An einem Donnerstagabend Ende April wählt der 27-jährige Volkswirt Christian sich in ein Zoom-Meeting ein. Es ist der Stammtisch eines Berliner Think-Tanks, der wie so viele Treffen derzeit im Netz stattfindet. Etwa 60 Personen sind an diesem Abend online, um über wirtschaftspolitische Antworten auf die Corona-Pandemie zu diskutieren. Doch um 19:40 Uhr platzt ein weiterer User in die Konferenz. Sein Username lautet “Christoph H.”.
Christian fällt es schwer zu erzählen, was er und die anderen Teilnehmer in den folgenden Sekunden mit ansehen müssen. “Das war einfach nur krank, irgendwie unvorstellbar. Wirklich niederste Kategorie.”
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Christoph H. spielt für alle sichtbar ein Video ab, in dem ein Mädchen vergewaltigt wird. Christian schätzt es auf vier Jahre.
Dann Stille, Schockstarre. “Du bist völlig fassungslos. Einerseits willst den Bildschirm wegklicken, andererseits müsstest du dann wieder hinschauen”, erinnert sich Christian. Quälende Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen, dauert es, bis der Host des Calls “Christoph H.” aus dem Videocall entfernt hat. Als die Call-Teilnehmer sich austauschen, wie man mit der Situation umgehen müsse, taucht erneut ein fremder Nutzer auf. Möglicherweise ist es derselbe Täter mit einem anderem Namen. Auch er zeigt ein Vergewaltigungsvideo. Dann bricht der Host den Call ab.
Vorlesungen, Spieleabende, Partys und Meetings – alle Arten von Treffen verlagern sich derzeit auf Videodienste wie Zoom. Vor der Corona-Pandemie hatte der Anbieter zehn Millionen tägliche Nutzer. Im April waren es 300 Millionen tägliche Teilnehmer. Doch unter die Menschenmenge haben sich teils kriminelle Trolle gemischt. Im März kaperten sie ein Treffen der Anonymen Alkoholiker in New York. Ein Troll rief den Suchtkranken zu: “Alkohol tut soooo gut!”.
Im April crashten Antisemiten eine Online-Gedenkveranstaltung für die Opfer der Shoa in der israelischen Botschaft in Berlin. Sie unterbrachen die Schilderungen eines Überlebenden mit Fotos von Adolf Hitler. Auch Schulklassen und Gottesdienste sind betroffen, weltweit. Mitschnitte davon landen auf Plattformen wie YouTube und TikTok. Entsetzte Gesichter, panische Reaktionen – das sind die Trophäen der sogenannten Zoom-Bomber. Aber wer macht sowas?
Wir haben nicht nur mit den Opfern gesprochen, sondern auch mit zwei Tätern. Beide sind minderjährig und gehen noch zur Schule. Unsere Recherchen zeigen, wie Trolle die Schwächen von Zoom ausnutzen, um massenhaft ungeschützte Videokonferenzen zu attackieren. In versteckten Foren feiern Hunderte von ihnen ihre Erfolge. Einige radikalisieren sich dabei in rechtsextremen Chat-Kanälen. Und Zoom tut viel zu wenig, um die Sicherheitslücken zu schließen.
Wer Zoom-Links öffentlich postet, macht sich angreifbar
Christian hatte den Link zum Online-Stammtisch per Mail bekommen. Doch die Meeting-ID und das Passwort des Calls standen auch auf der Website des Think-Tanks. Schon drei Tage vorher teilten die Veranstalter den Link zum Call auf Twitter. “Wir freuen uns auf euch”, heißt es da. Das war ein Fehler.
“Das Expertengespräch war spannend und die Stimmung entspannt”, erinnert sich Christian an die Minuten vor dem Zoom-Bombing. Der Moderator interviewte den Podiumsgast, einen hochrangigen EU-Beamten aus Österreich. Die übrigen Teilnehmer konnten sich einschalten, indem sie Mikrofon und Bildschirm freigaben. Die Veranstalter verwendeten die Standardeinstellungen von Zoom. “Mir war vor dem Call nicht klar, dass alle ohne meine Autorisierung den Bildschirm teilen können”, sagt Timo, einer der Gastgeber der Veranstaltung, dessen Namen wir geändert haben.
