Stell dir vor, Terminal 2 des Flughafens von Kuala Lumpur ist dein Zuhause: lange Korridore, gesäumt mit unbequemen Bänken, führen in eine riesige Ankunftshalle. Im Terminal ist es kalt, weil die Klimaanlage durchgehend auf Hochtouren läuft. Schritte und Stimmen hallen wie in einer Kathedrale und vermischen sich mit den nicht enden wollenden, schrill-nasalen Lautsprecheransagen.
Hassan Al-Kontar aus Syrien lebt genau dort. Seit fünf Monaten steckt er in der malaysischen Hauptstadt am Flughafen fest. Als ich ihn im Terminal finde, sitzt er hinter dem Transfer-Schalter und starrt auf sein Handy. In den Monaten als Gefangener der Bürokratie ist er mager geworden, seine mediale Präsenz wächst dafür immer weiter. Journalisten und Privatpersonen in aller Welt teilen seine Geschichte, inzwischen bekommt er sogar Heiratsanträge von Frauen, die ihm so ein Visum schenken wollen.
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Weil er nicht auffallen möchte, versteckt sich Al-Kontar die meiste Zeit unter einer Rolltreppe im Terminal. Dort bewahrt er auch seinen spärlichen Besitz und seine Camping-Matratze auf. Die Matratze schenkten ihm Unterstützer, nachdem er 50 Tage auf Stühlen und auf einer Decke auf dem Boden geschlafen hatte. Müde sei er, sagt Al-Kontar, und erschöpft davon, dass er seine Geschichte schon so häufig erzählen musste, obwohl er keine Lust auf Social-Media-Ruhm habe. Er sagt, sein Mund und seine Wangen täten vom vielen Reden weh.
Seine Probleme hätten mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 begonnen, erzählt er. Er sei 2006 in die Vereinigten Arabischen Emirate ausgewandert und habe dort im Versicherungsmarketing gearbeitet. Doch 2011 kam die Einberufung ins syrische Militär. “Ich weigerte mich, weil es in Wahrheit keinen echten Feind gibt”, sagt Al-Kontar. “Dazu wurde ich nicht geboren, das ist nicht mein Leben. Ich wollte nicht Teil der Tötungsmaschine werden und meine eigene Heimat zerstören. Ich weigerte mich, wie Tausende andere Syrer auch.”
Vom Kriegsdienstverweigerer zum Staatenlosen
Dann lief im Januar 2012 sein Pass ab. Seine Geschichte erzählt er so: Weil er seinen Militärdienst nicht geleistet hatte, konnte er keinen neuen Pass beantragen. Sein Arbeitgeber in den Emiraten entließ ihn. Die folgenden fünf Jahre saß er dort als staatenlose Person fest, aufgrund seines illegalen Status fand er keine Arbeit. Er schlief auf der Straße, in Autos und in Gärten, häufig bei mehr als 40 Grad im Schatten. Irgendwann erwischte man ihn, so Al-Kontar, doch ein Ex-Kollege habe es geschafft, seinen Pass für zwei Jahre erneuern zu lassen. Er kam aus dem Gefängnis frei und konnte am Flughafen Beamte überzeugen, ihn nach Malaysia zu schicken.
Malaysia ist eines der wenigen Länder, das Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft bei der Ankunft ein Visum ausstellt. So konnte Al-Kontar drei Monate legal in dem südostasiatischen Land leben. Allerdings habe er in der Zeit keinen Job gefunden und seinen Aufenthalt unerlaubt um einen Monat verlängert, sagt er. Dafür musste er eine Strafe bezahlen, seine Familie Geld schickte ihm das Geld, weitere 14 Tage durfte er nun legal im Land bleiben. In diesen zwei Wochen habe er zweimal versucht, Malaysia zu verlassen.
Das erste Mal versuchte er es mit einem Flug von Turkish Airlines nach Istanbul, von dort aus sollte es nach Ecuador gehen – auch dort bekommen syrische Menschen bei der Ankunft ein Visum. Al-Kontar zufolge gelangte er bis zum Gate, doch dann habe man ihn nicht ins Flugzeug gelassen. Die Flugtickets habe man ihm nicht erstattet; Turkish Airlines hat auf eine VICE-Anfrage dazu nicht geantwortet. Der zweite missglückte Versuch führte ihn an Bord einer AirAsia-Maschine nach Kambodscha. Al-Kontar gelangte tatsächlich ans Ziel, doch kambodschanische Beamte schickten ihn zurück nach Malaysia. Er habe die Kriterien für ein Visum nicht erfüllt, so die Begründung.
