„Wir lieben Kylie Jenner!”
Ich befinde mich im Hauptsitz der Spielzeugfirma MGA Entertainment und einer der Bratz-Puppen-Designer, dessen Namen ich aus nicht weiter ausgeführten rechtlichen Gründen nicht erfahren darf, schwärmt mir von Kylie Jenner vor. 2001 wurden die „ethnisch breit gefächerten” Puppen (so ein Vertreter des Unternehmens) offiziell auf den Markt gebracht und sie haben es seitdem durch ihren Streetwear-Style, ihre großen Köpfe und ihre Schmollmünder zu großer Berühmtheit geschafft. Listicle-Autoren bezeichnen Kylie Jenner dank ihrer großen Lippen und ihres hippen Styles regelmäßig als Bratz-Puppe und die Designer fassen das als Kompliment auf.
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„Kylie sieht aus wie eine Bratz-Puppe und verkörpert das Ganze perfekt”, erklärt er. „Kylie weiß genau, was es heißt, in den sozialen Netzwerken beliebt zu sein, mit anderen Leuten zu interagieren und einfach einzigartig rüberzukommen.”
Genauso wie Kylie haben auch die Bratz-Puppen seit ihrem Aufkommen für Kontroversen gesorgt. 2007 hat die American Psychological Association das Spielzeug zum Beispiel dafür kritisiert, junge Mädchen zu sexualisieren. Daraufhin haben sich viele Eltern auf Yahoo-Foren gestürzt, um sich über den negativen Einfluss der Puppen zu informieren. Es wurde sogar eine Facebook-Seite mit dem illustren Namen „Bratz dolls are the sluts in every Barbie dream house” erstellt und mehrere Mutti-Blogs haben es nicht geschafft, zwischen der ganzen Kritik in Bezug auf die vermeintliche Hypersexualität des Spielzeugs auch mal die Vielfalt der Marke zu erkennen. Diese Kontroversen sind jetzt aber schon eine ganze Weile her und waren lange vor Slut Walks und#OscarsSoWhite ein Thema.
Letztes Jahr wurden die Puppen mit weniger Make-up und anderen Klamotten neu aufgelegt. Beanies sind out, T-Shirts mit „Selfie”-Aufdruck dagegen voll im Trend. Vor Kurzem hat das Unternehmen sogar eine „Music Vibes”-Bratz-Reihe rausgebracht, die wohl am besten als Kate Hudson, die sich beim Coachella-Festival als Bohémien verkleidet, beschrieben werden kann, denn die Puppen tragen Schlag-Hüfthosen sowie Shirts mit aufgedruckten Traumfängern.
„Bei einem Themen-Brainstorm meinten wir alle so ‚Musikfestivals? Auf jeden Fall!’”, erklärt mir der Designer. „Der eigentliche Charakter ist gleichgeblieben, aber das Aussehen hat sich definitiv verändert. Ich trage doch auch nicht mehr meine Jogginghosen von vor zehn Jahren.” Glitzer wird allerdings immer ein festes Accessoire der Puppen bleiben. „Regel Nummer Eins: Zu viel Glitzer gibt es nicht”, meint er.
Die Vertreterinnen der Bratz-Reihe sind immer noch die vier Original-Freundinnen (Jade, Cloe, Sasha und Yasmin), aber inzwischen hat sich auch noch Raya dazugesellt und jede Puppe hat ihr eigenes Haustier bekommen (Chloe besitzt zum Beispiel ein Schwein mit Flügeln). MGAs Marketingstrategie hat sich jedoch verändert, um auf eine Generation an Kindern abzuzielen, die mit einem Smartphone aufwachsen. So unterhält der Spielzeugriese eine Bratz-App, veröffentlicht regelmäßig Bratz-YouTube-„Webisodes” und fordert die Fans dazu auf, die Puppen für Instagram abzulichten. MGA zufolge ist die derzeit am meisten verkaufte Puppe eine „Selfie”-Puppe. Im November letzten Jahres gab es in Kollaboration mit der New Yorker Fashion-Plattform VFILES auch eine limitierte Ausgabe des Spielzeugs. „Wir haben uns mit VFILES zusammengeschlossen, weil sie edgy und immer am Puls der Zeit sind”, erklärt die Kreativdirektorin von Bratz, die auch lieber anonym bleiben will. „Diese Partnerschaft war einfach etwas ganz Natürliches.”