“Einfach nur krank, wirklich niederste Kategorie”
Auch den Namen des Think-Tanks nennen wir hier nicht. Sonst hätte Timo nicht mit VICE gesprochen. Der junge Verein und seine Gründerinnen und Gründern möchten mit dem Vorfall nicht in Verbindung gebracht werden.
Nach der Konferenz bleiben vor allem Fragen: Warum ist das gerade uns passiert? Woher kamen die Täter? Wie haben sie es überhaupt in den Call geschafft? Timo möchte nicht spekulieren, sagt aber auch: “Natürlich konnten die Täter nur darauf aufmerksam werden, weil wir den Link öffentlich geteilt hatten.”
Der Call sollte für alle Interessierten leicht zugänglich sein. Tragen die Veranstalter der Konferenz also die Verantwortung? Immerhin berichteten schon vor der Konferenz zahlreiche Medien über Zoom-Bombings. “Ich bin nicht der Schuldige”, sagt Timo. Zoom stelle die technische Infrastruktur bereit und mache das kriminelle Verhalten erst möglich. “Ich würde mir wünschen, dass nur Hosts Bildschirme und Chats freischalten können”, sagt Timo.
Mindestens 16 Fälle von Videokonferenzen, die mit Kinderpornografie gecrasht wurden
Noch am selben Abend rief Timo die Polizei. Wenig später standen drei Beamte in seinem WG-Zimmer und fotografierten die Zugangsdaten vom Bildschirm seines Laptops ab. Die Berliner Polizei bestätigt auf Anfrage von VICE, dass sie die Ermittlungen aufgenommen hat. Einen Tatverdächtigen gebe es bisher nicht.
Genau wie in fünf weiteren ähnlichen Fällen, in denen die Berliner Polizei aktuell ermittelt. Deutschlandweit ermittelt die Polizei aktuell in mindestens 16 Fällen von Videokonferenzen, die mit sogenannter Kinderpornografie, also Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern, gecrasht wurden. Das teilen die Polizeibehörden der Länder auf Anfrage von VICE mit. Alle Ermittlungsverfahren stammen aus den letzten zwei Monaten.
Es spricht einiges dafür, dass die Fallzahlen weiter steigen. Denn weder die Gelegenheiten zum Zoom-Bomben noch die Langeweile der Täter werden sich in den kommenden Monaten legen.
Solo, 15 Jahre alt, der “legendäre Zerstörer”
Solo ist erst 15 Jahre alt, doch auf seinem Server ist er schon ein “Legendary Destructor”, ein “legendärer Zerstörer”. Mit diesem Titel stellt sich der Jugendliche aus New York vor. Wir haben ihn auf einem Discord-Server für Zoom-Bombing getroffen. Ein Discord-Server ist wie ein Forum, das in verschiedene Kanäle aufgeteilt ist. Discord wurde ursprünglich für Gamer entwickelt, heute tauschen sich dort allerlei Communitys in Sprach-, Audio- und Videochats aus.
Die Admins der Server verteilen Orden wie die Offiziere einer Armee. Wer der Truppe dient, etwa fleißig Zoom-Codes anschleppt oder Pläne für Bombings ausheckt, steigt auf.
Solo heißt eigentlich anders. Wir haben seinen Benutzernamen geändert, um seine Identität zu schützen. Auf seinem Anzeigebild ist Elmo zu sehen, das Monster aus der Sesamstraße. Wie Solo zum “Legendary Destructor” wurde? Er habe einfach viel mit anderen auf dem Server gechattet. “Mir ist langweilig während dieser beschissenen Quarantäne”, sagt er. Bei etwa 20 Zoom-Bombings sei Solo jeden Tag dabei. Er zeige dabei aber nur harmlose Memes oder spiele Songs ab.
