Die neue Lust am besonders Krass-Sein

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Die neue Lust am besonders Krass-Sein

Die neue Lust am besonders Krass-Sein.

Schüler zu sein, ist das Schlimmste auf der Welt. Schüler zu sein, ist das Allerbeste auf der Welt. Die Welt von Schülern mag von Leichtsinn, Verletzlichkeit und Neugier geprägt sein, dabei verschärft sich manchmal die Verwundbarkeit durch Rücksichtslosigkeit und Spontaneität. Das Ergebnis ist ab und zu: Dummheit. Das Scheitern aus Dummheit gehört unweigerlich zum Jungsein dazu und hilft uns, den richtigen Weg einzuschlagen.

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Irgendwann zerbricht dann die ganze Schönheit der süßen Dummheit. Langsam aber stetig wird sie aufgemacht und mit dieser „Erfahrung" gefüllt, von der immer alle so viel reden. Und irgendwann kommt dann—wenn man Pech hat früher als spät—sogar dieses Erwachsensein. Aber vorher haben wir jede Menge Zeit.

„Die Hauptschüler prügeln sich mit Fäusten und die Gymnasiasten tun das mit Worten", war mal ein Spruch meiner Biologie-Lehrerin. Der Satz mag zwar ganz schön verallgemeinernd sein, aber in einem Punkt hatte sie Recht: Wenn man jung ist, reibt man sich aneinander und zwar ständig—egal, woher man kommt oder wer man gerade ist.

Das sich jetzt aber die von meiner ehemaligen Lehrerin als Wortakrobaten betitelten Gymnasiasten bis zur Schädelfraktur prügeln und gegenseitig Kriegsnachrichten im visuellen Stil von IS-Kämpfern zuschicken, ist erstmal neu. In Köln haben sich diese Woche „rivalisierende" Gymnasien gegenseitig geprügelt, zum Teil waren ernsthafte Waffen wie Messer oder ein selbstgebauter Speer im Spiel. Die Polizei hat die Situation aufgelöst, zwei Schüler landeten im Krankenhaus und jetzt wird ermittelt.

Zwischen den Kölner Gymnasien herrscht auf Instagram ein kleiner, visueller Krieg, der auch offen so betitelt wird. Als schwarz gekleideter Mob posieren sie bedrohlich mit bunten Plastikwaffen für Gruppenfotos. Mit von Fußball-Hooligans entlehnten Bannern übernehmen sie andere Schulen. Mädchen ziehen sich Sturmmasken über und posen mit Mittelfinger. Sie sehen aus wie …Matura-Hooligan-Babes? Schreibt sich komisch, aber andere Worte finde ich gerade einfach nicht. Helft mir aus, wenn ihr eine passendere Beschreibung findet.

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Wer kurz vor der Matura ist, darf nochmal ordentlich die Sau rauslassen, das ist Tradition. Zeit für zarte Randale und das letzte große Saufgelage vor den Prüfungen—es der Schule ein letztes Mal so richtig zeigen, dass man ja eigentlich auf sie scheißt. Kleinere und größere Ausschreitungen gab es schon immer und auch die Matura-Filme sind bloß noch ein Schulterzucken wert, denn sie gehören dazu. Aber ab und zu gehen die Maturanten auch zu weit—eine kleine Chronik der dümmsten Matura-Geschehnisse gefällig?

2009 wollten Würzburger Maturanten für ihren Maturafilm einen Banküberfall inszenieren, stürmten vermummt eine echte Bank, stellten eine Geiselnahme nach und lösten einen Großeinsatz der Polizei aus. 2013 betranken sich rund 1.000 Jugendliche bis zur notärztlichen Zwangsversorgung in einem Park in Frankfurt am Main und lösten einen Großeinsatz der Polizei und der Feuerwehr aus. 2015 richteten als Gangster verkleidete Maturanten aus Witten täuschend echt aussehende Scherzartikel-Waffen auf Passanten, während Maturanten in Bochum wahllos Autos anhielten und diese zum Spaß für Autokorsos besetzten.

Kurz vor der Matura kochen die Gefühle nochmal richtig hoch und da kann eben auch viel Unüberlegtes passieren—vor allem, wenn Schulen bei Maturastreichen immer strikter werden und die Schüler ihre Tradition von der Aula auf die Straße verlegen müssen. Die gegenseitigen Attacken in Köln sind da eine neue Spitze in der Historie der, man mag es nicht anders sagen, dümmsten Matura-Endphasen.

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Aber was wirklich fasziniert und irritiert, ist die Darstellung des Schul-Wettstreits als multimediale Terroraktion. Wieso profilieren sich junge Schüler heute derart radikal als Freunde von Terror und Gewalt? Der Matura-Film eines Gymnasiums imitiert (zugegeben: mit Anonymous-Masken) den Stil der IS-Terror-Videos—es scheint eine neue Lust am besonders Krass-Sein zu geben. Wieso „ficken" Maturanten sich auf einmal gegenseitig? Ein Blick in die Popkultur mag Abhilfe verschaffen.

Was Punk in den 70ern war, ist HipHop in den 10ern des neuen Jahrtausends: State of the Mic. Anders ausgedrückt: Das Dagegensein war früher der Punk, heute ist es HipHop. HipHop ist politisch, leistet und feiert den Widerstand gegen das System und bewegt Millionen. Ein weder belegtes noch repräsentatives Beispiel für die Herrschaft der Jugendkultur: Es scheint, als würden mittlerweile mehr Rap-Interviews als Make-up-Tutorials auf YouTube hochgeladen werden. Neben Techno wird vor allem HipHop gehört—Gitarrenmusik spielt in Deutschland momentan nur eine untergeordnete Rolle im Pop-System.

