Identität ist nicht alles: Janet Mock kann mehr als Trans-Aktivismus
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The Givemesomespace Issue

Identität ist nicht alles: Janet Mock kann mehr als Trans-Aktivismus

Quoten-Schwarze, Sprecherin für alle Transgender – darauf hat Medien-Darling Mock keine Lust mehr.

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Janet Mock sitzt in einem ruhigen Bistro auf dem Malcom X Boulevard in Manhattan und stochert in einem Grünkohlsalat herum. Vor Kurzem ist sie nach zwölf Jahren im East Village mit ihrem Mann Aaron nach Harlem gezogen. Die afroamerikanische Geschichte der Gegend faszinierte sie. Bevor sie mir ihr neues Viertel zeigt, erzählt sie mir von den Interviews, die sie für The Trans List geführt hat. In dem HBO-Dokumentarfilm von 2016 teilen elf Transpersonen aus unterschiedlichen Altersgruppen, Ethnien und Gesellschaftsschichten ihre Erfahrungen.

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Der intensive Kontakt mit den Interviewpartnern gefiel Mock. Sie verbrachte viele Stunden mit dem Pornodarsteller Buck Angel und der 76-jährigen Transaktivistin Miss Major Griffin-Gracy. "Man versucht, Vertrautheit aufzubauen", sagt sie. "Wir wollten Gespräche führen, die sich nicht wie eine geschäftliche Transaktion anfühlen."


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Andere Journalisten zu interviewen kann eine Herausforderung sein. Mock zeigt es zwar nicht, ist sich während unseres Treffens aber natürlich bewusst, dass jedes Wort und jede Geste irgendwie verwendet und interpretiert werden können. Das weiß sie nicht nur dank ihrer eigenen Medienarbeit, sondern auch aus reichlich persönlicher Erfahrung mit Interviewern. Nach fünf Jahren als Redakteurin bei People schrieb sie 2011 in Marie Claire einen Coming-out-Artikel und wurde zur ersten Transgender-Journalistin in den Mainstream-Medien. Seitdem hat sie eine Bestseller-Autobiografie veröffentlicht, eine Popkultur-Sendung auf MSNBC moderiert und auf dem Women's March on Washington eine Rede über intersektionalen Feminismus gehalten. Sie ist die prominenteste Transgender-Fürsprecherin in den US-Medien. Dabei hat sie eine Erfahrung gemacht: Je bekannter du wirst, desto leichter können die Menschen deine Geschichte verdrehen.

2014 spannte sie sich im Gespräch mit dem britischen CNN-Moderator Piers Morgan sichtlich an, als Morgan sie als "ehemaligen Mann" bezeichnete. Sie war in seiner Sendung, um ihre Autobiografie Redefining Realness vorzustellen. Nachdem sie auf Twitter Morgans "Misgendering" kritisiert hatte, lud er sie erneut zu sich ein. Dieses Erlebnis verdeutlichte Mock, wie schwierig es ist, eine Geschichte wie ihre angemessen in den Medien zu erzählen. Vor allem, weil das Medieninteresse an Transpersonen oft etwas Sensationslüsternes und Voyeuristisches hat. "In diesen Talkshows kann man nur sehr wenig vermitteln", sagt sie, "aber gleichzeitig ist das auch die größte Plattform für solche Themen."

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Mock hatte ihre Geschlechtsangleichung mit 18. Das Geld dafür verdiente sie als minderjährige Prostituierte.

Redefining Realness war zum Teil ein Versuch, die öffentliche Diskussion um die nötige Komplexität zu bereichern. In dem Buch erzählt Mock ausführlich von ihrer Jugend. Sie wurde als Kind eines Afroamerikaners und einer portugiesisch-stämmigen Hawaiianerin in Honolulu geboren und wuchs dort und im kalifornischen Oakland in einfachen Verhältnissen auf. Das Buch beschreibt ihren Lebensweg bis zum Alter von 18, als sie sich in Thailand einer operativen Geschlechtsangleichung unterzog. Das Geld dafür hatte sie noch als Minderjährige mit Prostitution verdient. Sie ergänzt die Geschichte immer wieder mit Statistiken und Fakten, die eine Brücke zwischen ihren Erfahrungen und denen anderer Transpersonen schlagen. Gerade unter People of Color führt ein Mangel an Sozialleistungen und medizinischer Versorgung oft zu HIV-Infektionen, Obdachlosigkeit, Gewalterfahrungen und Selbstmord.

Das Buch erzählt aber nicht, wie sie ihr Studium auf Hawaii mit Strippen finanzierte, mit 21 ihren ersten Mann heiratete und sich dann in New York in einem Verlag hocharbeitete. Deswegen ist soeben ihre zweite Autobiografie, Surpassing Certainty: What My Twenties Taught Me, erschienen. Darin erzählt sie von der Schwierigkeit, immer wieder entscheiden zu müssen, ob sie ihre Geschichte mit Freunden oder Partnern teilen sollte – viele von ihnen wussten nicht, dass Mock trans ist. Der Titel spielt auf ein Zitat von Audre Lorde an und nimmt Mocks Fazit bereits vorweg: "And at last you'll know with surpassing certainty that only one thing is more frightening than speaking your truth. And that is not speaking."

