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Ich kann Menschen einfach nicht beim Essen zusehen

Wenn du deine Nudelbox unbedingt verschlingen musst wie ein Höhlenmensch, dann bitte nicht vor meinen Augen.

CC0 Public Domain

Ich mag Menschen, zumindest die meisten von ihnen. Hauptsächlich Freunde, Familie, Busfahrer, Nadja abd el Farrag. Und ja, mir ist durchaus bewusst, dass regelmäßige Nahrungsaufnahme eine unabdingbare Notwendigkeit für ihr weiteres Überleben darstellt—ein Anliegen, das mir grundsätzlich sehr am Herzen liegt, habe ich sie doch inzwischen alle tief in selbiges geschlossen. Ja, sie müssen essen und sie sollen ja auch essen. Alle Menschen sollen essen. Ich kann ihnen nur nicht dabei zusehen.

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Solange Pizza noch nach Pizza schmeckt und Magensonden keine permanente Lösung sind, kommt man einfach nicht um gemeinsame Mahlzeiten herum—das heißt, wenn man nicht gerade rüberkommen möchte wie der Soziopath, der man in Wirklichkeit ist. Gegessen wird nämlich gemeinsam. Soll ja gesund sein, hat mal jemand geschrieben. Sei es das feiertägliche Familien-Dinner, die betrunkene Kebab-Fresserei am Heimweg oder das Liefersushi mit den Mitbewohnern am Tag danach. Rituelles Miteinander, ham ham.

Ich ertrage diese Momente. Aber die Wahrheit ist, dass mir ein kalter Zorn-Schauer über den Rücken jagt, wenn ich jemanden dabei beobachten muss, wie er einen viel zu großen Batzen gebratene Nudeln hinunterwürgt, als hätte er eine Woche lang nichts zwischen den Zähnen gehabt. Als wäre er nicht imstande, abzuschätzen, wie viel Kubikmeter Fett tatsächlich in seine Mundhöhle passen—sodass letztendlich die Hälfte wieder herausbröckelt, irgendwohin auf den Asphalt, und der ganze Bereich um seinen Unterkiefer herum dermaßen ölgetränkt ist, dass man wahrscheinlich ein Kinder Wiener darin frittieren könnte. Und du erfreust dich an den Geschmäckern auf deiner Zunge, und irgendwie macht es mich wütend, wie du dabei aussiehst. So genüsslich. Und wie schwer du dabei schnaufst.

Wahrscheinlich hat diese Abneigung im Entfernteren auch was mit Misophonie zu tun—dem Hass auf Geräusche. Betroffene halten es manchmal kaum aus, im selben Raum mit jemandem zu sein, der laut atmet oder sich räuspert. Andere schaffen es nicht mal in die Arbeit, weil sie den Ton der Straßenbahn nicht aushalten. Und viele können eben nicht mit Essensgeräuschen anderer umgehen. Aber es ist nicht nur das Schlürfen, das Schmatzen, das Kauen und das Schlucken meiner Mitmenschen, das diese Aggressionen in mir auslöst.

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"Social Eating", ein Trend, bei dem Mahlzeiten live gestreamt werden, erscheint mir genau deshalb wie blanker Psychoterror. Versteht mich nicht falsch—für jemanden, dem die Gesellschaft seiner Katze nicht ausreicht, kann das vielleicht ganz beruhigend sein. Aber einer völlig fremden Person dabei zuzusehen, wie sie sich durch die halbe Speisekarte von Crazy Noodles frisst—excuse my french—, und dabei auch noch wie ein Höhlenmensch in ein Mikrofon schmatzt, das ist pure Folter.

So ganz erklären kann ich mir diese starke Aversion nicht, weshalb ich zunächst mal versucht habe, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich Menschen beim Essen beobachte. Und da war es dann plötzlich, mein schlechtes Gewissen. Diese Wut, die ich spüre, sie geht—glaube ich zumindest—weniger gegen schlechte Tischmanieren und Essengeräusche als gegen dich selbst. Dich und die Gaumenfreuden, die dir ins Gesicht geschrieben stehen. Es macht mich aggressiv, dich so sorglos zu sehen. Deine Heiterkeit macht mich missgünstig. Deine Völlerei ekelt mich an.

So, jetzt könnte das natürlich was Katholisches sein. Also befrage ich lieber mal Google, rein prophylaktisch. Neben einer Flut von Texten über die bereits erwähnte Misophonie tauschen sich vermeintlich Gleichgesinnte in Ernährungs-Foren darüber aus, wie frustrierend es für sie sei, anderen Leuten beim Essen zusehen zu müssen. Wie schlimm es sei, wenn jemand vor ihren Augen ein Stück Sachertorte verschlingt, das ihnen nicht zusteht. Der springende Punkt ist, die meisten der User leiden an Essstörungen. Ich nicht. Glaube ich zumindest. Weiß ich.

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Meine Mutter ist der Überzeugung, ich hätte als Kind durch die schlechten Tischmanieren älterer Menschen einen Schaden davongetragen. Ältere Menschen, die ihre Frittatensuppe ausschlürfen wie eine Auster, mit vollem Mund sprechen, das Schnitzel als Ganzes reinstopfen und immer noch ein kleines bisschen Soße am Kinn kleben haben. Deshalb würde ich heute wohl etwas sensibler reagieren, glaubt sie. Klingt zumindest nicht ganz so weit hergeholt.

Trotzdem will ich mich nicht mit Erklärungen zufrieden geben, die auf Bulimie, Misophonie oder Mamas Küchenpsychologie gründen, also schildere ich mein Problem Elisabeth Terzieff, Ernährungswissenschafterin und Gesundheitspsychologin in Mödling. Ich erwähne gleich zu Beginn die Sache mit der Missgunst, weil ich tief in mir drin ohnehin schon weiß, dass da der Hund begraben liegt. Ich muss es nur aus einem Expertenmund hören.

"Gönnen Sie sich denn selbst manchmal was?", fragt mich Terzieff. Ich bleibe stumm, fühle mich ertappt und glaube, sie weiß genau, dass sie gerade mitten ins Schwarze getroffen hat. Weil ich mir offenbar selbst nichts gönnen kann, bin ich neidisch auf die, die das können. Die Wurzel dessen sei in jedem Fall individuell näher zu betrachten, das könne man nicht generell definieren, aber immerhin weiß ich jetzt, wo ich anpacken muss: Mehr gönnen. Hart. Mir selbst, und dann vielleicht auch irgendwann den anderen.

Franz auf Twitter: @FranzLicht