Wenn das stimmt, ist Solo die Ausnahme. Denn die Stimmung auf dem Discord ist oft feindselig. Mitglieder verbreiten zum Beispiel ein Video, das zeigen soll, wie eine schwarze Frau von zwei weißen Männern gelyncht wird. Ob es sich bei dem Video um einen Fake handelt, konnten selbst die US-amerikanischen Factchecker von Snopes nicht abschließend klären.
Ein Nutzer, der uns das Video im privaten Chat schickt, sagt über Rassismus in der Zoom-Bombing-Szene: “Die Schwarzen müssten sich ein dickeres Fell zulegen.” Solo sieht das anders. Er schreibt uns, er finde rassistische Beleidigungen dumm. Aber er habe kein Problem damit, sich mit Rassisten zu umgeben. “Es ist für mich ja gerade der Reiz, mit Fremden zu raiden.”
“Ich habe so viel gesehen, es trifft mich nicht mehr”
Rassismus ist nicht das einzige Problem seines Discord-Servers. Auf dem Server gibt es 172 Textbeiträge mit dem Wort “Child Porn”. Nahezu täglich beschuldigen sich Zoom-Bomber gegenseitig, Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern in Zoom-Calls abgespielt zu haben.
Auch Solo war schon bei Zoom-Bombings dabei, in denen Mitstreiter Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern einsetzen, wie er erzählt. An einem Tag habe es drei, vier Stunden lang Dutzende solcher Attacken gegeben. Sogar eine Schulklasse habe es erwischt. Die Schüler schätzt Solo auf acht bis neun Jahre. Das Mädchen auf dem Foto habe noch so jung ausgesehen. Die Schüler, die es sehen mussten, tun Solo leid.
“Ich will die horny fucking weirdos, die perversen Verrückten, vom Server verbannen”, sagt Solo. Das sei nicht so einfach: Die Täter hätten viele verschiedene Accounts. “Einem Freund von mir ist es gelungen, eine IP-Adresse von einem zu grabben”, sagt er. Er habe die Daten der Polizei gemeldet. Einen Beleg zeigt Solo uns nicht.
Solo selbst fühlt sich abgestumpft. Schon früher habe ihm jemand auf einer anonymen Chat-Plattform ungefragt einen Dropbox-Ordner voller Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern geschickt. “Ich habe schon so viel gesehen. Es trifft mich nicht mehr”, sagt der 15-Jährige.
Hinter Zoom-Bombings stecken die Machtfantasien minderjähriger Jungs
Was sind das für Menschen, die Unbeteiligten derart abstoßende und schreckliche Gewalt vor die Nase zu halten und sich damit auch noch strafbar machen? Was geht im Kopf von Zoom-Bombern vor, die das tun?
Der Psychotherapeut Andreas Baranowski hat dafür eine Erklärung. “Wer fremde Menschen mit sogenannter Kinderpornografie schockt, muss das mögliche Leid dieser Menschen ausblenden.” Baranowski spricht von einer Dehumanisierung, also Entmenschlichung.
Er glaubt trotzdem nicht, dass den Tätern jegliches Schuldbewusstsein fehlt. “Ich bin mir sicher, wenn man diese Trolle einer traumatisierten Person gegenübersetzt, die davon erzählt, was für ein Leid sie erlebt hat, dann würden sie merken: Das geht nicht.” Grundsätzlich sei nicht jeder, der schlimme Dinge tut, auch krank.
Für den Psychotherapeuten geht es bei Zoom-Bombings vor allem um Macht und Kontrolle. Die Trolle würden einen “Kick” erleben, indem sie Erwachsene, die ihnen außerhalb von Zoom haushoch überlegen seien, in Ohnmacht versetzen.
Zoom-Bombing kann Menschen traumatisieren
Wer bei einem Konzert die Bühne stürmt, den schleppen die Securitys in der Regel nach Sekunden aus dem Saal. Der Täter muss vermutlich mit Hausverbot und einer Anzeige rechnen. Für Zoom-Bomber gilt das nicht.
