FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Mit einem Partner zusammenzuleben, der unter Zwangsstörungen leidet, ist die Hölle

Früher habe ich bei Sprüchen wie ‚Du und deine Zwangsneurosen' oft geschmunzelt. Nach einem Jahr Beziehung mit einem Partner mit einer Zwangsstörung kann ich darüber nicht mehr wirklich lachen.

Illustration: Alex Jenkins

Eins vorweg: Ich bin noch immer davon überzeugt, die wichtigste Person meines Lebens kennengelernt zu haben. Gleichzeitig muss ich mir eingestehen, dass ich nie geplant hatte, meine Zukunft mit einem Menschen zu verbringen, der oft davor Angst hat, mich anzufassen. Ich habe schon Soziopathen, Drogenabhängige und Alkoholiker gedatet, doch dass das Zusammenleben mit einer Person, die unter Zwangsstörungen leidet, so schwer sein kann, hätte ich niemals für möglich gehalten.

Anzeige

Als ich vor über einem Jahr Tony (Name geändert) kennengelernt habe, hat er mir sofort gesteckt, dass er an Zwangsstörungen leidet—eine Angststörung, bei der die Betroffenen den inneren Drang haben, bestimmte Dinge zu denken und/oder zu tun, gegen die sie sich willentlich meist nicht wehren können. Die Tatsache, dass er mir sofort von seiner Krankheit erzählt hat, zeigt, wie fest sie sein Leben im Griff hat. Die Erkrankung kann gut zu handeln sein, kann in manchen Fällen aber auch so sehr Überhand nehmen, dass eine Einweisung ins Krankenhaus nötig wird. Ein Psychologe erzählte mir von einem Patienten, der sich weigerte, Wasser zu trinken, weil er Angst hatte, es könnte vergiftet sein.

Bei Tony wurde die Diagnose vor über zehn Jahren gestellt und seitdem musste er sich schon zweimal stationär behandeln lassen. Laut eigener Aussage sei er „komplett durchgedreht" und konnte nicht mehr die eigene Wohnung verlassen, weil er überall Gefahren und Bedrohungen sah. Heute manifestiert sich seine Zwangsstörung vor allem über einen Waschzwang. Darum sind seine Hände oft spröde und aufgerissen. Außerdem fasst er nichts an, was er für „schmutzig" hält—Türgriffe, benutzte Handtücher und manchmal sogar mich.

Trotzdem waren wir von Anfang an total verschossen ineinander. Tony kann gut zuhören, ist belesen, leidenschaftlich und hat einen tollen Sinn für Humor. Wir haben uns an einem Montag kennengelernt und als ich dann am Freitag in Urlaub gefahren bin, waren wir schon unzertrennlich. Obwohl wir uns kaum kannten, verstand ich sofort, dass Tony ein sehr einfühlsamer Mann mit dem Herzen am rechten Fleck ist. Erst später wurde mir bewusst, wie sehr sich die Krankheit auf sein Leben und seinen Alltag auswirkt.

Anzeige

Ein typischer Tag mit Tony sieht ungefähr so aus: Ich wache neben ihm auf und muss daran denken, ihn ja nicht anzufassen. Er selbst fasst sich auch nicht an, bevor er geduscht hat, weil er sich vor „versteckten Ölen" auf seinen Händen fürchtet (aus demselben Grund darf ich ihn auch nicht anfassen). Einmal wollte er mich nicht mal umarmen, weil ich noch nicht geduscht hatte. Er meidet auch jegliche Form von Körperkontakt, wenn ich etwas berühre, was er für „unrein" hält, wie etwa Wände in der Öffentlichkeit oder auch nur meinen Mantel, der kurz zuvor auf den Boden gefallen ist.

Ich mache jeden Tag die Wäsche, damit sich Tony immer mit einem sauberen Handtuch abtrocknen kann. Die Handtücher müssen übrigens weiß sein, denn nur auf ihnen kann man auch kleine Verschmutzungen leicht erkennen. Wenn er sich mit einem Handtuch abgetrocknet hat, auf dem er im Nachhinein einen Fleck sieht, duscht er die Stelle noch einmal ab und besteht auf ein sauberes Handtuch zum Abtrocknen.

Einmal habe ich ihm zuliebe den Matratzenüberzug so heiß gewaschen, dass eine kleine Stelle aufgrund der Hitze geschmolzen ist. Daraufhin hat sich Tony geweigert, in dem Bett zu schlafen, bis ich einen neuen Überzug gekauft habe. Auch so fühlt er sich regelmäßig „unsauber" in dem Bett. Ein anderes Mal habe ich ein falsches Putzmittel für unser Sofa gekauft, auf das er sich dann drei Wochen lang nicht setzen wollte.

