Wie es ist, als Migrant nach langer Zeit wieder in die alte Heimat zu kommen

FYI.

This story is over 5 years old.

Reisen

Wie es ist, als Migrant nach langer Zeit wieder in die alte Heimat zu kommen

„Salzminen oder Auschwitz? Scheißegal. Hauptsache, es gibt was zu essen und man kann Fotos schießen."

Die Zeiten, in denen das Besteck in Ketten lag und die Teller mit einem Lappen durchgewischt anstatt mit Wasser abgespült wurden, sind in Polen vorbei—sofern es sie je gegeben hat. Die Leute sagen: „Polen ist nicht wiederzukennen! Warschau ist das neue Berlin! Krakau schöner als Paris!" Die Leute reden viel; und wem steht es überhaupt noch zu, den Wandel ganzer Länder zu beurteilen? Vielleicht uns Migrantenkindern? Gebürtige Italiener, Türken oder Russen, aufgewachsen in England, Schweden oder Kanada. Wer Kultur und Denken zweier Völker in sich vereint, der kann in einer der beiden Nationalitäten Abstand von der anderen nehmen. So viel zur Theorie.

Anzeige

Konkret spricht hier ein gebürtiger Pole, der den sterbenden Kommunismus der 80er Jahre noch erlebte, wenig später Deutschland verstehen und es lieben lernte und seit fast zehn Jahren nicht mehr in der alten Heimat war. Polen also—was ist aus dir geworden?

Es stimmt, kaum wiederzukennen. Nicht frisch verputze Hausfassaden bilden in den großen Städten eine Ausnahme, Krakau oder Breslau sehen mit ihren Bauten im feinsten Zuckerbäckerstil aus wie die essbaren Marzipanvarianten von Freiburg oder Tübingen. In den Zentren ist fast jede Straße ein Postkartenmotiv; wer es nicht glaubt, soll selbst hinfahren oder Reiseführer durchblättern —mühselig, Fotos davon zu schießen, polierte Altstädte sehen überall gleich aus. Fast. Denn während der Deutsche mit seiner Denkmalpflege weit über Putz und Farbe hinausgeht, die altehrwürdigen Räumlichkeiten wie Heiligtümer behandelt, in denen er außer Museum bestenfalls noch Touristenschalter mit Postkartenstand oder Vodafone-Shops gewähren lässt, hat der Pole einen entspannteren Umgang mit seinem altarchitektonischen Bestand. Strip-Club, Sushi-Bar, Strip-Club, Fenster mit Softeis, Gentlemans-Bar, Fenster mit Softeis—eine oft gesehene Abfolge im innerstädtischen Kräftespiel des freien Marktes.

Der Aufschwung ist schon lange da, der Westen investiert, „neue Märkte sollen erschlossen werden", wie es die Aktentaschenmenschen so schön sagen. Supermärkte haben die Größe von Flughäfen, Getränkeautomaten die von Stadtbussen.

Anzeige

Die Milliarden seit dem EU-Beitritt sind gut angelegt. Städte glänzen um die Wette, auch wenn die 500 Euro polnische Durchschnittsrente sogar noch knapp unter der griechischen liegt. Aber der Slawe jammert nicht. Sein Protest ist still wie der einer bräsigen Oma im Rollstuhl, die mit ihrer bloßen Anwesenheit auf der Danziger Vorzeigemeile dem neuen Polen und seinen Touristen den Glanz verderben will.

Wer noch kann, verdient sich was dazu. Siehe die alten Männer rund um den Springbrunnenpark zu den Füßen von Warschaus Schloss. Dort neben laserbefeuerten 30.000-Liter-Wasserfontänen versuchen sie mit Knicklichtern an den Jacken und Micky-Mouse-Ohren auf dem Kopf, ihr batteriebetriebenes Leuchten an das Kind zu bringen, während Vati ganz versunken vom iPhone aus Regie für das nächste HD-Homevideo führt. Hoffnung ist, wenn man trotzdem kämpft. Für Brot und Salz reicht es bestimmt.

Schließlich stehen noch einige von ihnen—Kioske wie in den 80er Jahren, wo Backwaren von Preisen aufgespießt wurden, die sich jedermann leisten konnte. Nach Geschmack wurde nicht gefragt. Aber auch die werden teurer.