An deutschen Schulen gab es bis vor einigen Jahren eine relativ klare Aufteilung zwischen Asi- und Studenten- oder Gymnasiasten-Rap—Rap-Imitationen von reimgewandten, deutschen Lauchs für die Gymnasiasten und Straßenrap für Haupt- und Realschüler, sozusagen. So das Klischee.

HipHop ist schon lange in den deutschen Schulklassen angekommen. Ein Beispiel gefällig? Ich habe im Deutsch-Unterricht mal eine Hausarbeit über das Böhse Enkelz-Mixtape von K.I.Z. geschrieben. Wurde eine 4+, was nicht am expliziten Content, sondern am Ende an mir lag. Mit plötzlich als kredibil betrachteten Künstlern wie Haftbefehl wurde dann auch viel zu spät der Straßenrap als akzeptable Musikrichtung vom Feuilleton anerkannt.

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Heute gesellen sich zur Musik noch Subkultur-Modeerscheinungen wie die Health-Goth-Bewegung dazu, die sich ebenso wie deutscher HipHop gern an fernöstlichen Klischees bedient. Tiefe Kapuzenpullover und All-Black-Everything-Sportoutfits in Oversized-Größen sind dem zentralasiatischem Kaftan entlehnt, dazu dünne Goldketten, die von den Kreuzberger Türkengangs übernommen sein können. Das Berghain als sakraler Anlaufpunkt hat schwer zu diesem Trend beigetragen und das Internet hat ihn über ganz Deutschland verteilt.

Ich möchte hier nicht sagen, dass eine Musik- oder Moderichtung verantwortlich ist für Gewalt, sondern dass wir uns ja immer gerne an den zeitgenössischen Mitteln und Posen von Popkultur bedienen. Weil sie uns eine Fläche der Identifikation bieten, die wir als authentisch empfinden. Die Mittelfinger-Bilder des Kölner Instagram-Accounts und Hashtags wie #wirnehmeneuchtrotzdemvonhinten sind Gesten, die von der HipHop-Kultur ausgeborgt sind. Der schwarze Einheitsbrei der Schülergruppen kommt aus Moderichtungen des Health Goths und der Hooligan-Szene. Und so eine Assimilation ist ja erstmal nicht schlimm, sondern normal.

Aber auch Terror und Pop liegen näher aneinander, als man es vielleicht vermutet. Denn Pop hatte immer etwas mit der Auflehnung gegen eine bestimmte Masse zu tun. So rekrutiert der Islamische Staat seine Anhänger unter anderem mithilfe von Identifikationsfiguren wie dem Ex-Rapper und mittlerweile radikalisierten Dschihadisten Denis Cuspert aka Deso Dogg. Die Propaganda-Videos des IS imitieren mit brachialem Soundtrack und ähnlichen Schnitt-Techniken das Explosions-Actionkino Hollywoods und die MTV-Ästhetik eines Videoclips. Man versucht also, jungen Leuten den Dschihad mit Gesten, die sie kennen und lieben, schmackhaft und nahbar zu machen. Die VICE-Reportage The Islamic State zeigt den Terror-Pop hautnah.

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Andersherum spielt Pop aber auch genauso mit Bildern des Terrors. Ob in den Texten der Band Motörhead, im Werk des Schriftstellers Heiner Müllers, im Roman Die Welle oder in Musikvideos von Bushido, der mit seinem Paris-Posting schockiert hat: Terror ist Thema im Pop ist Thema im Terror.

Das Kino inszeniert in Die fetten Jahre sind vorbei den studentischen Widerstand am etablierten System und Christian Petzolds Film Die innere Sicherheit zeigt das Leben einer 15-Jährigen, die sich der linksradikalen Vergangenheit ihrer Eltern zu entziehen versucht.

Schon Jahrzehnte zuvor traf der „Prada)"-Meinhof-Komplex auf den radikalen Gestus von jugendlicher Popkultur. Der RAF-Frontmann Andreas Baader wurde zur Modefigur und Klassenkampf zum Kult, Poster der Roten Armee Fraktion hingen früher in jeder zweiten Studenten-WG. Kaum noch erwähnenswert erscheint das Che-Guevara-Shirt, das durch seine bis in die Besinnungslosigkeit getriebene Reproduktion jeglichen historischen Kontext verloren hat.

Wichtig dabei ist jedoch: Pop bleibt Pop und Terror bleibt Terror. Auch wenn Pop und Terror sich in Deutschland ihren geschichtlichen Ursprung in der sozialen und intellektuellen Rebellion der 60er teilen, bleibt die Verbindung vor allem eine ästhetische. Allein ein Computerspiel oder ein Song veranlassen einen Menschen nicht dazu, sich zu einer terroristischen Aktion überreden zu lassen. Gleichzeitig hält einen ein Diktatorenquartett aber auch nicht davon ab.

Dass sich Maturanten heute in Posen werfen, die sich zwischen HipHop, Terror und Hooliganism bewegen, ist also angesichts von Klassenkämpfen zwischen Schulen nicht verwunderlich, sondern extrem zeitgenössisch. Die Kids von heute sind rüder und schwärzer angezogen, als noch vor zehn Jahren und benutzen durch soziale Medien eher und öfter wilde und provozierende Posen, weil sie wissen, wie man sich heute authentisch inszeniert. Dass es die Maturanten in Köln dann aber so maßlos übertrieben und auf Posen ernsthafte Taten haben folgen lassen, das ist neben der fehlenden Möglichkeiten, sich im Schul-Kontext vor der Matura auslassen zu können, ihrer eigenen, jugendlichen Dummheit geschuldet.