​„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr erschossen“
Überlebende des Massakers, 1907. Foto: Gemeinfrei

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​„Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr erschossen“

Vor 111 Jahren verübten Deutsche den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Bis heute hat es dafür keine Entschuldigung oder Entschädigung gegeben.

Das organisierte Morden begann im Oktober vor 111 Jahren. Überrascht von der heftigen Gegenwehr der Aufständischen gab der deutsche Oberbefehlshaber in Deutsch-Südwestafrika, Lothar von Trotha, am 2. Oktober 1904 den Vernichtungsbefehl. In seinem „Aufruf an das Volk der Herero" versprach er, auch Frauen und Kinder nicht zu schonen.

Der Befehl blieb zunächst nicht unwidersprochen im deutschen Generalstab. Laut Aufzeichnungen aus dem Jahr 1906, herausgegeben vom „Großen Generalstab", gab der Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika, Generaloberst Theodor Leutwein, zu bedenken, die Eingeborenen seien notwendiges Arbeitsmaterial für die Deutschen. Auch Bernhard von Bülow, obgleich er als Reichskanzler den „Halbgöttern im Generalstab" nichts reinzureden hatte, kabelte nach Windhoek, die vollständige Ausrottung der Herero sei kontraproduktiv, ihr Einsatz im Ackerbau und in der Viehzucht „unentbehrlich". Lothar von Trotha widersprach: „Ich bin gänzlich anderer Ansicht. Ich glaube, dass die Nation als solche vernichtet werden muss."

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Ein Herero-Schädel, der nach fast 100 Jahren in Berlin nach Namibia zurückgegeben wurde. Foto: imago | Sabine Gudath

In den Folgemonaten wurde das Tor zur Hölle ein Stück weit aufgemacht. Nach dem Sieg der deutschen „Schutztruppe" in der Entscheidungsschlacht am Waterberg flohen die Herero in die Omaheke-Wüste, um ins benachbarte Betschuanaland zu gelangen. Anstatt die Flüchtlinge durch die Wüste zu jagen und dabei eigene Verluste zu riskieren, ließ von Trotha das Gebiet abriegeln und die Wasserstellen besetzen. „Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinns … sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit!", notierte ein Beobachter der kaiserlichen Truppe. Als im Dezember die Blockade aufgehoben wurde, waren die endlosen Weiten der Omaheke mit Zehntausenden Leichen übersät. Nur wenige schafften es lebend aus dem Sandfeld. Deutsche Patrouillen fanden Leichen in bis zu 16 Meter tiefen Löchern—die Verdurstenden hatten verzweifelt nach Wasser gegraben. Das Waterberg-Massaker ging als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher ein.

Zeitsprung: 111 Jahre später, am vergangenen Mittwoch, besucht eine Herero-Delegation aus Namibia die deutsche Hauptstadt und protestiert vor dem Reichstagsgebäude, während drinnen drei verschiedene Ausschüsse über den Genozid debattieren. Die Nachfahren der Opfer beklagen sich bei den Nachfahren der Täter, bei den nicht-öffentlichen Sitzungen nicht wenigstens als Beobachter zugelassen zu werden: „Herero müssen draußen bleiben", lautet der Vorwurf des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht!".

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Aktivisten fordern eine Entschuldigung für den Völkermord, hier auf einer Demo im Februar. Foto: imago | Christian Ditsch

Der fehlende Einbezug von Herero-Verbänden in die Gespräche hat Tradition in Deutschland. Auch bei den aktuellen Verhandlungen mit der namibischen Regierung, deren Personal sich hauptsächlich aus der Bevölkerungsmehrheit der Ovambo rekrutiert, bleiben die Herero außen vor. Neu ist, dass diejenigen, die in den Ausschüssen für die Regierung sitzen, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik auch von Völkermord sprechen.

Denn bislang hatte man sich auf Biegen und Brechen geweigert, das V-Wort zu benutzen, was mitunter zu absurden Szenen führte. Zum Beispiel als im Jahr 2011 die damalige Staatsministerin Cornelia Piper bei der Übergabe gestohlener Schädel aus Charité-Besitz an Herero-Vertreter einen juristischen Eiertanz hinlegte, um „Versöhnung" bat, aber, unter lautstarkem Protest, keine Entschuldigung über die Lippen bekam. Oder als 2004 die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul bei einem Besuch in Namibia in einer etwas dramatischen Geste—laut Berichten war sie „den Tränen nahe"—um Entschuldigung bat, was der erste grüne Außenminister der Bundesrepublik jedoch wenig später als „Privatmeinung" deklassierte. Fischer staatsherrisch: „Wir sind uns unserer geschichtlichen Verantwortung in jeder Hinsicht bewusst, sind aber auch keine Geiseln der Geschichte."