So ist das mit dem Wohlstand. Mit ihm kommen die neuen Autos und schwinden die alten Säufer von den Straßen. Nachts an Wochenenden vergehen in Warschau keine drei Minuten, ohne dass ein Pole mit seiner Stretch-Limo dem Fußvolk zeigt, wie viel er hat: „Seht her! Viel Auto, viel Geld! Ich!"

Falls doch noch Zweifel an der Größe und Bedeutung des Passagiers bestehen sollte, sei man auf das Nummernschild verwiesen: „Ja, mit drei, nicht mit zwei X, bitte!" Irgendwann ist trotzdem gut mit der Prahlerei. Für vergoldete Fernseher und Pelztapeten fehlt dann doch das Selbstbewusstsein des benachbarten Zarenreiches, auch wenn es noch lange dauern wird, bis der Pole das Understatement seines deutschen Nachbars hat—zu viel Proll steckt in jedem von uns Slawen. Und die Säufer? Weniger als früher; zumindest in den Gassen. Aber man findet sie trotzdem noch. Männer und Frauen mit zerbombteM Lächeln, die „Das Leben" antworten, wenn man auf ihre fehlenden Gliedmaßen schaut und fragt, was passiert sei. Reichtum hin oder her, Gründe zum Trinken finden sich allemal.

Anzeige

Und dann noch Szenen wie die am Krakauer Judenviertel, wo Dosensammler den polnischen Fortschrittsoptimismus sprengen, während Metall sich immer noch als solide Straßenwährung erweist. Polen hat keinen Dosenpfand, was soll der Geiz. Der Weg zum Schrottplatz ist nicht weit. Drei Złoty für das Kilo.

Parterre liegen Fenster immer noch hinter Gittern. Das erinnert an die alten Diebeszeiten, als die Polizei mit ihren Gefängnissen auf vier Rädern Patrouille fahren musste. Nysa 522, im Volksmund auch ,Suka' also ,Hündin' genannt. Wo früher regimekritische Delinquenten mit Schlagstöcken hineingezwängt wurden, pressen Reiseführer heute von Nostalgie trunkene Touristen rein. Salzminen oder Auschwitz? Scheißegal. Hauptsache, es gibt was zu essen, und man kann Fotos schießen.

Beim Stammlager Auschwitz I gibt es ein Restaurant gleich neben den Parkplätzen. Ganz so, als ob der konsumierende Besucher Solidarität mit den einst Todhungernden bekunden wolle: „Was euch hier damals an Nahrung verwehrt worden ist, holen wir doppelt und dreifach für euch nach!" Der Spaß darf natürlich auch nicht fehlen. Mit etwas Glück wird es bald Segway-Rallys um die Lagerbaracken geben.

Und im Vernichtungslager Birkenau essen amerikanische Touristen Eis am Stiel—ganz das Klischee wie japanische Teenager, die vor den Haupttoren des KZs ihre grinsenden Gesichter samt Victory-Zeichen in die auf Selfiesticks gespießten Fotoapparate halten. #auschwitz; #fun

Anzeige

Schindlers Fabrik, der Pianist Władysław Szpilman, das ist ein Polen, wie Hollywood es will. Die Traumfabrik weiß sich zu inszenieren, wobei das wahre Sin City ohne eine digital-gemasterte Jessica Alba auskommt und dunkles Großstadtleuchten bestenfalls als Sichtschutz an den Fenstern klebt. Auf 10 x 5 Metern findet die polnische Variante eines Sündenbabels ihren Raum, Bescheidenheit ist eine Tugend, ungeachtet dessen, dass auch ein Pole 24 Stunden pro Tag haben will. Nur Gott weiß, was im Inneren gespielt wird.

Ach geliebtes Polen; wie ein Pelzmützenverkäufer aus anderen Zeiten sitzt du eingeklemmt zwischen dem Fortschritt verkündenden Schiebetüren-Sound von Fastfoodketten und einer wachen Jugend, die sich und den eigenen Geschmack noch sucht.

Egal, wohin es mit dir geht, du wirst deinen Platz schon finden; so lange bleibt die Gewissheit, dass alles hier Gesagte auch eine Lüge ist. Fragt einen lupenreinen Polen, Chinesen oder Deutschen, was Deutschland, China oder Polen ist, und sie werden kaum zwei Sätzen bilden können—was sind da schon die Kommentare eines für drei Wochen Zugereisten wert? Sicher nicht mehr als ein Imbissstuhl.