im Schweizer Fernsehen anspielten. Dort kamen 17 Menschen durch den Einsatz von Gummigeschossen ums Leben.

Foto von Jan Müller

Allerdings waren da andere Kaliber im Spiel, die 135 Gramm wogen. Die Schweizer Polizeikorps verwenden hingegen Gummischrotpakete. Diese zerlegen sich nach dem Abschuss und erzielen eine Streuwirkung. Die einzelnen Projektile haben eine Länge von 27 Millimetern und ein Gewicht von 10 Gramm. Seit rund zehn Jahren werden Geschosse mit abgerundeten Kanten verwendet. Das soll das Verletzungsrisiko mindern.

Je nachdem, wo der Treffer landet, können sie dennoch jemanden übel zurichten. Das Problem: Dazu gibt es kaum Zahlen. Seit den Unruhen in den 80er Jahren warnt etwa die Vereinigung Unabhängiger Ärztinnen (VUA) vor der Gefährlichkeit der Hartgummigeschosse für die Augen und forderte deren Verbot. Auf Anfrage von VICE bestätigt der Verein, über keine Zahlen aus den letzten 15 Jahren zu verfügen. In den frühen 00er Jahren seien aber mehrere Fälle von Leuten mit schweren Augenverletzung oder gar Erblindungen dokumentiert. Auch wenn stets auf die Beine gezielt werden muss, bleibe wegen der Streuung ein Risiko für den Kopf.

Über die Anzahl Verletzter gibt es wohl auch deshalb keine Zahlen, weil Teilnehmer unbewilligter Demos sich meistens nicht in die Nesseln setzen wollen: Sie erstatten oft gar keine Anzeige, weil sie selbst rechtliche Konsequenzen fürchten und ihre Identität nicht preisgeben wollen.

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Wohl aber machen immer wieder Gummigeschoss-Vorfälle von sich reden, die buchstäblich ins Auge gehen. Um nur ein paar Beispiele aus den letzten Jahren zu nennen: Im Mai 2013 kesselt die Stadtpolizei Zürich einen FCZ-Fanmarsch ein. Gummigeschosse fliegen den Beteiligten um die Ohren. Ein Mann verletzt sich an der Stirn, eine Frau am Augapfel. Winterthur, September 2013: Eine 19-Jährige wird an der Tanzdemo "Standortfucktor" am einen Auge getroffen – und verliert dabei ihre Sehkraft zu 80 Prozent. Nach einer Strafanzeige gegen die Stadtpolizei kommt die Staatsanwaltschaft aber zum Schluss, dass es "sehr unwahrscheinlich" sei, dass ein Gummigeschoss zur Verletzung geführt hätte.

Basel im März 2016: Bei einer Spontan-Demo gegen die Verhaftung von acht Asylsuchenden setzt die Polizei Gummigeschosse ein, um den Zug zu stoppen. Dabei wird eine ältere Frau im Gesicht getroffen. Die Demonstrierenden behaupten, die Warnung der Polizei nicht gehört zu haben. Ebenfalls in Basel, kaum eine Woche später: Bei Krawallen beim St. Jakobs-Stadion bekommt ein FCB-Fan aus der Nähe Gummischrot ins Auge verpasst. Die Staatsanwaltschaft stellt die Untersuchung ein, da der Schütze aus Notwehr gehandelt habe.

Nach all diesen Geschichten drängt sich schnell einmal die Frage auf, warum denn diese riskante Waffe überhaupt eingesetzt wird: "Es ist ein Mittel, um Distanz zwischen Polizei und Angreifenden zu schaffen – damit können schwerwiegende Verletzungen, etwa mit Fäusten oder Stöcken, verhindert werden", erklärt Marco Cortesi, Sprecher der Stadtpolizei Zürich, auf Anfrage von VICE. Zum Einsatz komme es erst nach einer Aufforderung, den Ort zu verlassen.

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Nun ist es so, dass beim Einsatz von Gummigeschossen eine Mindestdistanz von 20 Metern eingehalten werden muss. "Jeder Mitarbeiter kennt diese Distanz – das ist ganz klar geregelt", sagt Cortesi. Aus geringerer Distanz setze man Gummigeschosse nur in Notwehrsituationen ein. "Wenn sich jemand nicht daran hält, kann es zu einem Strafverfahren kommen".

Was aber, wenn die Demonstrierenden davon ausgehen, dass die Distanz nicht eingehalten wurde? Die jüngsten Vorfälle zeigen, dass die Verletzten keine guten Karten haben, wenn sie die Polizei zur Rechenschaft ziehen wollen. Das war etwa bei den zwei FCZ-Fans der Fall. Diese erstatteten Strafanzeige wegen Körperverletzung und Amtsmissbrauch. Sie zogen aber ihre Anzeige gegen den Zugführer, der den Schiessbefehl gab, zurück und unterzeichneten eine Desinteresse-Erklärung mit der Polizei.