Für Christian hat das Zoom-Bombing ein Nachspiel. In den ersten Tagen nach dem Call verfolgen ihn die Videosequenzen im Alltag. Bei der Arbeit kommuniziert Christian weiterhin über Zoom. Wenn jemand seinen Bildschirm teilt, bekommt er Flashbacks. “Man denkt sich instinktiv: Was kommt jetzt?” Rund drei Wochen nach der Tat sagt er, er habe die Erinnerungen, so gut es geht, verdrängt.
Was bedeutet es grundsätzlich für die Psyche der Betroffenen, aus dem Nichts mit Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern konfrontiert zu werden? “Kinderpornografie ist nicht per se traumatisierend”, sagt Andreas Baranowski. Der Psychologe forscht an der Universität Gießen zu den Bereichen Sexualpsychologie und Medienwirkung.
Für manche Menschen seien die Inhalte einfach nur nervig. Für andere bedeute es wiederum eine Re-Traumatisierung. “Wenn Menschen schon mal sexualisierte Gewalt erlebt haben, dann kann die plötzliche Konfrontation dazu führen, dass sie wieder einen Kontrollverlust erleben.”
Zoom erhöht die Sicherheit nur halbherzig
Der Konzern hinter Zoom nimmt das Problem mit den gestörten Videokonferenzen “äußerst ernst”, wie eine Pressesprecherin auf Anfrage von VICE erklärt. “Wir sind zutiefst bestürzt, von dieser Art von Vorfällen zu hören.” Die Pressesprecherin zählt auf, wie Zoom die Sicherheitsmaßnahmen in den letzten Wochen und Monaten verschärft hat. Zum Beispiel haben alle Zoom-Konferenzen inzwischen Warteräume, Gastgeber müssen also neue Teilnehmer per Klick bestätigen. Das reicht aber nicht. Bei Konferenzen mit vielen Teilnehmern, die teils selbst gewählte Spitznamen haben, rutschen Zoom-Bomber trotzdem durch.
Auch bei den anderen Sicherheitsmaßnahmen handelt der Konzern nicht konsequent. Der beste Schutz vor Zoom-Bombing wäre es, wenn nicht einfach jeder Teilnehmer seinen Bildschirminhalt mit allen teilen könnte – so wie Zoom-Bombing-Opfer Timo es sich gewünscht hat.
An dieser Stelle hat Zoom aber nur leicht nachgebessert. In der Gratis-Version von Zoom und in der günstigsten Bezahlversion muss inzwischen der Gastgeber entscheiden, wer seinen Bildschirm teilen darf. Aber für die beiden Firmentarife von Zoom gibt es diese Sicherheitsmaßnahme weiterhin nicht. Damit sind ausgerechnet viel zahlende Kunden, die über besonders sensible Themen sprechen, am schlechtesten geschützt.
So groß ist die Zoom-Bombing-Szene
Für Zoom-Bomber ist all das kaum ein Hindernis. Sie probieren einfach so lange herum, bis sie einen ungeschützten Call kapern können. Bei 300 Millionen Teilnehmenden gibt es immer jemanden, der nicht richtig aufpasst. Um sich zu vernetzen, nutzen die Zoom-Bomber Online-Plattformen wie Twitter, Telegram und die soziale Plattform Discord.
Durch eine simple Suchanfrage auf Telegram konnten wir innerhalb von Sekunden mindestens sieben Gruppen zu dem Thema finden. Sie haben zwischen 22 und 207 Mitglieder. Auf Discord sind die Trolle noch aktiver.
Die von uns beobachteten Discord-Server haben mehrere hundert Mitglieder, die größten über tausend. Allein am 27. Mai posten Trolle auf einem der Server zum Beispiel 6.047 neue Chat-Nachrichten. Sie versammeln sich dort zu Zoom-Bombings und prahlen danach über ihre Erfolge. Wenn Zoom-Konferenzen das Spielfeld der Trolle sind, dann ist Discord ihre Mannschaftskabine.