Dass man sich für das Funktionieren von Beziehungen reinhängen musst, ist beileibe kein Geheimnis. Doch der Druck, dem man sich alltäglich ausgesetzt fühlt, wenn der Partner an Zwangsstörungen leidet, ist um ein Vielfaches größer, vor allem weil man ständig im Hinterkopf haben muss, dass schon kleinste „Fehler" mittelschwere Katastrophen auslösen können. Auch wenn Tony seine Grenzen nicht direkt kommunizieren kann, diktieren sie unseren Alltag doch vollständig. Mittlerweile betrachte ich seine Erkrankung als eigenständiges Wesen—ganz nach dem Motto: Tony würde mich gerne ohne Einschränkungen lieben, doch seine Zwangsstörung verhindert das und will über unser Zusammenleben bestimmen. Nachdem er mal wieder einen seiner Anfälle hatte oder wir uns gestritten haben, merke ich ganz genau, dass er das unglaublich gerne wieder so gutmachen würde, wie man es von „normalen" Pärchen kennt—mit körperlicher Zuneigung, einer warmen Umarmung, die mir „Es tut mir leid, Schatz" sagen soll. Doch seine Erkrankung will genau das nicht zulassen.

Anzeige

Ich habe mir schon unzählige Male unter Tränen gewünscht, Tony würde einfach nur „normal" sein. Ich habe vor spaßigen oder besonderen Anlässen immer einen ziemlichen Bammel, denn genau an solchen Abenden ist Tony umso angespannter. Tony ist schon aus Bars und Restaurants rausgerannt, weil ihm aus Versehen ein Gast ein Getränk über das Shirt gekippt hat. Wenn wir zusammen auf Partys gehen, tue ich gut daran, ihn nicht spontan zu küssen, weil es ansonsten zu peinlichen Szenen kommen könnte. Einmal hat er sich geweigert, in einem edlen Restaurant sein Gericht zu essen, weil sein Schirm auf den Boden gefallen war. Aus seiner Sicht gibt es so etwas wie Unfälle nicht, denn alles, was er tut, ist vorsätzlich. Außerdem kann er nie vorsichtig genug sein und von mir wird erwartet, dass ich mich genauso verhalte.

Motherboard: Menschen, die zwanghaft alles vollkritzeln müssen, leiden an Graphomanie

Für Zwangsstörungen gibt es keine richtige „Heilung", doch wie die meisten psychischen Erkrankungen kann man auch sie mit den richtigen Medikamenten unter Kontrolle bringen. Tony bekommt täglich zwischen 40 und 60 mg Paroxetin (ein Standardmittel bei Zwangsstörungen). Diese Mittel helfen ihm zwar, können aber trotzdem nicht bewirken, dass es ihm so gut geht, wie er sich das selbst wünschen würde. Aber ganz ohne Medikation wird es erst recht nicht besser.

Nach einem Jahr Beziehung weiß ich schon recht gut, was ich zu beachten habe. Ich versuche natürlich, meinem Partner, so gut ich nur kann, zur Seite zu stehen. Doch einen Partner mit Zwangsstörungen zu unterstützen, ist eine 24/7-Herausforderung. Ich bin selbst in einer Tour angespannt und mache mir ständig darüber Gedanken, was ihn als Nächstes aus der Bahn werfen könnte. Gleichzeitig macht es mich sehr traurig, dass es so etwas wie einen normalen Alltag für uns einfach nicht geben kann. An Spontanität ist aufgrund seiner Erkrankung leider nicht zu denken. Und wo alles und immer vorausgedacht werden muss, ist leider für Romantik nur sehr wenig Platz.

Trotzdem ist Tony die Person, die ich liebe. Tony zu beobachten, hat mich zu einem einfühlsameren Menschen gemacht, in mir aber auch eine tiefe Traurigkeit entstehen lassen, weil ich den Teil von ihm, der ihn so sehr leiden lässt, nicht ausstehen kann. In ruhigen Momenten erinnere ich mich selbst daran, dass Tony mit einer furchtbaren Erkrankung zusammenleben muss und dass er, wenn er könnte, sein Verhalten sofort ändern würde.

Bevor ich Tony kennengelernt habe, habe ich immer schmunzeln müssen, wenn einer von meinen Freunden über sich selbst meinte: „Mist, ich wieder mit meinen Zwangsneurosen." Heute kann ich darüber nicht mehr wirklich lachen.