Schon seit hunderten von Jahren ist Lübeck die Marzipanhauptstadt. Noch heute sind dort vier große Produzenten angesiedelt, der berühmteste ist das Traditionsunternehmen Niederegger, dessen Produkte in 40 Länder auf der ganzen Welt exportiert werden. 1806 wurde Niederegger als kleine Konditorei gegründet und schon bald produzierte sie für die Reichen und Mächtigen, vom russischen Zar zu Kaiser Wilhelm II, der das Unternehmen zum Hoflieferanten ernannte.
Heute ist aus der kleinen Konditorei ein riesiger Betrieb geworden, der jeden Tag bis zu 30.000 kg Marzipan in mehr als 300 verschiedenen Variationen herstellt—Marzipan in dunkler Schokolade, Marzipan in Vollmilchschokolade, Marzipan mit Pistazien … ihr habt das Prinzip verstanden. Bei einer Führung durch die Fabrik schaute ich mir das Ganze genauer an.
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Ich gebe zu: Die Bezeichnung „Süßigkeiten-Junkie” wäre eine Untertreibung. Seit ich nach Deutschland gezogen bin, habe ich die Kontrolle über meinen Kuchenkonsum verloren. Letztes Jahr zu Weihnachten habe ich so viele Marizpankartoffeln gegessen, dass ich mich schäme, darüber zu sprechen.
Ihr könnt euch meine Euphorie, als ich die Fabrik betrat, also vorstellen. Ich hatte das dämliche Grinsen und die verschwitzten Handflächen von Charlie Bucket in der Schokoladenfabrik.
Empfangen wurde ich nicht von Willy Wonka, sondern Niedereggers Sprecherin Kathrin Gaebel, die mir sofort einen gigantischen, weißen Kittel und ein Haarnetz überreichte. Ich tauschte meine Ringe gegen Handschuhe und meinen Stift gegen einen ohne zerbrechliche Teile. Dann begaben wir uns in die Rohverarbeitungsabteilung, wo die Produkten jeden Tag mit zwei Zutaten beginnt: Mandeln und Zucker.
Während man sich mittlerweile einig ist, dass Marizpan ursprünglich aus dem Orient stammt und mit den Arabern nach Europa gelangte, soll Lübeck einer lokalen Legende zufolge 1407 an einer Hungersnot gelitten haben und deshalb mahlten die Bewohner Mandeln und Zucker, um marci panis [lateinisch: Markusbrot] daraus herzustellen. Im Mittelalter wurde Marzipan zu medizinischen Zwecken gegen Flatulenz oder als Potenzmittel eingesetzt.
Wie dem auch sei, das uralte Rezept ist immer einfach geblieben—nur der Prozess ist heutzutage durch die Technologie schneller geworden.
Zuerst werden die Mandeln drei bis vier Stunden in einen riesigen Behälter mit heißen Wasser eingeweicht, bis sich die Schale langsam löst. Anschließend werden die Nüsse mit einem High-Tech-Laser gescannt, der Schalenüberreste sowie Farb- und Formabweichungen feststellt. Zu guter Letzt wird die Ladung von zwei menschlichen Augen begutachtet und freigegeben. „Keine Maschine ist so gut wie ein Mensch”, findet Gaebel.
Als nächstes werden die Mandeln in winzige Stücke gehackt. Während manche Marzipanproduzenten die Nüsse zu Pulver mahlen, setzt Niederegger auf eine leicht krümeligere Konsistenz.
Zum Schluss kommt eine letzte Zutat hinzu, weißer Zucker „aus der Region”, sagt Gaebel, „Das gleiche Zeug, mit dem man zu Hause backt”. Der Geruch erinnert mich an gebrannte Mandeln, ein weiterer Winterklassiker.
Traditionell wird die Mandelpaste aus zwei Dritteln Mandeln und einem Drittel Zucker hergestellt. An dieses Verhältnis hält man sich bei Niederegger sehr streng. So hebt sich das Produkt des Unternehmens von den zahlreichen anderen auf dem Markt ab: Manche Hersteller mischen bis zu 50 Prozent Zucker zu der Mandelmasse, um Kosten zu sparen, büßen dafür jedoch Qualität und Geschmack ein.