Unter Angabe von nicht weiter ausgeführten rechtlichen Gründen weigert sich MGA, mir die Namen bestimmter Angestellter zu verraten. Unsere Gespräche darf ich dennoch aufzeichnen. Genauso wie bei der Atomwaffenproduktion gibt es auch bei MGA viele Vorschriften. Der Hauptsitz des Unternehmens befindet sich in Van Nuys, einem Stadtteil von Los Angeles. Zwischen einer Budweiser-Brauerei und einem Flughafen liegend gleicht das Ganze am ehesten einem Uni-Campus und besteht aus mehreren Gebäuden, die alle schwer bewacht werden.
Um in den Raum zu gelangen, wo die Bratz-Puppen entworfen werden, muss man erst mehrere Security-Checkpoints passieren. Als meine Fotografin und ich im Empfangsbereich ankommen, der mit Bildern von Joey Fatone mit zwei Bratz-Puppen und von Nick Lachey mit einem Bratz-Gameboy-Spiel dekoriert ist, werden wir vom Rezeptionisten als erstes angewiesen, keine Fotos zu schießen und eine Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben. Während ich versuche zu erklären, dass wir Journalisten sind und unser Hauptauftrag deswegen darin besteht, Informationen preiszugeben, betritt MGAs PR-Chefin Jennifer Campana den Raum. Erst nachdem sie den Sicherheitsbeamten davon überzeugt hat, dass alles in Ordnung ist, dürfen wir das Gebäude wirklich betreten.
Nach dem Empfangsbereich führt uns Campana durch eine Reihe an Arbeitsnischen, eine Treppe hinunter, über den Parkplatz und zu einem anderen Gebäude. Hier werden die Bratz-Puppen hergestellt und dementsprechend wird besagtes Gebäude auch noch schwerer bewacht. Um eintreten zu dürfen, müssen wir erst mit einer Sicherheitsmitarbeiterin, mit ihrem Vorgesetzten („Niemand betritt ohne Erlaubnis dieses Gebäude!”) und schließlich noch mit einem leitenden Angestellten reden. Letztgenannter hat aber endlich die Befugnis, uns die benötigte Erlaubnis zu erteilen.
Obwohl MGA laut Forbes 2012 820 Millionen Dollar Gewinn gemacht hat, sehen sich die Angestellten immer noch als Rebellen. „Aus der Geschäftsperspektive betrachtet, sind wir ein ziemlich aufmüpfiges und kleines Unternehmen”, meint Campana. „Aber wir lieben es einfach, vorne mit dabei zu sein und tolle Puppen mit toller Kleidung zu produzieren.” Der Napoleon-Komplex und die Paranoia der Firma liegen wohl dem jahrzehntelangen Rechtsstreit mit dem Spielzeuggiganten Mattel zugrunde.
Kurz nach der Jahrtausendwende schaffte es MGA zum ersten Mal, mehr Bratz-Puppen zu verkaufen als Mattel Barbies. 2004 verklagte Mattel MGA dann und behauptete, dass Carter Bryant die Bratz-Puppe entworfen hat, als er noch bei Mattel angestellt war. Im darauffolgenden Jahr machte Mattel mit seinen Barbie-Puppen einen Umsatz von 445 Millionen Dollar, während MGA Bratz-Puppen im Wert von ungefähr 800 Millionen Dollar verkaufte. 2008 gewann Mattel denRechtsstreit und MGA wurde angewiesen, alle Bratz-Puppen aus dem Verkauf zu nehmen. Das Unternehmen ging natürlich in Berufung und konnte sich letztendlich durchsetzen: Mattel musste MGA über 309 Millionen DollarSchadensersatz zahlen. 2014 ging MGA dann erneut vor Gericht und verklagte Mattel auf eine Milliarde Dollar. Dem Wall Street Journal zufolgebehauptet das Bratz-Team dabei, dass die Barbie-Hersteller Spione in die MGA-Ausstellungsräume geschickt hätten, um Ideen zu klauen. In diesem Fall wurde bis jetzt noch kein Urteil gesprochen.
Trotz des ganzen im Wall Street Journal beschriebenen Dramas machen die Bratz-Örtlichkeiten mehr den Eindruck einer Modeboutique als eines Unternehmensbüros. MGA hat für die Kreation der Puppen nur zwei Designer angestellt: Einmal den bereits erwähnten Mann, der einen Rock und einen Beanie mit „MEOW”-Aufschrift trägt, und dann noch eine Frau namens Danna Darma. Sie ist mit einem rosa-hellblauen Cardigan bekleidet, der perfekt zu ihren ebenfalls rosa-blau gefärbten Haaren passt. Sowohl Darma als auch ihr Kollege haben am Otis Culture Institute von Los Angeles Modedesign studiert.
„Mir haben die Puppen schon immer gefallen”, erzählt Darma. „Es gab mal einen von Walmart organisierten Wettbewerb, bei dem man sein eigenes Bratz-Exemplar entwerfen sollte. Da habe ich mitgemacht und natürlich nicht gewonnen—aber jetzt bin ich ja hier!”
