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Hier könnt ihr euch das Video zum neuen Pussy-Riot-Song ‚CHAIKA' anschauen

In ihrem neuen visuellen Werk kritisieren die feministischen Anti-Putin-Musikerinnen die in der russischen Regierung grassierende Korruption. Wir haben dem Bandmitglied Nadja Tolokonnikowa dazu ein paar Fragen gestellt.

Es ist inzwischen fast vier Jahre her, dass Pussy Riot, die feministische Anarcha-Punkband aus Russland, ihre legendäre Protestaktion/Performance „Punk Prayer – Mother of God, Chase Putin Away!" in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau aufgeführt haben.

Seither wurden sie für ihre regierungsfeindliche Haltung verhaftet, verurteilt, inhaftiert und schließlich—nachdem Menschenrechtsorganisationen und internationale Medien sich eingemischt hatten—freigelassen. Nichts von alldem hat sie davon abgehalten, durchgehend Songs, Videos und Artikel zu veröffentlichen, mit denen sie gegen das Putin-Regime vorgehen wollen.

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Heute haben sie ihr neuestes Musikvideo veröffentlicht. Es heißt „CHAIKA", nach dem russischen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika.

Tschaika hat neulich weltweite mediale Aufmerksamkeit bekommen, weil ein Anti-Putin-Aktivist namens Alexei Nawalny einen Film gedreht hat, in dem er behauptet, Angehörige und Geschäftspartner des russischen Generalstaatsanwalts hätten direkte Verbindungen zur russischen Mafia und Tschaika selbst sei ebenfalls in korrupte Machenschaften verwickelt. Seit der Veröffentlichung dieses Films hat die russische Regierung die Anschuldigungen abgestritten und sich geweigert, auf staatlichen Medienplattformen über das Video zu berichten. Der Kreml hat außerdem in letzter Zeit mehrere Gesetze verabschiedet, welche die staatliche Kontrolle über Online-Postings ausweitet und der Regierung sogar die Macht erteilt, Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube zu blocken.

Wir haben uns mit der Pussy-Riot-Frontfrau Nadja Tolokonnikowa darüber unterhalten, warum die Band Tschaika zum Thema ihres jüngsten Videos gemacht hat und warum die Frauen der Meinung sind, die Lage in Russland habe sich in den letzten Jahren verschlechtert.

Foto: Denis Sinyakov

VICE: Worum geht es in eurem neuesten Video?
Nadja Tolokonnikowa: „CHAIKA" ist eine Botschaft von einem führenden Beamten der Putin-Regierung an seine Söhne und Anhänger. Es ist eine Anleitung, wie man Gelder veruntreut, Unternehmen ausraubt und Rivalen ins Gefängnis schickt oder körperlich ausschaltet. Es geht auch darum, was man tun muss, um selbst der Haft zu entgehen und stattdessen in Wohlstand zu leben.

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Warum ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit etwas über Juri Tschaika erfährt?
Tschaika ist der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation. Seit seinem Amtsantritt 2006 hat er keine größere Ermittlung abgeschlossen. Tschaika ist mehr als nur ein talentloser, mittelmäßiger Staatsdiener. Er personifiziert den typischen modernen Protagonisten—ein normaler Vertreter der heutigen russischen Staatsmafia.

Michail Sygar, der ehemalige Chefredakteur von Doschd, dem einzigen unabhängigen Fernsehsender Russlands, hat in seinem neuen Buch, dessen Titel übersetzt in etwa „Die Krieger des Kreml" lautet, die Rolle des Generalstaatsanwaltsamtes behandelt. Er schreibt: „Das Amt des Generalstaatsanwalts wurde zu einem Beispiel des politischen Voluntarismus. Es führte den politischen Willen des Kreml auf die rauste und schroffste Art und Weise aus, häufig ohne dabei die Komplexitäten der Menschenrechte zu berücksichtigen. Im Vorfeld jeglicher Regionalwahlen hat die Staatsanwaltschaft Vorwürfe gegen unliebsame Kandidaten ausgesprochen und alles in ihrer Macht stehende getan, um ihnen die Teilnahme an der Wahl zu verwehren. Das Amt des Generalstaatsanwalts ist zu einer perfekt etablierten Unterdrückungsmaschine geworden, die wie geschmiert läuft."