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In Surpassing Certainty beschreibt Mock sehr offen, was es bedeutet, als Person mit einer komplexen Identität in der Medienindustrie klarzukommen. "Dass ich nach meinem Umzug nach New York nicht sofort offen mit meinem Transsein umging, hatte auch damit zu tun, dass ich meine öffentliche Wahrnehmung nicht noch weiter verkomplizieren wollte", sagt sie. Es war schwer genug, sich als afroamerikanische Journalistin zu behaupten: Auf ihrem Weg durch die kommerzielle Medienwelt musste sie härter und für weniger Geld arbeiten als ihre Kollegen und haderte oft damit, die "Quotenschwarze" zu sein. In einem Kapitel bewirbt sie sich bei People, nachdem sie schon ein Jahr freiberuflich für das Magazin geschrieben hat. Die Chefin sagt ihr schließlich, die Personalabteilung wolle "die Suche ausweiten". "Man hatte entschieden", schreibt Mock, "dass Thanh als asiatisch-amerikanische Frau zwar fleißig, aber zu unterwürfig und gefügig war, um eine junge Schwarze anzuleiten – oder unter Kontrolle zu halten."

Mit dem Fokus auf Intersektionalität verfolgt Mock in ihrem Buch ein bestimmtes Ziel: Sie möchte, dass die Wahrnehmung von Transpersonen in den USA nuancierter wird. Manchmal bedeutet das, anderen Journalisten auf die Finger zu klopfen. Wie etwa 2014, als Mock in Elle ihre bekannte Kollegin Katie Couric dafür kritisierte, dass sie Laverne Cox und Carmen Carerra zu ihren Genitalien befragt hatte. Doch auch Projekte wie The Trans List gehören zu diesen Bemühungen. Betroffene kommen selbst zu Wort und trauen sich, offener zu sprechen, weil sie von Mocks eigenem Hintergrund wissen.

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Es geht nicht um Toiletten. Es um AIDS, Gewalt und warum Transmenschen seltener die Schule abschließen.

Oft sind es aber nicht die wichtigsten Geschichten, die die größte mediale Aufmerksamkeit bekommen. So schrieb sie im Februar einen Artikel für die New York Times zu Trumps Ankündigung, er wolle Obamas "Bathroom Bill" rückgängig machen. Das Gesetz schreibt Schulen vor, Transgender-Schülern bei Toiletten und Umkleideräumen freie Wahl zu geben. Mock berichtete, wie die Vizedirektorin ihrer Highschool sie damals zwang, statt des Mädchenklos die Toilette im Zimmer der Schulschwester zu benutzen. Mock sagt, die Toilettendebatte schränke Transgender in ihrer Teilnahme am öffentlichen Leben ein, doch gleichzeitig überschatte sie auch wichtigere Diskussionen. "Transpersonen haben auch schlechtere Arbeitschancen, schlechtere Bildung und ein erhöhtes HIV-Risiko. Sie werden häufig zu Opfern von Gewalt, bis hin zum Mord. Toiletten sind nicht unser einziges Problem."

Die Medien neigen dazu, charismatische Individuen wie Mock zu Sprechern ganzer Gruppen zu machen. Mit ihrem beeindruckenden Lebenslauf und glamourösen Aussehen bietet Mock sich für diese Rolle an. Die Sichtbarkeit bringt aber viel Verantwortung mit sich: Mock muss sich nicht nur an der vordersten Front der Debatte bewähren, sondern auch aufpassen, dass ihre Geschichte nicht stellvertretend für alle Transerfahrungen herangezogen wird. Ich frage sie, was sie Gavin Grimm raten würde. Die Klage des 18-jährigen Transschülers aus Virginia gegen die Toilettenregeln seiner Schule ging bis vor den Obersten Gerichtshof, wurde dort aber abgewiesen. Sie zögert kurz und sagt lächelnd: "Ich würde ihm sagen, dass er noch nicht wissen kann, was er einmal für ein Erbe hinterlassen wird. Er soll also nicht glauben, dass es das für ihn war."

Mock selbst hat noch viel vor: Weiter um Förderung für LGBT-NGOs werben, für die medizinische Versorgung von Transpersonen kämpfen und Eltern, Lehrer und Behörden für ihre Bedürfnisse sensibilisieren. Außerdem will sie dieses Jahr mit dem feministischen Newsletter Lenny Letter einen zehnteiligen Podcast namens Never Before herausbringen. Jede Folge soll aus einem einstündigen Gespräch mit einer ihrer Lieblingspersönlichkeiten aus der Entertainment-Branche bestehen. Sie erzählt mir auch von zwei geplanten Fernsehprojekten: eine Serie und eine Doku-Reihe, die eine "globale Gender-Perspektive" liefern will.

Mock sagt, sie müsse sich in Harlem noch orientieren, aber das muss auch Harlem selbst zurzeit, denn die Gentrifizierung macht vor dem geschichtsträchtigen Viertel nicht Halt. Nach dem Essen spazieren wir durch einen Block mit hohen Backsteingebäuden. Wir sehen einen verlassenen Nachbarschaftsgarten und eine Hotelbaustelle, auf dem Arbeiter und Anzugträger umherwuseln. Mock liebt es, auf den Spuren afroamerikanischer Größen wie James Baldwin, Langston Hughes und Zora Neale Hurston zu wandeln. Sie besucht gern das Schomburg Center, eine Forschungsabteilung der New York Public Library, in der Werke großer schwarzer Künstler und Intellektueller archiviert sind. Hier liegt auch die Erstausgabe ihres Lieblingsbuches aus: Hurstons Vor ihren Augen sahen sie Gott. Beiläufig erwähnt Mock, der Kurator der Bibliothek habe vor ein paar Jahren angerufen. Er wollte wissen, ob sie sich schon über ihr eigenes Archiv Gedanken gemacht habe.

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