Auch auf VICE – Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg:


Der Grund: Die beiden wollten nicht einfach mit einer Anzeige den Zugführer als Bauernopfer beschuldigen. Dieser habe eigentlich nach dem Vorfall vor Ort und während der Untersuchung "korrekt" gehandelt. Es ging ihnen um etwas anderes: "Das System ist schief, erklärt Manuela Schiller, Anwältin der beiden Fussballfans, gegenüber VICE. Für sie hinterlässt die Geschichte einen bitteren Nachgeschmack, doch nicht wegen dieser Einigung: "Das Verfahren wäre ohnehin vom Staatsanwalt eingestellt worden."

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Enttäuscht ist sie darüber, wie der Einsatz gegen die Fussballfans gerechtfertigt wird: "Ich bin nach wie vor überzeugt, dass der in den Akten liegende Film der Polizei zweifelsfrei beweist, dass die Schussdistanz nicht eingehalten wurde." Zudem zeige der Film auch klar, dass von diesen FCZ-Fans keine Gewalt ausging.

Die Crux dabei: Wenn sich die Polizisten gefährdet fühlen, gilt diese Regel nicht. Und genau hier wird's schwierig: Auch falls von den FCZ-Fans niemand angriff, kam die Staatsanwaltschaft zum Schluss, dass der Zugführer sich und seine Leute in einer solchen Situation zu Recht als gefährdet betrachten darf. "Dann gibt es praktisch keinen denkbaren Fall, in welchem eine Anzeige von betroffenen Fans, Demonstranten oder Passanten zu einer Anklage, geschweige denn zu einer Verurteilung führen würde", sagt Manuela Schiller. Das bedeute also: "De facto ist Gummi eben doch keine Distanzwaffe."

Auch Klaus Miklós Rózsa misstraut den Rechtfertigungen der Polizei: "Es ist logisch, dass immer auf Notwehr plädiert wird, da die Polizei sonst zugeben würde, sich nicht ans Dienstreglement zu halten." Dass die Waffe im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern gerade in der Schweiz eine wichtige Rolle spielt, erstaunt ihn nicht: "Hier gibt es aus der Politik einfach wenig Opposition gegen die Polizei."

Einen politischen Vorstoss gibt's aber momentan: Die Jungen Grünen haben in den Städten Zürich und Winterthur eine Initiative zum Verbot von Gummigeschoss-Gebrauch im Köcher. "Solche Einsätze sind unverhältnismässig", sagt Elena Marti gegenüber VICE. Die 22-jährige Grüne ist die jüngste Zürcher Gemeinderätin. Wichtig ist für sie dabei, dass im nördlichen Nachbarland der Einsatz dieser Waffe verboten ist: "Die Deutsche Polizeigewerkschaft will, dass nur Einsatzmittel zugelassen werden, die wirklich kontrollier- und verantwortbar sind". Gummischrot sei aufgrund der Streuwirkung dafür völlig ungeeignet.

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Manuela Schiller sieht bei dieser Initiative aber eine rechtliche Knacknuss: Ob in einer Gemeindeordnung ein Verbot von gewissen Einsatzmitteln stehen kann? Sie gibt der Initiative beim Stimmvolk nur wenige Chancen. Ein Nein wäre umso fataler: "Dann hätten wir den Gummieinsatz noch durch eine Abstimmung heilig gesprochen", befürchtet die Juristin. Sie findet, dass man besser einer anderen Frage nachgehen sollte: Stimmen die Argumente pro Gummigeschosse überhaupt?

Immer wieder wird gesagt, es sei eine Distanzwaffe. Die Rechnung sieht dann so aus: weniger Polizisten, weniger Nahkampf, also auch weniger harte Verletzungen. Stimmt das aber auch? "Ich möchte das nicht bagatellisieren, aber ein gebrochener Arm, Prellungen und Hirnerschütterungen sind nicht zu vergleichen mit ausgeschossenen Augen", sagt Manuela Schiller. "Falls es aber stimmt, dass es in Deutschland viel mehr schwere Verletzungen gibt, weil dort nur Nahkampf möglich ist, dann müssen wir dieses Argument ernst nehmen", räumt Manuela Schiller ein. Doch dazu fehlten eben genaue Daten und verlässliche Studien.

Gerade das Verletzungsrisiko beim Nah- und Fernkampf ist ein zentraler Punkt. Elena Marti wirft den Gummi-Befürwortern etwa vor, die Folgen zu verharmlosen – so etwa jüngst der Präsident des Verbands der Kantonspolizei Zürich in einem Interview. Er sagte dort, dass bei einem Einsatz immer jenes Mittel eingesetzt werden müsse, "welches die beste Wirkung erzielt, und kleinsten Personenschaden anrichtet". Nicht nur deswegen hat Elena Marti ihre Zweifel an der Begründung, dass Gummi nur die letzte Eskalationsstufe sei: "Wer schon mal an einer Demo war, weiss, dass Gummischrot relativ schnell zum Zug kommt."

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