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Im russischen Militär sowie in der Justiz wird seit 2000, also seit Wladimir Putins Amtsantritt als Präsident, ein ziemlich paradoxes System der Mitarbeiterauslese befolgt. Ehrliche Staatsanwälte, Polizeibeamte und Richter sind im aktuellen Justizsystem nicht profitabel oder zweckdienlich. Im Gegenteil: Solche, die wissen, wie man gehorcht und einen Strafprozess gegen hinderliche Menschen einleitet, sind sehr gefragt. Ich hatte eine ehemalige Ermittlerin als Zellennachbarin. Sie war Ermittlerin geworden, weil sie Gutes tun wollte und sich wohl in ihrer Kindheit von zu vielen Filmen über gute Polizisten hinters Licht führen lassen hat. Ihr Ex-Mann hat sie hinter Gitter gebracht; der war ein richtiger Bulle.

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In den 1990ern hat sie Fälle gelöst, um Leute vor schlechten Polizisten und böswilliger Strafverfolgung zu schützen, und das hat sie glücklich gemacht. 2003 hat sie die Polizei verlassen, weil die Arbeit für sie nicht mehr interessant war. Es musste gegen niemanden mehr ermittelt werden und das Einzige, was noch zählte, ware Gehorsam und totale Loyalität gegenüber den Vorgesetzten—bis hin zum Gesetzesbruch.

Wie haben die Leute in Russland auf diesen Skandal reagiert? Kriegt man davon dort überhaupt etwas mit?
Laut neueren Umfragen sehen 38 Prozent der Russen und Russinnen, die von der Existenz des Films über Tschaika wissen, die Korruption und die Verbindungen zu kriminellen Organisation, die in der Doku erklärt werden, als typische Phänomene, die es einfach braucht, damit die modernen russischen Behörden die Ordnung im Land wahren können.

Die Leute sagen oft: „Aber wer gehört denn heutzutage nicht zur Mafia? Nur die Korruption floriert in unserem Land. Mafia und Korruption … und die Behörden sind diejenigen, die alles unter Kontrolle halten. Was können wir schon tun?"

Foto: Denis Sinyakov

Wie verbreitet ist denn die Korruption in der heutigen russischen Regierung?
Das Behördensystem ist nicht nur mit Korruption infiziert, es basiert sogar darauf. Wenn heutzutage ein Richter jemanden freispricht, dann werden seine Kollegen sofort eine Bestechung wittern. Höchstwahrscheinlich wird ein solcher Richter nach einer Reihe von Freisprüchen gefeuert, weil seine Vorgesetzten nicht verstehen können, wie er Bestechungsgelder annehmen konnte, ohne sie mit ihnen zu teilen. Deswegen liegt die Freispruchrate in Russland nur bei 0,4 Prozent.

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Was muss passieren, damit diese Korruption bekämpft werden kann—sowohl innerhalb Russlands als auch international?
1) Die Weigerung, sich an der Korruption zu beteiligen
2) Die Veröffentlichung von Beweisen für viele verschiedene Arten der Korruption
3) Eine Flasche Wodka

Das Video ist sehr stilisiert. Erzähl uns etwas über den kreativen Prozess, den ihr durchlaufen habt, um auf den Look zu kommen, den wir im Video sehen.
Die russischen Behörden können nicht einmal ihre eigene Ästhetik definieren, also mussten wir ihnen dabei helfen. Das Video zeigt drei ästhetische Elemente, die der Staat gerne verbreitet und die mich zutiefst anwidern: 1) Alles vergolden, um den fauligen Kern darunter zu verbergen—wie der goldene Brotlaib oder all die Chochloma-Malereien zeigen 2) „Zone"—dafür steht das Gefangenenlager, in dem die Häftlinge gefoltert werden 3) Faschistische, populistische, nationalistische Ästhetik—im Video repräsentiert von der zweiköpfigen Möwe, der Choreographie der Staatsanwältinnen und den Tänzen im nordkoreanischen Stil.