Bot erfasst 947 Links zu ungeschützten Meetings
Auf dem größten Discord-Server für Zoom-Bombing, den wir entdeckt haben, spuckt ein Twitter-Bot wie am Fließband die Zugangsdaten für ungeschützte Videokonferenzen aus. Der Bot erfasst in Echtzeit, wenn jemand auf Twitter den Link zu einem Zoom-Meeting postet. Twitter bietet dafür besonders praktische Programmierschnittstellen, theoretisch lässt sich aber auch Google auf ähnliche Weise systematisch abgrasen. Zwischen dem 12. Und 27. Mai entdeckte der Bot insgesamt 947 Links zu ungeschützten Zoom-Meetings.
Den meisten wird kaum bewusst sein, dass man die Einladung zu einem Zoom Meeting niemals twittern sollte, selbst wenn man nur eine Handvoll Follower hat. Auch das Team um Zoom-Bombing-Opfer Timo hat wohl so einen Fehler begangen. Zoom-Meetings haben zwar inzwischen ein Passwort, aber dieser Schutz ist aus IT-Perspektive ein Witz: Denn das Passwort wird dem Einladungslink automatisch hinzugefügt. Etwa so, als würde man sein Geld in einen Tresor sperren, und den Code mit Edding auf die Tresortür schreiben.
Wirksam wäre ein Passwort nur, wenn es separat verschickt würde, und zwar allein an die erwünschten Teilnehmenden. Wir haben die Pressestelle von Zoom gefragt, warum sie trotzdem immer noch automatisch Passwörter und Einladungslinks miteinander verbinden. In ihrer Antwort an uns hat die Pressestelle diese Frage schlicht ignoriert. Trolle nutzen diese Trägheit des Tech-Konzerns gnadenlos aus.
Wie rechtsextrem ist die Szene der Zoom-Bomber?
Was beim Streifzug durch die Server der Zoom-Bomber auffällt: In den meisten Fällen richtet sich der Hass gegen Schwarze, jüdische und queere Menschen und gegen Frauen. Ein Meme zeigt einen Schwarzen Jugendlichen, der aus einer braunen Pfütze trinkt. Daneben hat jemand per Bildbearbeitung einen Nesquik-Hasen gesetzt, der für Kakao-Pulver wirbt.
In einem Streit im Forum schaffen es zwei Trolle, mit nur acht Wörtern gleich drei Minderheiten zu diskriminieren: Sie werfen sich N-Wort, “Schwuchtel” und “Jude” an den Kopf. Einer anderer Nutzer postet das Video einer brennenden Regenbogenfahne.
Sind die Zoom-Bomber rechtsextrem? “Die Community ist stark vermischt”, sagt Miro Dittrich. Er arbeitet für die Amadeu-Antonio-Stiftung zu Rechtsextremismus im Netz. Oft gebe es Überschneidungen zwischen Trollen und Rechtsextremen. Das heißt: Nicht alle Trolle sind rechtsextrem und nicht alle Rechtsextremen sind Trolle. Trolle nutzen rechtsextreme Äußerungen, um zu provozieren. Rechtsextreme nutzen Trolling, um ihr menschenverachtendes Gedankengut als Humor zu tarnen.
Angesagt ist laut Dittrich, was Reaktionen hervorruft. Das bestätigen die Beiträge in den Chats auf Discord, die oft als Material für die Zoom-Bombings dienen. Trolle posten unter anderem Videos von verstümmelten Leichen und von Menschen, die Schafe vergewaltigen.
Wie groß die Bandbreite zwischen Rechtsextremen und Trollen ist, beweist der Discord-Server von “D.” – die größte Zoom-Bombing-Community, die wir bei unserer Recherche gefunden haben.
Ein 14-Jähriger kontrolliert einen der größten Server für Zoom-Bombings
Wie “Solo” trollt auch “D.” aus seinem Kinderzimmer heraus. Der 14-jährige Schüler hat innerhalb weniger Wochen rund 1.100 Trolle um sich geschart. Zoom-Bombing ist für D. die beste Freizeitbeschäftigung während der Corona-Pandemie.
“Weißt du, manche ältere Menschen sind sehr streng. Wir nennen sie Boomer. Es macht Spaß, sich über sie lustig zu machen”, erzählt uns D. auf Englisch im Voicechat.