Aber mal sachlich nachgefragt: In welcher Hinsicht sind „wir" uns eigentlich der geschichtlichen Verantwortung bewusst? Verantwortung für was genau?

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Es ist, analytisch betrachtet, eine vollkommen aberwitzige und realitätsferne Formulierung, die Fischer'sche, angesichts der Tatsache, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung über die deutsche Kolonialgeschichte überhaupt Bescheid weiß, geschweige vom Genozid gehört hat. (Das, zumindest, hofft man geradezu von den gut 200.000 Einwohnern Oberhausens im Ruhrgebiet, die nach wie vor eine ihrer Straßen Von-Trotha-Straße nennen.) Denn es herrschte in der Bundesrepublik lange Zeit eine Art gesamtgesellschaftliche Ignoranz in Bezug auf die deutsche Kolonialvergangenheit. Der Historiker Jürgen Zimmerer spricht von „kolonialem Vergessen". Im kollektiven Bewusstsein der Deutschen weiß man von den Kolonien der Briten, der Franzosen, und natürlich der Belgier, deren wichtigster zivilisatorischer Beitrag im Kongo das Hände-Abhacken als Regierungstechnik war. Aber deutsche Kolonien?

Ja, auch deutsche Kolonien. Denn die „verspätete Nation" war Bismarcks Ausgleichspolitik irgendwann überdrüssig und pochte auf ihren angeblich rechtmäßigen Platz im Weltengefüge. Dabei war der außenpolitische Schwenk auf einen expansiven Kolonialismus kein Alleingang machthungriger Eliten vom Schlage von Trothas oder Graf Schlieffens, der etwa in der Herero-Frage der Auffassung war, der „entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen".

Kolonialismus war Massenhysterie: Projektionsfläche für die nationalen, „rassischen", und, ja, moralischen Sehnsüchte der Deutschen im Zeitalter der Aufklärung. Die Hoffnung auf einen eigenen „Platz an der Sonne" war der feuchte Traum der Generation Pickelhaube. Zugleich versuchte man, den Kolonialbestrebungen einen ethischen Anstrich zu verpassen. So stand auch die Schaffung des „Schutzgebietes" Deutsch-Südwestafrika unter dem Banner, einen geschichtlich gegebenen Auftrag auszuführen: die Zivilisierung unterentwickelter Völker in Afrika, oder in der Sprache der Zeit: ihre „Hebung".

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Abgesehen von einigen wenigen Kritikern traf der Kolonialismus auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens, auch im linken Lager. Eine koloniale Haltung zu haben, war der Swag der intellektuellen Klasse am Fin de Siècle. Der Begründer der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, bezeichnete noch 1906, zwei Jahre nach der Omaheke-Katastrophe, den Kolonialismus als „große Kulturmission".

Was erstaunen muss, angesichts der Gräueltaten, die die kaiserlichen Truppen im „Schutzgebiet" begingen. Denn der Furor Teutonicus brauste durch die junge Kolonie mit erschütternder Härte. Mindestens 65.000 Herero und 10.000 Nama wurden zwischen 1904 und 1908 von den Deutschen getötet. Diejenigen, die die Maschinengewehre überlebten, wurden in die neuen „Konzentrationslager"—„nach den neuesten Erkenntnissen der Engländer aus dem Burenkrieg"—etwa auf der Haifischinsel gesperrt, wo jeder zweite Insasse an Entkräftung, Krankheit oder Unterernährung starb. Wer den grassierenden Skorbut oder Typhus überstand, wurde zur Zwangsarbeit in Straßen- und Brückenbau bestellt. Misshandlungen und Vergewaltigungen von Frauen waren keine Seltenheit.