Ihren Arbeitsbereich hat Darma mit einem Skateboard, mit mehreren aufgespießten Puppenköpfen und mit Bildern von Knochen dekoriert. Ihr Kollege hat hingegen Fotos von heißen Typen aufgehängt, die wie Skelette angemalt sind. Die beiden teilen sich eine Art schwarzes Inspirationsbrett und um ein „BRATZ”-Neonschild herum haben sie Magazinartikel und Fan-Art drapiert. In der Mitte des Raums haben die beiden außerdem einen großen Tisch platziert, den sie als „Produktionsfläche” bezeichnen.
Auf den Schreibtischen lassen sich verschiedene Magazine wie etwa Nylon Japan und Modellzeichnungen finden. Hier werden die Puppen entworfen und verschiedene Stoffe ausprobiert. „Zu jeder Modesaison machen Dana und ich uns ans Werk”, erklärt mir der Designer. „Wir setzen uns dann zusammen und denken darüber nach, was gerade als cool gilt. Wenn das zum Beispiel Einradfahren ist, dann machen wir eine Bratz-Einrad-Reihe—wir studieren dann die jeweilige Mode, kaufen die passenden Stoffe ein und so weiter.” Dabei zeigt er mir verschiedene Kisten voller Puppenaccessoires: Handtaschen, High Heels und Stiefel. Ich sehe aber auch andere Boxen, die verschiedenfarbige Puppen enthalten und mit Aufschriften wie „Medium Black”, „Light Pink” oder „Asian Light” versehen sind.
Die Designer und Campana planen zusammen aber auch ausgefallene Publicity-Stunts. Nach den Emmys entwarfen sie zum Beispiel Bratz-Versionen von Amy Schumer und Taraji P. Henson. Als die Grammy-Nominierungen verkündet wurden, folgten sofort Meghan-Trainor- und Taylor-Swift-Puppen. Das Ganze wurde in den sozialen Netzwerken natürlich entsprechend beworben.
Die Lieblingskreation der Designer ist jedoch die Bratz-Version der Künstlerin Frida Kahlo. Basierend auf dem künstlerischen Schaffen eines Fans trägt die Puppe ein blau-rotes Kleid. Frida wird hier als ein unabhängiger Freigeist gesehen, der auch vor Kontroversen nicht zurückgeschreckt ist und trotzdem total freundlich und aufrichtig war. „Frieda und die Puppen haben vieles gemeinsam. Sie war damals so etwas wie eine OG-Bratz”, erklärt mir der Designer. „Sie war einfach sie selbst und interessierte sich nicht für irgendwelche gesellschaftlichen Standards und Normen. Sie schreckte nicht davor zurück, sich durch ihre Kunst und ihre Augenbrauen selbst auszudrücken.”
Wenn die Puppen fertig entworfen sind, werden sie noch mal zusammen mit der Marketing-Abteilung und Jasmin besprochen. Bei Jasmin handelt es sich um Jasmin Larian, MGA-Teilhaberin und Tochter von Isaac Larian, dem milliardenschweren Besitzer des Unternehmens. Passenderweise sieht sie auch noch ein bisschen aus wie eine Bratz-Puppe. Laut eigener Aussage ist sie sich nicht sicher, ob ihr Vater die Bratz-Vertreterin Yasmin nach ihr benannt hat, aber sie war auf jeden Fall eine große Hilfe bei der Entwicklung der Marke.
„Ich war damals 12 und MGA suchte nach einem Produkt, das richtig durch die Decke gehen würde. Barbie war zu dieser Zeit mit 90 Prozent Marktanteil im Puppengeschäft absolut führend und wir wollten etwas erschaffen, das diesen Umstand ändert”, erzählt Jasmin. „Es gab einfach keine Vielfalt, sondern nur diese eine blauäugige Blondine. Ich war zufällig bei dem Meeting anwesend, in dem ein Designer meinem Vater die ersten Zeichnungen einer Bratz-Puppe präsentierte, und auch sofort total angetan. Mein Vater war anfangs jedoch nicht wirklich begeistert, so nach dem Motto ‚Warum haben die so große Köpfe und warum lassen sich die Füße abnehmen?’ Ich meinte jedoch: ‚Die sind so cool! Ich will diese Puppen unbedingt haben!’ Das funktionierte. Er gab sie in Produktion.”
