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Reproduktive Rechte

Warum Deutschland endlich Abtreibungen legalisieren muss

Rechtlich gelten Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor als "Straftat gegen das Leben“. Ein unhaltbarer Zustand, sagen Expert_innen.
Collage: VICE Media (Foto Schwangerschaftstest: Julia Fiedler | Pixabay | CC0)

Man könnte sagen, Thomas Börner habe den falschen Beruf gewählt, als er sich als Gynäkologe der weiblichen Gesundheit verschrieb. Seit Dezember 2016 ist er Chefarzt der Gynäkologie an der Capio Elbe-Jeetzel-Klinik im niedersächsischen Dannenberg. Eine seiner ersten Ankündigen: keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchzuführen. "Ich habe nach der Maxime des Nicht-Tötungsgebotes auch schon nach meinem Abitur Zivildienst gemacht statt zur Bundeswehr zu gehen", erklärte der Arzt gegenüber dem NDR. Bestimmte Eingriffe aus Gewissensgründen verweigern – rechtlich gesehen darf er das. (Auch wenn der Klinikkonzern seine Entscheidung schlussendlich widerrief.)

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Der Fall von Thomas Börner wirft ein Licht auf eine absurde Situation in Deutschland. Sie betrifft Patientinnen, Frauenrechtler_innen und Ärzt_innen, und sie führt viele von ihnen in ein moralisches wie rechtliches Dilemma: Offiziell sind Abtreibungen in Deutschland nach wie vor illegal.

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"Ihre Voraussetzungen regelt das Strafgesetzbuch", sagt Ulrike Lembke, Professorin für Gender und Recht. Im Paragraph 218, der in seiner aktuellen Formulierung seit 1995 gültig ist, wird der Schwangerschaftsabbruch als "Straftat gegen das Leben" eingestuft. Eine Straftat, die unter bestimmten Bedingungen geduldet wird. Demnach ist eine Abtreibung dann straffrei, wenn die Schwangere sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff einer Beratung unterzogen hat. Außerdem darf die Empfängnis maximal zwölf Wochen her sein. In Ausnahmefällen ist ein Schwangerschaftsabbruch auch noch bis zur 22. Woche möglich – elementar wichtig ist allerdings in beiden Fällen, dass die Abtreibung durch eine Ärztin oder einen Arzt durchgeführt wird.

Wer anders handelt, muss als Schwangere mit einer Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr rechnen. Ein rechtlich widersprüchlicher Zustand, der Frauen in ihren reproduktiven Rechten beschneidet, bestätigen die Expertinnenen und der Experte, mit denen Broadly gesprochen hat. Frauen würden durch die Regelung im Strafgesetzbuch bevormundet.

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Im Beratungsalltag zeigt sich immer wieder: Der Großteil glaubt, dass Abtreibungen legal sind und weiß wenig bis gar nichts über mögliche rechtliche Folgen.

Um einen Abbruch vorzunehmen, muss die Betroffene dem durchführenden Arzt eine Bestätigung vorlegen, die sie nach einer verpflichtenden Beratung erhält. "Eine Beratung ist definitionsgemäß etwas Freiwilliges", sagt der Gynäkologe Christian Fiala, der die Regelung kritisch sieht. Das Gesetz formuliere zwar, dass das Gespräch ergebnisoffen zu führen sei, mache es aber trotzdem zu einer Pflicht. Aufgeklärt über ihre diesbezüglichen Rechte würden die betroffenen Frauen meist nicht: "Es gibt meines Wissens nach kein einziges Informationsblatt, das Frauen darauf hinweist, dass sie da hingehen und sagen können: Ich habe einen Rechtsanspruch auf den Stempel, bitte geben Sie ihn mir, auf Wiedersehen."