Auch aus den Skeletten der Getöteten wusste man noch etwas anzufangen. Über Tausende Schädel und andere Leichenteile wurden zu „wissenschaftlichen Zwecken" ins Mutterland verschifft. Rassenanatomische Untersuchungen sollten den deutschen Forschern die drängende Frage nach der zivilisatorischen Zurückgebliebenheit der „Wilden" beantworten. Die Schädel stammten von gehängten oder erschossenen Herero und wurden von Herero-Frauen mittels Glasscherben vom Fleisch befreit und versandfertig gemacht. Dass auch andere Leichenteile—Augäpfel, Kehlköpfe, Penisse—„hochwillkommen" und „wertvoll" seinen, ließ ein führender Rassenbiologe die Kolonialverwaltung wissen, „bedarf keines Wortes". Dass aus der Rassenanatomie später eine Rassenhygiene werden würde—wer hätte das damals ahnen können.

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Die deutsche Kulturnation war trotz ihrer mäßigen Erfolge, die Einheimischen von ihrer überlegenen Daseinsform zu überzeugen, kaum von ihrem Vorhaben abzubringen, den „Buschmännern" die deutsche Sprache und Kultur zu lehren. Zu verführerisch war der Gedanke, in dieser Ödnis würde es einmal Ohren geben, die Wagner hören und Augen, die Goethe lesen.

Am Ende waren die Gemeinschaften der Herero und Nama fast vollständig ausgelöscht. Ihr Land und ihr Vieh wurden geraubt oder zu lächerlichen Preisen gekauft und den weißen Siedlern zugeteilt, deren Nachfahren heute noch immer knapp ein Drittel des Landes besitzen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es beschämend, dass sich die deutsche Politik erst jetzt mit dem Thema beschäftigt und an einer förmlichen Entschuldigung feilt. Eine Wiedergutmachung im juristischen Sinne beinhaltet das jedoch nicht zwangsläufig. Das ist letztlich auch ein Mitgrund, warum es 111 Jahre gedauert hat, bis sich eine deutsche Regierung zu einer Anerkennung durchringen konnte. Lange war man der Auffassung, eine Entschuldigung würde Entschädigungsforderungen nach sich ziehen. Die Armenien-Debatte im Bundestag im April diesen Jahres, in der man die Türkei für die Nicht-Anerkennung des Genozids von 1917 mit großem Pathos maßregelte und man sich einen Battle um das korrektere Geschichtsbewusstsein lieferte, änderte das. Der Türkei einen Völkermord vorhalten und den eigenen nicht anzuerkennen, konnte man intern nicht mehr aufrechterhalten, erklärt Niema Movassat, Abgeordneter der Linkspartei und stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, gegenüber VICE.

Bei den Verhandlungen mit namibischen Regierungsvertretern, die das Auswärtige Amt derzeit führt, spielen jedoch finanzielle Entschädigungen explizit keine Rolle, so Movassat weiter. Man berufe sich darauf, dass der Völkermord als Straftatbestand erst 1948 ins Völkerrecht aufgenommen wurde und nicht rückwirkend angewendet werden kann. Pech für die Herero und Nama, so ließe sich zynisch schlussfolgern: Der planmäßige Mord an ihren Vorfahren ist 44 Jahre zu früh passiert.

Das Bündnis „Völkermord verjährt nicht!", bei dem sich auch Herero-Vertreter engagieren, erinnert an die „fast vollständige und zutiefst traumatische Zerstörung der Gemeinschaften", inklusive der systematischen Enteignung von Land und Vieh, von der die deutschen Siedler direkt profitierten. Christian Kopp vom Bündnis betont, dass es den Herero-Vertretern dabei weniger um individuelle Entschädigungszahlungen geht als vielmehr um Investitionen in die Bildung und Infrastruktur in den heutigen Herero-Gebieten, die im Vergleich zu den anderen Regionen Namibias vernachlässigt werden.

Die seit 1990 an Namibia gezahlten 800 Millionen Euro Entwicklungshilfe, die von deutscher Seite an dieser Stelle gerne eingebracht werden, um Entschädigungsforderungen abzublocken, seien kein gutes Argument: Erstens floss ein Großteil der Gelder in den Norden des Landes, wo kaum Herero leben. Zweitens bestimmt bei staatlichen Entwicklungsgeldern der Geber, also die Bundesrepublik, welche Projekte finanziert werden. Die Herero haben darauf keinen Einfluss.

Man darf gespannt sein, was die Entschuldigung der Bundesregierung so alles enthalten wird—und ob sich Joschka Fischer aus dem Off melden wird, um erneut vor einer geschichtlichen Geiselnahme der Deutschen zu warnen.