Wo viele Menschen um verstorbene Verwandte und Freunde trauern, ziehen andere eine Familie groß. In Kairo leben Menschen auf den Friedhöfen der Stadt, genauer gesagt in den winzigen Räumen, die eigentlich dafür gedacht sind, Besuchern etwas Schutz vor der knallenden Sonne zu bieten. Doch seit Jahrzehnten machen sich die Friedhofsbesitzer den fehlenden bezahlbaren Wohnraum in der ägyptischen Hauptstadt zu Nutze, indem sie diese Räume an Arme vermieten. Heute leben Schätzungen zufolge eine Million der 19 Millionen Kairoer auf einem Friedhof.
Die 66-jährige Nariman Al Samra lebt schon immer auf dem Salah-Salem-Friedhof. “Das ist jetzt seit gut 70 Jahren mein Ausblick”, sagt sie und dreht sich in Richtung eines Meers an Grabsteinen. Ihr Zimmer ist spärlich eingerichtet: ein kleines Bett, drei Stühle, ein Ventilator und ein Foto von ihr, als sie noch jung war. Nariman glaubt nicht mehr daran, dass die Behörden ihr irgendwann noch eine menschenwürdigere Unterkunft zur Verfügung stellen.
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“Ich wurde hier geboren, ich habe hier geheiratet und meine Kinder bekommen und ich will hier auch begraben werden”, sagt sie. In 66 Jahren habe man ihr nie eine richtige Wohnung angeboten. “Und jetzt habe ich selbst nicht mehr lange zu leben.” Ihre beiden Söhne, die außerhalb des Friedhofs wohnen, will sie nicht nach Geld fragen: “Die haben ihre eigenen Familien und Probleme”, sagt sie. “Ich kann sie nicht um das bitten, was für ihre Kinder bestimmt ist.”
Obwohl Nariman ihr ganzes Leben auf einem Friedhof verbracht hat, sagt sie, sei sie es immer noch nicht gewohnt, ständig von Leichen umgeben zu sein. Vor allem nachts habe sie Angst: “Die schlaflosen Nächte kommen vor allem dann, wenn gerade eine Beerdigung stattgefunden hat.” Sie versuche, in der Woche nach einem Begräbnis nicht über den Friedhof zu spazieren.
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Narimans Tochter Fatma lebt zusammen mit ihrem Ehemann und ihren vier Kindern direkt nebenan. Ein festes Einkommen hat sie nicht, sie verkauft nur ab und an Enten und Hühner auf einem Markt. Fatma hat mit ihrer Familie zwar mal zeitweise in den Slums von Südkairo gewohnt, aber irgendwann mussten sie auf den Friedhof zurückkehren. “Plötzlich stieg unsere Miete und wir hatten keine andere Wahl, als wieder bei meiner Mutter einzuziehen.” Im Februar 2016 hat sich Fatma für Sozialhilfe und eine Sozialwohnung beworben. Auf eine Antwort der Behörden wartet sie bis heute.
Fatma erzählt, auch ihre Kinder hätten nach Einbruch der Dunkelheit Angst: “Oft wecken sie mich mitten in der Nacht auf, weil sie nicht allein durch die Grabsteine zum Klo laufen wollen.” Tagsüber sind genau diese Grabsteine aber nützlich – zum Beispiel beim Versteckspiel.
Obwohl sich der Salah-Salem-Friedhof direkt neben der größten Polizeiwache Kairos befindet, fühlen sich die Bewohner laut Fatma nicht sicher. “Für Diebe sind wir ein einfaches Ziel”, sagt sie. “Und wenn wir die Polizei holen wollen, ignoriert man uns.”
Auf einem anderen Friedhof in der Nähe geht es ähnlich zu. Haj Hanafy sitzt jeden Tag vor dem Metalltor, der 80-Jährige ist der Wachmann der Grabstätten – ein Job, den er von seinem Vater geerbt hat. Hanafys Arbeitsplatz ist auch gleichzeitig sein Zuhause. Zusammen mit seiner Frau lebt er zwischen den Gräbern in einem Zimmer ohne Fenster, seine Tochter Kawthar und ihre zwei Söhne sind die Nachbarn gegenüber. Allerdings, sagt Hanafy, wollen ihn die Friedhofsbesitzer rausschmeißen und durch einen jüngeren Wachmann ersetzen. “Wenn es wirklich soweit kommt, habe ich keine Ahnung, wo ich und meine Familie hinsollen”, sagt er.
“Die meisten Leute glauben, dass man sich an den Friedhof und an den Tod gewöhnt”, sagt Hanafys Tochter Kawthar, die als Putzkraft arbeitet. “Das stimmt aber nicht. Meine Kinder und ich gehen oft verängstigt ins Bett.” Am meisten Angst habe sie aber nicht vor den Toten. Sondern davor, dass ihr Vater tatsächlich seinen Job verliert.
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