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Health

Warum sind Pro-Ana-Blogs in der Schweiz immer noch nicht gesperrt?

Auf Pro-Ana-Blogs findet man haufenweise gesundheitsgefährdendes Material. Aber auch erwachsene Männer versuchen dort, Kontakt mit Teenagern und Kindern aufzunehmen.

Vor über einem Jahr schleuste ich mich eine Woche in eine Pro-Ana-Whatsapp-Gruppe ein, in der sich Jugendliche bewusst gegenseitig in die Magersucht trieben. Über eine sogenannte Twinbörse, die Jugendliche mit dem Ziel vernetzt, sich gemeinsam dünn zu hungern, kam ich in Kontakt mit einigen essgestörten Mädchen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Neben Inseraten von Teenagern wurde ich auch auf Annoncen sogenannter Coaches aufmerksam. Ich gab mich als 15-jähriges Mädchen aus und kontaktierte einen Coach.

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Kurz nachdem ich mit dem Coach, der sich Andree nannte, in Kontakt trat, forderte dieser Nacktbilder und drohte mir bei Nichteinhalten meiner Abnehmziele mit Strafen: Mit dem Handy sollte ich mich während der Selbstbefriedigung filmen und ihm davon Videos schicken. Ich schaltete die Polizei ein. Interpol nahm sich der Sache an und einige deutsche und österreichische Beratungsstellen kontaktierten mich, um die Gefahren von Pro-Ana-Blogs und den Twinbörsen in ihr Beratungsprogramm aufzunehmen. Von Schweizer Beratungsstellen kam keine Reaktion. Daher bin ich nun der Frage nachgegangen, ob sich seither in der Schweiz etwas in Richtung Prävention getan hat.

Der Blog, auf dem ich damals auf das Inserat des selbsternannten Coaches gestossen bin, ist noch online. In der Twinbörse ist das jüngste Inserat keine zwei Tage alt. Was mir auffällt: Eines der letzten Inserate stammt von einem Coach, der angibt, aus der Region Winterthur zu sein. Das Inserat beinhaltet eindeutige Anspielungen, dass es dem Coach kaum um das Wohl der Teenager geht: "Ich bin auch hart und verlange viel. Versagst du, bestrafe ich dich." und "Dafür musst du dich aber auch für mich nützlich erweisen."

Screenshot von einem Schweizer Pro-Ana-Blog

In der Schweiz ist der Jugendschutz nicht auf Bundesebene geregelt, sondern untersteht der Kompetenz der Kantone. Das macht es schwierig, einheitlich gegen Pro-Ana-Inhalte vorzugehen. Der Bund unternimmt nur dann etwas gegen fragliche Plattformen, wenn diese gegen ein Gesetz verstossen und deshalb von strafrechtlicher Relevanz sind. "Dazu gehören Gewaltdarstellungen, die grausame Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Tiere beinhalten, harte Pornografie und rassendiskriminierende Äusserungen",sagt die zuständige wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bereichs Kinder- und Jugendfragen Yvonne Haldimann vom Bundesamt für Sozialversicherungen auf Anfrage von VICE.

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Pro-Ana-Webseiten verbreiten keine generell verbotenen Inhalte, weshalb aktuell nicht gegen solche Seiten vorgegangen werden kann. "Auch wenn es dereinst in der Schweiz ein Jugendmedienschutzgesetz geben sollte, so werden solche Blogs dennoch höchstwahrscheinlich nicht gesperrt werden können. Der Grund dafür ist, dass deren Inhalt nicht zu den ungeeigneten Inhalten für Kinder und Jugendliche gezählt wird, auch wenn sie als gesundheitsgefährdend einzustufen sind", so Haldimann. Als ungeeignet gelten gewalthaltige, pornografische, rassistische und sexistische Inhalte.

In Deutschland und Österreich gehen die Behörden relativ konsequent gegen Pro-Ana-Seiten vor, da Pro-Ana-Inhalte hier als ungeeignete Inhalte für Jugendliche gelten. "Pro-Ana-Angebote suggerieren ein lebensgefährliches 'Wir-Gefühl', das psychisch Kranke von Therapien abhält, zur Geheimhaltung animiert und immer weiter in den Strudel der Krankheit treibt. Die einseitig krankheitsbejahende Sichtweise führt zu Isolation, da sich die Betroffenen ausschliesslich in diesem Milieu aufhalten. Sie hilft, Widerspruch und Kritik zu vermeiden", schreibt etwa das deutsche Kompetenzzentrum für Online-Jugendschutz im Abschlussbericht seiner Recherche zu Pro-Anorexie-Angeboten.

Instagram hat erst kürzlich von sich aus Massnahmen gegen diese gesundheitsgefährdenden Trends getroffen: Ein neues Feature soll dazu beitragen, Menschen mit psychischen Problemen zu helfen. Wer sich um jemanden auf dem Netzwerk sorgt—vielleicht weil dieser Triggerbilder gepostet hat—kann das Foto anonym markieren. Die Person erhält dann eine Nachricht: "Jemand hat eines deiner Fotos gesehen und denkt, dass du vielleicht gerade eine schwierige Zeit durchmachst. Wenn du Hilfe brauchst, würden wir gerne helfen." Instagram blockt mittlerweile auch Inhalte, die unter Hashtags auffindbar sind, die auf Selbstverletzung hindeuten.

Im Fall von "Coach Andree" ermittelte Interpol und verwendete hierfür meine gesammelten Beweise. Für verdeckte Ermittlungen brauchen etwa Zürcher Polizisten eine Genehmigung des Zwangsmassnahmengerichts, nicht aber für verdeckte Fahndungen. Eine verdeckte Ermittlung läge erst dann vor, wenn dem Polizisten eine durch Urkunden abgesicherte falsche Identität gegeben worden wäre und über längere Zeit ein Vertrauensverhältnis zur Zielperson aufgebaut wird, schreibt die NZZ. Dennoch schleusen sich keine Polizisten präventiv in solche Blogs ein, sondern ermitteln nur, wenn sie Hinweise aus der Bevölkerung erhalten.

Es ist schwer nachvollziehbar, dass die Verantwortung für den Schutz und die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen einfach an Instagram, Blogbetreiber oder wachsame Bürger abgegeben wird. Staaten kennen Grenzen—im Gegensatz zum Internet. Das führt dazu, dass sich auch ausländische Jugendliche weiterhin über Schweizer Pro-Anorexie-Seiten austauschen und auch selbsternannte Coaches auf Schweizer Seiten Jagd auf Jugendliche machen, solange der Bund keine einheitlichen und härteren Regelungen im Umgang mit solchen Blogs anstrebt.

Hilfe bei Essstörungen findest du hier.
Wenn ihr auf Pro-Ana-Angebote trefft, meldet sie hier oder hier.

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