Die Vereinten Nationen verstehen Angst vor Abschiebung nicht
Als Al-Kontar am siebten März wieder im Terminal 2 des Kuala Lumpur International Airport eintraf, war er sich sicher: Wenn er sein Schicksal nun den Einwanderungsbehörden am Flughafen überließe, würde man ihn in ein Auffanglager stecken und nach Syrien abschieben. Malaysia hat das Genfer Flüchtlingsabkommen von 1951 nicht unterzeichnet; es sichert die Rechte geflüchteter Menschen und verpflichtet Staaten, diese Rechte zu schützen. Also blieb Al-Kontar in der Ankunftshalle. Er befindet sich heute offiziell noch in der Obhut von Air-Asia. Die Airline, mit der er aus Kambodscha zurückkehrte, serviert ihm seit März dreimal täglich das gleiche Reisgericht mit Hühnchen.
“Sie behaupten, sie hätten mir so viele Optionen gegeben. Haben sie aber nicht.”
Hassan Al-Kontar ist ein wortgewandter Mann. Er hat die Monate im Flughafen genutzt, um sich in Sachen internationale Menschenrechte zu bilden. Die Organisation, die Menschen in seiner Situation helfen soll, habe ihn im Stich gelassen, sagt er: das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, kurz: UNHCR. Al-Kontar erklärt, die Organisation habe ihm nach der ersten Welle medialer Aufmerksamkeit ein einmonatiges Spezial-Visum für Malaysia angeboten. Weil Al-Kontar sich zuvor schon illegal in dem Land aufgehalten hatte, war ein normales Visum nicht mehr möglich. Das Spezial-Visum sieht er allerdings nicht als Lösung – Malaysia ist nach internationalen Recht nicht verpflichtet, ihm Asyl zu gewähren. Eine mögliche Abschiebung nach Syrien droht ihm also weiterhin. “Seit zwölf Wochen habe ich nichts vom UNHCR gehört”, sagt Al-Kontar. “Sie behaupten, sie hätten mir so viele Optionen gegeben. Haben sie aber nicht.”
Das UNHCR-Büro in Kuala Lumpur schreibt VICE hierzu per E-Mail: “Sowohl der UNHCR als auch die Regierung von Malaysia haben das Individuum mehrmals kontaktiert.” Man habe Al-Kontar “angemessene Unterstützung” angeboten, um nach Malaysia einzureisen. Dort könnten UNHCR-Personal und andere Stellen seine Situation genauer untersuchen und Lösungsansätze ausarbeiten. “Dem Individuum wurde deutlich Hilfe in Malaysia angeboten, doch er hat bisher entschieden, diese Angebote abzulehnen. Uns scheint, er will nicht in Malaysia bleiben und erwägt stattdessen seine Optionen.”
Hoffnungsschimmer aus Kanada
Al-Kontar hofft nun auf die Unterstützung einer kanadischen Freiwilligengruppe. Die Gruppe hat eine Petition gestartet, in der sie die kanadische Regierung um Asyl für den Syrer ersucht, und bereits mehr als 14.000 Euro für ihn gesammelt. Allerdings kann es bis zu 26 Monate dauern, bis sein Asylantrag bearbeitet ist. Möglicherweise wird man den Prozess für ihn jedoch auch beschleunigen. Dass er wegen des medialen Interesses Privilegien genießt, dessen ist Al-Kontar sich bewusst. Andere Geflüchtete haben keine Kamera vor der Nase, keine Journalisten, die ihre Geschichte erzählen.
Viele Menschen, die Al-Kontar unterstützen, fürchten um seine psychische Gesundheit. Durchgehende Isolation, mangelnde Privatsphäre, ständiger Lärm, grelle Lampen, dazu weder Frischluft noch Tageslicht. Trotzdem wirkt Al-Kontar erstaunlich stabil und macht noch Witze. Als ich ihn im Terminal besuche, überrascht er mich, indem er so tut, als könne er normalerweise durch den Notausgang ins Freie, wann immer er will – er habe nur gerade den Schlüssel verlegt. In Wirklichkeit hat er seit Beginn seiner Flughafen-Gefangenschaft nur ein einziges Mal frische Luft geatmet. Am 122. Tag öffnete jemand kurz den Notausgang. Al-Kontars Optimismus ist allerdings so groß, dass er weiterhin ständig in der Nähe des Ausgangs sitzt – für den Fall, dass noch mal jemand die Tür aufmacht.