Erst war ich recht nervös, wie sich diese drei Elemente zusammen im Video machen würden, aber irgendwann habe ich mich beruhigt. Mir wurde klar, dass es nicht unsere Schuld wäre, wenn diese Sachen in Kombination keinen Sinn ergeben würden, weil das Video schließlich von den potthässlichen ästhetischen Entscheidungen unserer Regierungsvertreter handelt.

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Foto: Aleksandr Sofeev

Was genau bedeuten einige der Symbole und Themen aus dem Video—wie etwa Maßlosigkeit, das goldene Brot oder die Eisenstange?
Die Maßlosigkeit steht sinnbildlich für die Grundwerte der Mafia, die die russische Regierung eigentlich ist. Sie ist die Quintessenz von Gleichgültigkeit, Leere, Übersättigung, unzähligen Versuchen, sich mit materiellen Dingen zufriedenzustellen, und ausgeprägter Scheinheiligkeit. Das Ganze sieht man allein darin, dass sie den Bürgern gute moralische Werte vermitteln wollen. Als wir das Outfit des Staatsanwalts kaufen wollten, war die kleinste verfügbare Größe jeder von uns sechs Nummern zu groß. Das vergoldete Brot steht für den berüchtigten Goldlaib, der in Wiktor Janukowytschs Villa gefunden wurde, nachdem der während der ukrainischen Revolution 2014 aus dem Land fliehen musste. Wir haben dieses Symbol in unser Video eingebaut, um Putin daran zu erinnern, dass nichts ewig besteht. Die Eisenstange, die Fesseln, die Peitsche und die Handschellen sind einfach nur klassische Folterwerkzeuge, die mit der russischen Staatsautorität Hand in Hand gehen.

In dem Video macht ihr ja Rap und nicht wie sonst traditionellen Punkrock. War das geplant? Warum gerade Rap?
Das war Zufall! Wenn wir zusammen oder mit anderen Künstlern musizieren, dann haben wir immer das Ziel, etwas komplett Verrücktes und Außergewöhnliches zu erschaffen. Da Rap für Pussy Riot doch sehr außergewöhnlich ist, haben wir unser Ziel erreicht.

Foto: Aleksandr Sofeev

Seit eurem Auftritt und Protest in der Christ-Erlöser-Kathedrale von Moskau sind jetzt fast genau vier Jahre vergangen. Ist die derzeitige Lage in Russland im Vergleich zu damals eurer Meinung nach schlechter oder besser geworden? Oder hat sich gar nichts verändert?
Russland hat sich in ein ganz anderes Land verwandelt. Ende Februar 2015 ist jedoch das Schlimmste passiert, was nur hätte passieren können: Wir mussten herausfinden, dass man hier aufgrund von politischen Aktivitäten nicht nur ins Gefängnis gesteckt, sondern auch mitten in Moskau erschossen werden kann. Viele Leute können immer noch nicht glauben, dass der russische Politiker Boris Nemzow tot ist.

Wie soll sich euer neues Video auf die Menschen in Russland und aus der ganzen Welt auswirken?
Wir verlangen sofortige Ermittlungen gegen den russischen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika, gegen dessen Familie und gegen die leitenden Mitarbeiter seines Büros. Wir wollen mit dem Video die Leute davon überzeugen, dass wir nicht länger in einem Land leben können, in dem der höchstrangige Gesetzeshüter gleichzeitig auch das größte Symbol für Korruption und Mord darstellt. Wir als Pussy Riot hoffen, dass Menschen aus der ganzen Welt uns dabei helfen werden, unserer Wut eine Stimme zu verleihen und Russland in ein Land zu verwandeln, wo Personen wie Tschaika nicht länger existieren können.

Was steht für Pussy Riot als Nächstes an?
Das weiß nur der russische Geheimdienst.