Ines Scheibe ist Psychologin bei einer solchen Beratungsstelle, der Schwangerschaftskonfliktberatung des Humanistischen Verband Deutschlands. Sie weiß, dass die gesetzlich vorgeschriebenen drei Tage zwischen Beratung und medizinischem Eingriff für viele Frauen eine schwere psychische Strapaze bedeuten. Ihr zufolge fordern unabhängige Beratungsstellen eine Streichung des Paragraphen 218.


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In ihrem Beratungsalltag zeigt sich außerdem immer wieder: Der Großteil glaubt, dass Abtreibungen legal sind und weiß wenig bis gar nichts über mögliche rechtliche Folgen. Wenn es um reproduktive Rechte in Deutschland geht, besteht anscheinend immer noch jede Menge Gesprächsbedarf.

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Was viele ebenfalls nicht wissen: Die rechtliche Einordnung als Straftat bedeutet auch, dass Schwangerschaftsabbrüche keine medizinische Dienstleistung darstellen wie etwa eine Operation. Deswegen übernehmen Krankenkassen die Kosten für eine Abtreibung aktuell nur aus medizinischen Gründen, also wenn die Frau durch die Schwangerschaft gesundheitlich gefährdet ist oder es durch ein Sexualdelikt zur Schwangerschaft kam. Für Frauen mit geringem oder keinem Einkommen, kommen die jeweiligen Bundesländer auch sonst auf, der Rest muss den Eingriff selbst finanzieren.

Neben dieser Leistung müssen die Länder zwar hinreichend ambulante und stationäre Versorgung für Schwangerschaftsabbrüche garantieren. "Die Länder sagen aber, dass sie ein öffentliches Krankenhaus, das mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, nicht dazu zwingen können, weil Schwangerschaftsabbruch keine Kassenleistung ist", beschreibt Ulrike Lembke. Sie findet, Abtreibung müsse nicht nur aus dem Strafgesetzbuch raus, sondern darüber hinaus eine Krankenkassenleistung werden, auf die es einen Anspruch gibt.

"Nur Frauen können, wenn sie ihre Sexualität leben, mit dem Strafgesetzbuch in Kollision geraten."

Nicht "zwingen" kann man übrigens auch die Mediziner_innen: Das Schwangerschaftkonfliktgesetz legt in Paragraph 12 fest, dass niemand verpflichtet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch teilzunehmen – außer das Leben der jeweiligen Frau ist in Gefahr. Gründe muss die Person für ihre Verweigerung nicht angeben. "Diese Klausel muss beschränkt werden auf das, was verfassungs- und menschenrechtlich geboten ist", ist Rechtsexpertin Lembke überzeugt. "Man muss es aus religiösen Gründen und schwerwiegenden Gewissensgründen verweigern dürfen. Aber nicht einfach so, ohne Begründung."

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Wer bereit ist, Abtreibungen durchzuführen, muss auf der anderen Seite nicht nur militante Abtreibungsgegner_innen fürchten. Neben der schwangeren Frau, sind nämlich die Ärztinnen und Ärzte selbst strafbar, wenn bestimmte Sorgfaltspflichten verletzt werden. Wer den Eingriff vornimmt, darf zum Beispiel nicht die Beratung durchgeführt haben, und niemand darf den Abbruch vornehmen, wenn ihm oder ihr keine Bestätigung der Beratungsstelle vorliegt. Auch wenn es beim Eingriff selbst zu Komplikationen kommt, wird es für Mediziner_innen kritisch. Normalerweise ist medizinisches "Versagen" (also Fehler seitens des Personals) Frage des sogenannten Standesrechts – das Arztrecht, das durch die Ärztekammern exekutiert wird – oder des Zivilrechts. Da Abtreibung nicht als normale medizinische Dienstleistung gilt, würde ein Fehler im Zusammenhang mit dem Eingriff strafrechtlich relevant werden.

Foto: Jerry Lai | Flickr | CC BY-SA 2.0

Gleichzeitig dürfen Ärzt_innen nicht für ihre Hilfeleistung werben. Dieses Verbot ist ebenfalls im Strafgesetzbuch geregelt. "Das führt soweit, dass Ärzte im Internet nicht auf ihr Leistungsangebot hinweisen können, was es für Frauen natürlich sehr schwer macht, sich zu orientieren", sagt Ines Scheibe. Die Frage "Wo kann ich überhaupt hingehen?", sei somit noch schwerer zu beantworten.

