Was wirklich auf der Buchmesse passiert ist
Mitglieder der "Identitären Bewegung". Im Hintergrund Martin Sellner | Foto: Protestfotografie Frankfurt

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Rechtsextremismus

Was wirklich auf der Buchmesse passiert ist

"Sieg Heil"-Sprechchöre gab es wohl nicht, trotzdem war es ein vermeidbarer PR-Coup der Rechten.

Irgendwann, beschreibt es eine Augenzeugin, schreien sich alle nur noch an. Getrennt von einer Reihe Polizisten stehen sich zwei Gruppen gegenüber und brüllen sich gegenseitig aus vollem Hals und im selben Takt "Nazis raus! Nazis raus!" in die Gesichter. Kurz danach wird die Veranstaltung abgesagt und die Halle geräumt.

Eigentlich war die Buchmesse dieses Jahr ein Erfolg: Über 7.000 Aussteller aus mehr als 100 Nationen haben ihre Bücher präsentiert, um die 280.000 Besucher haben sich das angeschaut. Aber weil unter den Tausenden Ausstellern auch ein kleiner rechter Verlag war, redet die Öffentlichkeit jetzt vor allem über Faustschläge, "Sieg Heil"-Sprechchöre und "Bücherverbrennungen".

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Dabei herrscht eine Menge Verwirrung darüber, was eigentlich genau passiert ist. In sozialen Medien werfen sich Rechte und Linke gegenseitig vor, die Situation eskaliert zu haben. Aber was ist tatsächlich geschehen?

Diebstahl und Sachbeschädigung

Schon vor Beginn des weltgrößten Verlagstreffens hatten Linke kritisiert, dass rechte Verlage auf der Messe ausstellen dürfen. Aufmerksamkeit erregte vor allem die Teilnahme des Antaios-Verlags, ein kleiner Verlag für neurechte Untergangsliteratur, den Götz Kubitschek und seine Frau Ellen Kositza betreiben. Mit Verweis auf die Meinungsfreiheit weigerte sich die Messe-Leitung allerdings, die rechten Verlage auszuladen, und rief stattdessen zu einer "aktiven Auseinandersetzung" mit deren Inhalten auf.


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Die sah dann aber so aus, dass Unbekannte Bücher in der Auslage des Antaios-Verlages mit Kaffee und Zahnpasta vollschmierten. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurde der Stand zwei anderer rechter Verlage (Manuscriptum und Tumult) komplett leergeräumt. In der Nacht zum Samstag traf es dann wieder den Antaios-Verlag: Unbekannte klauten Bücher, kritzelten "Fuck AfD" auf die Wände und installierten ein liebevoll gebasteltes Schild, auf dem "Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie ein Geschichtsbuch oder fragen Sie Ihre Großeltern" stand. Auf seiner Facebook-Seite beschuldigte der Verlag "aufgehetzte Linke" – und machte indirekt die "subtilen Handlungsanweisungen" der Messeleitung verantwortlich.

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Faustschläge

Der einzige belegte Fall von brutaler Gewalt ereignete sich am sonst eher ruhigen Freitag, als Achim Bergmann, der Verleger des linken Trikont-Verlags, zufällig am Stand der Jungen Freiheit vorbeikam. Dort überhörte er einen Vortrag über die 68er, den er "laut, unsachlich und demagogisch" fand, wie er der taz erzählte. Bergmann blieb stehen und rief laut "Halt's Maul!" und dann noch ein paar andere Sachen, an die er sich laut eigener Aussage nicht genau erinnern kann.

Plötzlich stand ein Zuhörer auf und schlug Bergmann ohne Vorwarnung "mit voller Wucht" ins Gesicht. Bergmann lief blutend zu seinem eigenen Stand zurück. Als seine Frau den Angreifer später stellen und fotografieren wollte, schmiss der sie auf den Boden, und riss ihr das Handy aus der Hand. Der Mann wurde schließlich von der Polizei festgenommen, Bergmann musste sich im Krankenhaus behandeln lassen.

"Austausch" mit Rechten

Um ein Zeichen zu setzen, bat die Messeleitung die antirassistische Amadeu Antonio Stiftung, einen Stand direkt gegenüber vom Antaios-Stand zu beziehen. Die Stiftung weigerte sich zwar, in einen öffentlichen Dialog mit den Rechten zu treten, die Mitarbeiter am Stand versuchten aber trotzdem, die bei ihnen ankommenden Antaios-Leser umzustimmen. "Im Großen und Ganzen war das nicht besonders fruchtbar", sagte Stiftungsmitarbeiter Stefan Lauer (der früher Redakteur bei VICE war). "Einer hat unter anderem erzählt, er wüsste nicht genau, ob der Holocaust passiert sei, weil er ja nicht dabei war." Es sei generell schwierig gewesen, zu den Leuten durchzudringen. "Ich habe über eine Stunde lang mit einer Frau gesprochen, die mir erklärte, Rassismus gäbe es in Deutschland überhaupt nicht." Außerdem sei sie überzeugt gewesen, dass alle Weihnachtsmärkte bald Winterfeste heißen würden und sich in Berlin-Neukölln niemand mehr traut, Weihnachtsschmuck aufzuhängen. "Selbst als ich ihr sagte, dass ich in Neukölln wohne und dort an Weihnachten geschmückt wird, hat sie sich geweigert, das zu glauben." Ansonsten hätte man vor allem mit Identitären zu tun gehabt, die sich am Stand aufgebaut und Stiftungsmitarbeiter angestarrt hätten.

