Die Hitze liegt schwer über Yangon, der ehemaligen Hauptstadt von Myanmar, als ich dort 2019 das alljährliche Fotofestival besuchen will. Ich spaziere durch die geschäftigen, glühenden Straßen eines der muslimischen Stadtteile. Plötzlich kann ich meinen Augen kaum trauen, denn ich stehe völlig unerwartet vor einer Synagoge.
2014 wurde die letzte Volkszählung in Myanmar durchgeführt, die Ergebnisse veröffentlichte man zwei Jahre später. Darin steht, dass es 135 ethnische Gruppen in dem südostasiatischen Staat gebe. Buddhistinnen und Buddhisten machten dabei fast 90 Prozent der Bevölkerung aus. In den vergangenen Jahren schrieb Myanmar weltweit Schlagzeilen wegen der fortlaufenden Misshandlung der Rohingya, einer staatenlosen muslimischen Minderheit. Die staatliche Hasskampagne, die die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen als “gezielte, vom myanmarischen Militär ausgehende Gewalt” beschreibt, begann 2017 und dauert bis heute an. Und das, obwohl bereits ein Großteil der Rohingya nach Bangladesch geflohen ist.
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Die jüdische Community von Myanmar war nie groß. 1940 gehörten ihr die meisten Menschen an, nämlich ungefähr 2.500 Jüdinnen und Juden. Es handelte sich überwiegend um Nachkommen von Migrantinnen und Migranten aus dem Irak und Indien, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Myanmar gekommen waren. Als japanische Soldaten 1942 in das Land einmarschierten und der Konflikt mit den Alliierten eskalierte, floh ein Großteil der jüdischen Community zum Beispiel nach Indien.
1969 verließ der letzte Rabbi Myanmar. Heute leben nur noch rund 20 Jüdinnen und Juden dort unter knapp 55 Millionen Menschen.
Einer davon ist der 40 Jahre alte Sammy Samuels. Er kümmert sich als Laienvorsteher um die einzige Synagoge in Myanmar, die sich mitten in Yangon in der Nähe eines der belebtesten Märkte befindet. Das Gotteshaus existiert dort seit 1857. Samuels wird von seinen beiden Schwester unterstützt: Zu dritt folgen sie in die Fußstapfen ihres Vaters Moses und versuchen, die Überbleibsel von Myanmars jüdischem Erbe und jüdischer Identität zu bewahren. Das ist für sie vor allem deswegen wichtig, weil sie dadurch eine feste Community erhalten und in Zeiten der jahrzehntelangen politischen Unruhen weiter Hoffnung haben und überleben.

Gegenüber der Synagoge verbringt der 67-jährige Mohammed Rachid seine Tage am liebsten damit, vor seinem Laden zu sitzen. Er gehört zur muslimischen Community von Yangon. “Ich bin jetzt seit fast 40 Jahren hier und hatte noch nie ein Problem”, sagt er. “Diese Synagoge ist so etwas wie mein zweites Zuhause.”
Dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Rachid und der jüdischen Community basiert dabei auf viel mehr als nur Höflichkeit. Denn Rachid und Samuels spielen beide eine wichtige Rolle bei den Vorbereitungen für große Events, die in ihren Religionen gefeiert werden: Chanukka, Purim und Ramadan.


Sammy Samuels ist aber nicht der einzige Jude, mit dem ich mich in Yangon treffe. Ich lerne auch Christina Adi kennen. Die 50-Jährige ist vielleicht die einzige Person weltweit, die aus einer myanmarisch-buddhistischen Familie stammt und zum Judentum konvertiert ist. Diese außergewöhnliche theologische Entscheidung erscheint noch außergewöhnlicher, wenn man bedenkt, wie schwierig es zum Zeitpunkt von Adis Übertritt Ende der 90er war, an Infos zu kommen. Myanmar bekam nämlich erst im Jahr 2000 Zugang zum Internet. Dementsprechend war Adi auf ältere Mittel der Informationsbeschaffung angewiesen: Sie las jedes Buch über das Judentum, das ihr in die Hände kam, und unterhielt sich mit jedem Menschen jüdischen Glaubens, den sie irgendwie kennenlernte.
Auch wenn die jüdische Community in Myanmar winzig ist, unterhält das Land schon seit Anfang der 1950er Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel. Myanmar gehörte damals auch zu den ersten asiatischen Staaten, die Israel offiziell anerkannten. Vielleicht trug das mit dazu bei, dass sich Adi 1999 dazu entschied, nach Israel zu reisen. “Ich konnte mit dem Judentum zuerst nicht wirklich etwas anfangen. Aber irgendwie verspürte ich dieses unerklärliche Gefühl, dass ich mich sehr dafür begeistern könnte”, sagt sie.

Was ursprünglich als dreimonatiger Urlaub geplant gewesen sei, habe sich zu einem zweieinhalb Jahre langen Aufenthalt in Israel entwickelt, bei dem sich Adi ehrenamtliche engagierte, mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt und Hebräisch lernte. “Dabei wurde mir klar, was das Judentum wirklich ist”, sagt sie.
Für ihren religiösen Übertritt sei es nötig gewesen, dass sich die Myanmarin an die strengen orthodoxen Regeln hält. Also habe sie die Hebräische Bibel und die dazugehörigen Lehren studiert. Und sie habe ihre Haare bedeckt. Insgesamt habe Adi zwei Jahre bei einer religiösen Familie gelebt, um zu beweisen, dass sie wirklich zum Judentum konvertieren will und sich ihrem adoptierten Glauben voll verschreibt.

Der örtliche Großrabbiner habe Adis Vorhaben mit argwöhnischen Augen gesehen. “Ich habe ihn vielleicht achtmal besucht und es danach gelassen, denn die Treffen liefen immer gleich ab. Er fragte mich die ganze Zeit, ob ich nur Jüdin sein wollte, weil mein Partner auch Jude ist. Oder weil ich vielleicht auf die israelische Staatsbürgerschaft aus bin. Weder noch, ich bin einfach vom jüdischen Glauben überzeugt”, sagt Adi, als wir uns bei ihr zu Hause in Yangon unterhalten.
Adi kehrte schließlich nach Myanmar zurück. Genau wie für Samuels geht das Jüdischsein auch für sie über die reine theologische Zugehörigkeit hinaus. Sie beschreibt das Ganze als eine Art Gesellschaft und nicht nur eine religiöse Gruppe. Nicht jeder begreife, warum ein Mensch, der buddhistisch erzogen wurde, zum Judentum konvertieren will. Selbst Familienmitglieder und enge Freunde von Adi hinterfragten ihre Entscheidung bis heute. “Ihnen fällt es schwer, das zu verstehen. Sie verstehen aber auch nicht, worum es beim Judentum geht”, sagt Adi.

“Die Situation innerhalb der Community hat sich nicht wirklich verändert, aber mit dem Coronavirus und dem Militärputsch läuft in Myanmar gerade alles anders”, schreibt mir Samuels in einer aktuellen Nachricht. Diese beiden Dinge hätten dazu geführt, dass mehrere Leute aus der jüdischen Gemeinde Myanmar verlassen haben. Die Samuels seien allerdings schon immer in der Lage gewesen, all die Traditionen, die über die Jahre verloren gegangen sind, wieder einzuführen und weiterzuentwickeln. “Wir hoffen, dass das Militärregime bald vorbei ist”, so Samuels weiter, “und dass die Demokratie dann wieder zurückkehrt.”




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Update, 8. Dezember 2021, 10:05 Uhr: Wir haben die genaue Bezeichnung für Sammy Samuels Amt in der Gemeinde nachträglich ergänzt.