Tatsächlich gibt es in Deutschland allgemein immer weniger Ärzt_innen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Gabrielle Stöcker, Gynäkologin und Beraterin bei Pro Familia in Köln, sagte gegenüber der taz, sie habe 20 Städte gezählt, in denen Ärzt_innen, die Abtreibungen vorgenommen hatten, in den letzten Jahren ohne Nachfolge in Rente gingen. Schon Medizinstudierende lehnten das Thema ab, erzählt wiederum Ulrike Lembke. Im Lehrplan nehme das Thema selbst in der Facharztausbildung eine untergeordnete Rolle ein. "Im Zweifel wissen die Ärztinnen und Ärzte gar nicht, wie man eine Abtreibung konkret durchführt – selbst wenn sie den Facharzt Gynäkologie gemacht haben."

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Nur eine komplette Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen könnte das gesellschaftliche und vor allem das medizinische Stigma aufheben. Trotzdem gibt es Gegenstimmen, die sich für den Status Quo aussprechen.

"Schauen Sie sich Amerika an: Da weiß man nie, was passiert, wenn ein Idiot wie Trump gewählt wird."

"Die Leute müssen die Reformen von 1995 verstehen", widerspricht Monika Frommel, Kriminologin und Rechtsexpertin für Reproduktionsfragen. "Die Frauen haben lediglich keinen festgestellten Anspruch gegen die Krankenkasse. Das ist alles." Damals beschloss der Bundestag das neue Abtreibungsrecht, das einer Frau den straffreien Abbruch ermöglicht, wenn sie eine vorherige Beratung nachweisen kann. Vorher musste eine Notlage der Frau festgestellt werden, um eine Abtreibung durchführen zu dürfen. Der Rechtsexpertin zufolge ist die Reform eine "geschmeidige Lösung", die Abtreibungen in Deutschland faktisch legal mache. Würde man das Gesetz erneut zur Diskussion öffnen, könnten die erstarkten rechtskonservativen Kräfte dafür sorgen, dass der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen schwieriger statt leichter werden würde. "Schauen Sie sich Amerika an: Da weiß man nie, was passiert, wenn ein Idiot wie Trump gewählt wird."

Ulrike Lembke versteht den Argwohn, entgegnet aber auch, dass diese Diskussion das Fass nicht erst aufmache – es sei längst offen. Rechte Gruppen und fundamentalistische Christ_innen würden das Thema bereits auf ihre politische Agenda setzen. Die Diskussion einfach auszusitzen und zu hoffen, dass alles zumindest beim Alten bleibe, sei keine Option. "Während wir still sind, weil wir denken, dass vielleicht alles schlimmer wird, verschlechtert sich die Versorgungslage dramatisch."

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Auch Christian Fiala begrüßt zwar, dass es für Frauen hierzulande selbstverständlich zu sein scheint, dass sie sich für oder gegen eine Schwangerschaft entscheiden können. Gleichzeitig würde durch diese falsche Sicherheit unterschätzt, wie wichtig es sei, sich für die eigenen reproduktiven Rechte einzusetzen. Um jemals eine Streichung des Paragraphen 218 erreichen zu können, müsse es eine "öffentliche Diskussion über die immer noch andauernde Bevormundung von Frauen in den intimsten Lebensaspekten" geben. Die Pille sei ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Bevölkerung organisieren müsse und sich nur durch Widerstand etwas ändern könne.

"Nur Frauen können, wenn sie ihre Sexualität leben, mit dem Strafgesetzbuch in Kollision geraten, weil nur sie schwanger werden können", schließt die Psychologin Ines Scheibe. "Dieses Unrechtsbewusstsein muss im Kopf der Frauen ankommen."

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