D. findet, man müsse keine Pornos posten, um beim Zoom-Bombing “Spaß” zu haben. “Mach einfach lustige Geräusche und drehe die Lautstärke hoch. Am besten ist es, wenn die Leute mitlachen.” Mit lustigen Geräuschen meint D. zum Beispiel die Hymne der ehemaligen Sowjetunion oder ein Lied namens “N-Wort in my Butthole”. Um sich zu schützen, möchte uns D. nicht seinen richtigen Namen verraten. Er sagt, er lebe in Europa.
“Je mehr Leute kommen, desto toxischer wird es”
Einen Discord-Server zu verwalten, scheint eines der aufregendsten Dinge zu sein, die D. je gemacht hat. “Ich würde mich als anti-soziale Person beschreiben”, sagt er. “Ich spreche nicht oft mit anderen. Ich finde, ich bin hässlich.” D. ist selbst verblüfft, wie schnell sein Discord-Server gewachsen ist. Einmal habe ihm ein Fremder 100 Dollar angeboten, um die Admin-Rechte an dem populären Server zu erhalten. Für D. ist das richtig viel Geld. Aber er hat abgelehnt. “Ich überlasse den Server doch nicht jemanden, der nicht weiß, wie man damit umgeht!”
Auch auf VICE: Waffen, Drogen, Dissidenten: Eine Dokumentation über das Darknet
D. will Verantwortung übernehmen, aber wie soll man schon eine Troll-Community regulieren? D. berichtet, wie er versucht, gegen die toxische Stimmung unter den Trollen zu kämpfen. “Je mehr Leute kommen, desto toxischer wird es. Wenn zwei sich streiten, musst du das lösen.” Wer sich nicht an die Regeln hält, fliege raus. Zu den Regeln gehört: keine Gewaltvideos, keine Pornos, keine Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern, kein toxisches Verhalten. “Es gibt eine Menge Leute, die Ärger machen”, sagt D. “Ein User nannte sich Schwulenschlächter. Er hat um die 50 Accounts angelegt und ich habe ihn immer wieder gesperrt.” Laut eigener Statistik wurden auf D.s Discord-Server seit Anfang Mai bereits 371 Accounts gesperrt.
Inzwischen castet D. Moderatoren, also digitale Streitschlichter. Dafür hat sich der 14-Jährige ein Bewerbungsverfahren ausgedacht. Angehende Moderatoren müssen einen Fragebogen ausfüllen, unter anderem: “Wie gehst du damit um, wenn sich zwei Nutzer streiten?” Und: “Bist du über 13 Jahre alt?”
Inzwischen nehme D. kaum noch selbst an Zoom-Bombings teil. Es sei einfach zu viel zu tun. Um die vier Stunden investiere er täglich in den Server. Dabei hört er Musik von Eminem, KSI und XXXTentacion. Im Hintergrund kreischen seine Wellensittiche. Ein Freund von D. übernimmt die technische Seite und pflegt den Twitter-Bot, der ständig nach ungeschützten Videokonferenzen im Netz sucht. “Du musst ihn auch erwähnen, ich mache das alles nicht allein”, bittet D., als wir mit ihm chatten.
“Du weißt nie genau, wer ein Rassist ist und wer nicht”
Für den gehobenen Trolling-Spaß bietet D. einen separaten VIP-Channel an. Die ungeschützten Videokonferenzen in diesem Channel werden nur von ein paar auserlesenen Trollen gekapert. Wie man dort reinkommt? “Du musst etwas für Covid-19-Erkrankte spenden. Etwas an die WHO zum Beispiel”, sagt D. Als Beleg müssten Zoom-Bomber einen Spendennachweis vorzeigen. Ein paar Dudes hätten schon um die zwei Dollar gespendet – eine anständige Summe für Teenager, die in Taschengeld rechnen.