Die Mischung landet dann in einem riesigen, offenen Topf und über einer Flamme wird kräftig gerührt—die komplizierteste Aufgabe bisher. Die perfekte Temperatur ist so heiß, dass das Marzipan gerade nicht anbrennt. In diesem Schritt wird die Masse dickflüssig und klebrig. Da keine zwei Lieferungen Nüsse gleich sind, kann dabei jedes Mal etwas anderes herauskommen.
Konditoren dürfen ihr Produkt immer kosten, um sicherzugehen, dass es auch schmeckt—aber Gaebel sagte, dass das heute kaum mehr einer macht. „Jeden Tag Marzipan zu essen, kann ziemlich anstrengend werden.”
Mh, davon bin ich nicht ganz überzeugt.
Wenn die frische Masse fertig ist, lässt man sie auskühlen, bevor sie in 16-kg-Blöcke abgepackt wird. Im Metall der Maschinen sieht das Marzipan wie Teig aus, der gleich zu Brot gebacken wird.
Und hier, meine Damen und Herren, beginnt der Spaß—oder die Kunst.
Ein Konditor aus Lübeck erzählte mir, dass er und seine Familie früher das Marzipan am Esstisch gemeinsam von Hand formten. Mittlerweile wurde dieser Schritt natürlich durch Maschinen ersetzt—aber definitiv nicht alles, wie man sich vorstellen würde.
Mit Gussformen werden verschiedene dreidimensionale Dinge wie Hunde, Hummer, Schweine und Figuren geformt. Manche der Formen sind maschinenbetrieben, andere nicht. Die Gussformen werden zum Teil noch von den Fabriksarbeitern von Hand mit der Mandelpaste befüllt. Für die Arbeit braucht man Feingefühl und am Ende darf kein Kratzer und kein Riss mehr zu sehen sein.
Anschließend werden die verschiedenen Figuren und Formen mit Pinseln von Hand bemalt. Weihnachtsmänner bekommen rote Mützen und Nasen und Kränze werden mit bunten Blättern und Ornamenten geschmückt. Die Tiere, wie Pferde und Schweine, werden zuerst mit einer Grundfarbe besprüht, dann werden ganz vorsichtig Details wie Fell oder kleine Augäpfel mit einem Pinsel hinzugefügt.
Überall saßen Gruppen von Frauen um Paletten mit Lebensmittelfarbe und einem Pinsel zwischen Daumen und Zeigefinger, die sich unterhielten und lachten. Hätte der Weihnachtsmann eine moderne Werkstätte, wäre es wohl hier.
Wir gingen ein Stockwerk weiter nach oben und langsam fing mein Magen an zu knurren, als mir der überwältigende Geruch von Schokolade und Zucker in die Nase stieg. Hier wurden die mundgerechten Stücke Marzipan—darunter meine Liebsten, die Kartoffeln—auf Fließbändern befördert.
Die Behälter voller geschmolzener Schokolade gaben unglaublich viel Wärme ab und ich fing unter meinem weißen Kittel wie blöd an zu schwitzen. Maschinen spuckten Marzipanvierecke aus und überzogen sie mit Schokolade. Als sie herauskamen, glänzten sie, bevor sie von einer anderen Maschine gekühlt wurden.
Gaebel stibitzte ein bisschen Marzipan und Nougat direkt vom Fließband, damit wir es probieren konnten. Die Schokolade war noch nicht ganz hart, noch ein bisschen warm, wodurch die klebrige Süße besonders gut zur Geltung kam.
Auf dem Weg hinaus erzählte mir mein Guide von den Herausforderungen, mit denen der Familienbetrieb der siebten Generation in der heutigen Zeit zu kämpfen hat. In den letzten paar Jahren sind die Mandelpreise aufgrund schlechter Wetterbedingungen in den Anbauregionen enorm angestiegen, deshalb musste auch Niederegger seine Preise erhöhen. Sollte dieser Trend so weitergehen, wird es in der Zukunft definitiv schwieriger werden, qualitativ hochwertiges Marzipan zu bekommen.
Mit diesem Wissen nutzte ich den Moment und nahm noch eine Handvoll Süßigkeiten aus dem Warteraum mit, bevor ich der Fabrik endgültig den Rücken kehrte.