Tumulte

Am Samstag kam es schließlich zu den Tumulten, die jetzt die Schlagzeilen über die Messe dominieren. Das fing während einer von Antaios organisierten Podiumsdiskussion an, bei der der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke mit zwei Antaios-Autoren über ihr Buch (Mit Linken leben) diskutierte. Zuerst gab es vereinzelte Zwischenrufe, dann tauchten plötzlich ein paar Gegendemonstranten mit Plakaten auf. Die beiden Antaios-Autoren, die sich offensichtlich genau darauf vorbereitet hatten, entzündeten auf der Bühne grinsend Wunderkerzen. Aus der Menge der Zuhörer lösten sich gleichzeitig ein paar junge Männer, offenbar mehrheitlich Anhänger der Identitären Bewegung, bauten sich vor den Gegendemonstranten auf und rissen ihnen teilweise die Plakate weg. "Sobald irgendwo Gegenproteste waren, sind die auf die zugestürmt und haben die Leute bedroht", sagt Stefan Lauer. "Die waren sehr erfolgreich damit, den Raum einzunehmen."

Die Gegendemonstranten | Foto: Protestfotografie Frankfurt

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Diese und die folgende Lesung mit Akif Pirinçci konnten trotzdem stattfinden, aber als die beiden Identitären Martin Sellner und Mario Müller die Bühne betraten, wurde es laut. Ungefähr 100 Gegendemonstranten, die sich unters Publikum gemischt hatten, riefen laut "Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!". Die Identitären konterten mit "Jeder hasst die Antifa!" und "Reconquista"-Rufen. "Da war von Anfang eine aufgeheizte Stimmung", sagt Kira Ayyadi von der Amadeu Antonio Stiftung zu VICE. "Es gab kurz eine Schlägerei oder Rangelei auf der Bühne, ich weiß nicht genau, wer da beteiligt war." Die Frankfurter Polizei hat in einer Pressemitteilung erklärt, bei den Tumulten sei niemand verletzt worden.

Nach 40 Minuten, in denen im Saal hauptsächlich gebrüllt worden war, beendete die Polizei die Veranstaltung, die Gegendemonstranten verließen den Saal. Götz Kubitschek weigerte sich zunächst, die Diskussion abzusagen, zog sich aber schließlich auch zurück. Obwohl er nicht auftreten konnte, freute Martin Sellner sich trotzdem über den "geilen Tag".

"Sieg Heil"-Rufe

Gegen 20 Uhr postete Nico Wehnemann, ein Frankfurter Politiker der Partei Die PARTEI ein Bild auf Twitter, in dem er selbst auf dem Boden liegend zu sehen ist, zusammen mit dem Text "Ein Nazi auf mir drauf".

Der Post wurde schnell weiterverbreitet, unter anderem von dem Ex-Titanic-Chefredakteur Leo Fischer, der dazu noch berichtete, dass die Polizei nicht eingeschritten sei, während "Dutzende Identitäre 'Sieg Heil' schrien". Als Nächstes verbreitete Jan Böhmermann Fischers Post, am Sonntag veröffentlichte das Neue Deutschland einen Artikel, der über die "Sieg Heil"-Rufe berichtete. Für viele war das die Bestätigung, dass Nazis die Buchmesse übernommen hatten.

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Wenig später erklärte die Frankfurter Polizei allerdings, dass es sich bei dem Mann auf Wehnemann um einen Sicherheitsmann der Buchmesse gehandelt habe. Der Journalist Jonas Fedders veröffentlichte ein Video, in dem zu sehen ist, wie der Sicherheitsmann Wehnemann tackelt, als der plötzlich versucht, an ihm vorbei zu sprinten. Von "Sieg Heil"-Rufen ist nichts zu hören, auch Jonas Fedders erklärte gegenüber VICE, weder er noch seine Kollegen hätten die zu irgendeinem Zeitpunkt gehört. Wehnemann hat in einem Interview mit bento mittlerweile erklärt, nur ein Mann habe ihm vorher "Sieg Heil" ins Gesicht gesagt.

Neonazis

Nur weil sie nicht im Stechschritt durch die Messehallen marschiert sind, heißt das nicht, dass keine Neonazis da waren. Auch wenn die ebenfalls als rechtsextrem geltenden Identitären sich auffälliger benommen haben, waren auch weitere Neonazis im Antaios-Publikum. Das prominenteste Beispiel ist Patrick Schröder, der Mitveranstalter der Rechtsrock-Festivals in Themar und Chef der Modemarke Ansgar Aryan, der auf seinem Streaming-Kanal FSN.TV gerne darüber redet, was das "nationale Lager" von den Identitären lernen könnte (oder sich mit rechten Rappern darüber streitet, wer der bessere Neonazi ist). Schröders Anwesenheit zeigt, wie eng die Verbindungen der Identitären zu Neonazis mittlerweile sind.

Was bleibt?

"Dass es nur ums Schreien ging, ist bedrückend und enttäuschend", so die Bilanz des Messedirektors Juergen Boos am Montag. Vielleicht hätte er besser daran getan, nicht zur "aktiven Auseinandersetzung" aufzufordern, sondern dazu, die rechten Verlage einfach zu ignorieren. "Für die Rechten war es am Ende so oder so ein Erfolg", sagt Stefan Lauer von der Amadeu Antonio Stiftung. "Sie konnten sprechen. Und selbst wenn das nicht funktioniert hat, konnten sie sich als Opfer darstellen."

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