Liebe im Herzen wie Mandela
“Ich habe viele Unterstützer. Es gibt viele Menschen, die sich kümmern und die mir schreiben”, sagt er. “Wenn ich mich gerade gut fühle, melde ich mich online zu Wort. Es ist schöner, wenn man glückliche Gefühle teilen kann.” Er habe früher gedacht, jeder Mensch habe ein Limit, einen Punkt, an dem er brechen muss. Inzwischen sieht er es anders. “Wenn du positiv bleibst, brichst du nicht”, sagt er. “Nelson Mandela saß 27 Jahre lang in einem dunklen Gefängnis und kam mit nichts als Liebe im Herzen raus.”
In Al-Kontars trauriger kleiner Ecke des Flughafens gibt es keine Restaurants, keine Cafés, nicht einmal Snack-Automaten. Er muss die Gepäckträger des Flughafens bezahlen, damit sie ihm ab und zu etwas von Starbucks oder McDonald’s bringen; das immer gleiche Airline-Essen bekommt er manchmal einfach nicht runter. Gratis helfen würden ihm die Gepäckträger nicht. Die einzigen Läden in der Ankunftshalle sind Handygeschäfte, Al-Kontar habe sie schon oft nutzen müssen, weil man ihm immer wieder den Handylader stehle. “Ich hoffe einfach, dass diese Leute den Lader unfassbar dringend brauchten”, sagt er.
Die Heiratsanträge von Frauen, die Al-Kontar helfen wollen, kommen inzwischen aus aller Welt. Auf Facebook schreibt etwa eine Frau namens Leeloo Rie: “Hey Hübscher, können wir an dem Flughafen heiraten? Wenn Ja, dann bin ich noch vor dem Winter bei dir! Mein Antrag ist ernst gemeint.” Außerdem hätten ihm Frauen aus den USA, Australien, Kanada, EU-Ländern und sogar aus Tahiti und den Malediven geschrieben. Doch der Staatenlose will nicht mehr illegal sein. “Es ist verboten, nur für ein Visum zu heiraten! Es wäre Betrug! Ich möchte doch nur ein legales Aufenthaltsrecht bekommen.” Trotzdem sei es schön, dass diese Menschen ihm helfen möchten.
“Ich träume davon, meinen Kaffee zu trinken, in die Arbeit zu gehen, neue Freunde kennenzulernen, eine Lady zum Dinner einzuladen – ich will einfach nur leben und in Sicherheit sein.”
Aktuell wartet Al-Kontar auf den Asylbescheid aus Kanada. “Ich habe Hoffnung. Ich werde einen Ort finden, an dem ich sicher bin”, sagt er. In der Zwischenzeit erreichen ihn auch Anfragen für Vorträge, es gibt Angebote für seine Memoiren und für Dokus. Al-Kontar sind einfache Freuden im Moment wichtiger. “Ich träume davon, dass ich meinen Kaffee trinken kann”, sagt er. “Davon zu duschen, in die Arbeit zu gehen, neue Freunde kennenzulernen, eine Lady zum Dinner einzuladen – ich will einfach nur leben und in Sicherheit sein.”
Bevor ich gehe, frage ich ihn, wie ihm die Öffentlichkeit helfen könne. “Die Menschen, die sich kümmern, sind machtlos. Und die Menschen, die Macht haben, kümmern sich nicht”, sagt er. Der staatenlose Syrer ist optimistisch und doch ernüchtert, geduldig und gleichzeitig angespannt, unterstützt von Menschen in aller Welt und dennoch völlig isoliert.
Ich lasse Al-Kontar beim Transfer-Schalter zurück und durchquere ohne Probleme den Ankunftsbereich des Terminals. Noch nie habe ich mich mit meinem britischen Pass und all den Vorteilen, die er bringt, so privilegiert gefühlt. Mächtig mag man als einzelne Person auch in Europa nicht sein, aber vielleicht können wir gemeinsam eine Welt formen, in der Menschenrechte, die eigentlich universell sein sollten, nicht mehr von einem Pass abhängen.
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