Für Jasmin ist Fashion der Schlüssel zur Marke Bratz. „Ich finde es wirklich bemerkenswert, dass unser Designteam tatsächlich aus Modedesignern besteht”, meint sie. „Sie haben schon Kleidung für echte Menschen entworfen.” Darma hat zum Beispiel viel bei Bob Mackie gelernt, die gleichnamige Firma des Designers, der auch schon Joan Rivers und Cher eingekleidet hat. Die Kreativdirektorin, die im Schneidersitz auf einem Schreibtisch neben Jasmin sitzt, erzählt mir anschließend davon, wie sie für eine flippige Modeboutique vorher als Einkäuferin gearbeitet hat.
Alle Anwesenden scheinen wie eine Einheit zu funktionieren und geben gerne mit dem Modebewusstsein der Marke an. „Bei anderen Puppen werden keine echten Stoffe verwendet”, erklärt mir der Designer. „Dort kommen dann irgendwelche albernen Drucke zum Einsatz. Hier hat jedoch alles Hand und Fuß.”
Als ich frage, was denn in Bezug auf die Bratz-Puppen die größte Fehlannahme sei, bekomme ich von allen die gleiche Antwort. „Dass sie Schlampen sind”, meint der Designer. „Ich glaube nicht, dass die Art, wie du die Puppe anziehst, irgendwie Aufschluss darüber gibt, was für ein Mensch du bist.” Jasmin stimmt dem zu: „Selbst damals, als sie noch total als ‚Schlampen’ galten, fand ich sie richtig süß und cool und wollte mit ihnen abhängen.”
Als Pressesprecherin geht Campana die Sache mit dem schlechten Ruf der Bratz-Puppen etwas weniger direkt an. „Die Puppen haben schon immer nur auf Zeichnungen basiert und sollen deshalb gar keine echten Körper darstellen”, meint sie. „Deswegen auch die großen Köpfe—das ist der Anime- und Cartoon-Einfluss.” Laut Campana verstehen die jungen Fans den Kontext des Aussehens der Puppen—selbst wenn die Eltern das nicht tun sollten. „Immer wenn irgendeine negative Diskussion oder ein neuer Blog-Verriss auftaucht, stellen sich die Fans entschlossen hinter uns. Als eine Frau zum Beispiel mal das Make-up der Puppen entfernte und ihnen so einen natürlichen Look verpassen wollte, meinten unsere Anhänger einfach nur: ‚Warum sollte man so etwas machen?’”, erzählt sie lachend. „Die Fans halten uns wirklich gut den Rücken frei.”
Als sich Jasmin noch mal zu den Puppen äußert, ist ihre Leidenschaft richtig zu spüren und sie wird plötzlich richtig laut.
„Bratz-Fans sind mit einem schwarzen US-Präsidenten aufgewachsen”, sagt sie. „Sie sind so gesehen farbenblind. Ich weiß noch, wie ich einem Spielzeuggeschäft bei der Einführung dabei war und junge Mädchen dabei beobachtete, wie sie sich ihre Puppen aussuchten. Eine typische blonde Amerikanerin hat sich für Sasha [das schwarze Bratz-Modell] entschieden—und zwar nicht aufgrund der Hautfarbe. So etwas ist für diese Mädchen einfach nicht wichtig. Sie hat sich Sasha ausgesucht, weil sie sich mit deren am meisten identifizieren konnte.”
Jasmin ist natürlich nicht ganz objektiv, denn sie wird irgendwann mal wohl mindestens einen Teil des Vermögens ihres Vaters erben. Ihre Aussage ergibt jedoch Sinn, denn auch wenn die Bratz-Puppen und die Aussagen ihrer Schöpfer manchmal etwas lächerlich anmuten, so ist es dennoch wahr, dass MGA bereits lange vor der großflächigen Diskussion über Feminismus und ethnische Vielfalt offenherzige Puppen mit unterschiedlichen Ethnien produzierte.
„Vor uns hat sich niemand getraut, eine Gruppe Puppen mit unterschiedlichen Ethnien herzustellen”, meint Jasmin.
Können die Bratz-Puppen dann wirklich auch als feministisch angesehen werden? Die Kreativdirektorin weicht meiner Frage aus und meint: „Ich glaube, dass dem Feminismus ein gewisses Stigma anhaftet, das zwar immer weniger wird, aber eben noch nicht ganz weg ist. Ich bin jedoch auch fest davon überzeugt, dass Bratz-Fans einen starken Willen haben, unabhängig sind und kreativ denken können.”
Der Designer fasst die Aussage der Puppen womöglich am besten zusammen: „Demi Lovato hat ein Lied, in dem es heißt ‚What’s wrong with being confident?’. Bratz ist für mich genau das. Wieso sollte es denn falsch sein, selbstbewusst aufzutreten und sich nicht zu verstellen?”