Wenn D. von seinem Discord-Server erzählt, klingt Zoom-Bombing plötzlich nach einer Lausbubengeschichte. Um zu zeigen, wie ernst D. den Kampf gegen toxische User meint, gibt er uns sogar Zugang zu den Channels, die sonst nur seine Moderatoren zu sehen bekommen. Wir sehen, wie D. und sein Team fleißig Nutzer blockieren.
Viele Aktionen der Zoom-Bomber sind strafbar
Tatsächlich erinnern viele Zoom-Bombings, die auf dem Server von D. starten, zunächst an Klingelstreiche. Innerhalb von Sekunden füllt sich eine gekaperte Konferenz mit lärmenden Teenagern. Einer der Trolle gibt seinen Bildschirm frei und beginnt, mithilfe von Paint einen Pimmel zu zeichnen.
Trotz allem ist das N-Wort auch auf dem Server von D. keine Ausnahme. Neben Penissen gehören auch Hakenkreuze zu den beliebtesten Zeichenmotiven der Zoom-Bomber. Einige User haben als Profilbild Pepe den Frosch, ein Meme der rechtsextremen Alt-Right. Auch D. gesteht ein: “Du weißt nie genau, wer ein Rassist ist und wer nicht.”
D., Solo und die Hunderten anderen Zoom-Bomber laufen Gefahr, sich strafbar zu machen – und zwar gleich wegen mehrerer Delikte. Es ist in Deutschland eine Straftat, anderen Leuten ohne Aufforderung Pornos zu zeigen, das gilt auch für das Präsentieren von Hakenkreuzen und erst Recht für die Verbreitung von Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern.
Wer extremen Lärm macht, zum Beispiel mit der Trillerpfeife ins Mikrofon pfeift, könnte außerdem eine Körperverletzung begehen, erklärt Rechtsanwalt Jens Ferner im Gespräch mit VICE. Probleme könne auch bekommen, wer das gekaperte Meeting aufzeichnet und die Aufnahmen verbreitet.
Sofort handeln, wenn Kinderpornos im Zoom-Meeting erscheinen
Mit vielen von der Polizei geschnappten Zoom-Bombern ist in Zukunft kaum zu rechnen. Rechtsanwalt Ferner schätzt: Wenn der Täter halbwegs geschickt vorgehe, würden strafrechtliche Schritte wenig Sinn machen, da er kaum gefasst werden dürfte. Die Trolle, denen wir während der Recherche begegnet sind, legen jedenfalls Wert auf Anonymität und tauschen sich über Wege aus, ihre IP-Adressen zu verschleiern.
Sofort handeln sollten Opfer von Zoom-Bombings trotzdem, jedenfalls sobald ihre Konferenz mit Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern gekapert wurde. “Betroffene können strafrechtlich belangt werden, wenn sie der Einblendung von Kinderpornografie weiter zusehen, ohne den Chat zu beenden”, warnt Rechtsanwalt Mirko Laudon gegenüber VICE. “Auch wenn die Rechtsprechung hier sehr zweifelhaft ist, gibt es Entscheidungen, die sagen, dass schon das Gelangen der Aufnahmen in den Arbeitsspeicher als Besitz anzusehen ist.”
Für Betroffene lautet der Ratschlag also: Direkt das Fenster schließen. Falls das Meeting aufgezeichnet wurde, sollte der Teil der Aufnahme gelöscht werden, der als “Besitz” von Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern ausgelegt werden könnte.
Am meisten würde es Nutzern helfen, wenn Zoom die technischen Hürden für Zoom-Bombings von Anfang an höher zieht. Timo, der Host des mit Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern gesprengten Online-Stammtischs, hat den Vorfall mehrmals Zoom gemeldet. Der Mailverlauf liegt VICE vor. Die Anfrage sei eingegangen und werde von den Mitarbeitern geprüft, heißt es da. Auf eine inhaltliche Rückmeldung wartet Timo seit vier Wochen.
Update vom 03.06.2020, 15:15 Uhr: Der Begriff “Kinderpornografie” kann Gewalt verharmlosen, deshalb haben wir ihn an vielen Stellen nachträglich durch „Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern” ersetzt.
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