Ich habe mein Gehirn mit einer angeblichen Wunder-Infusion neu gestartet

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Ich habe mein Gehirn mit einer angeblichen Wunder-Infusion neu gestartet

Die NAD+-Therapie sorgt für Energieschübe, verbessert das Wohlbefinden und hilft im Kampf gegen Alkohol- und Drogensucht. Um zu sehen, was wirklich dahintersteckt, habe ich den Selbstversucht gewagt.

Eine gesunde Skepsis gegenüber Wunderheilmitteln ist nie verkehrt, denn oftmals haben diese Mittel überhaupt nichts Wundersames an sich. Als mit ein Bekannter erzählte, dass er eine Behandlung gefunden hatte, die ihn besser als seine Arbeitskollegen macht, hegte ich deshalb auch erstmal ein paar Zweifel. "Nein, ich bin jeden Tag wirklich total energiegeladen und fühle mich wie ein neuer Mensch!", sagte er. "Ich brauche auch keine acht Tassen Kaffee mehr. Die Behandlung ist viel besser und ich hole mir alle paar Wochen eine Auffrischung."

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Zuerst dachte ich, dass er einfach nur Modafinil oder eine der anderen Smart Drugs entdeckt hätte, die in der Psychonauten-Welt schon seit Jahren konsumiert werden. Ich lag falsch. Mein Bekannter schickte mir nämlich einen Link zu einer Arztpraxis, die intravenöse "Gehirn-Neustart-Infusionen" anbot—was natürlich viel zu sehr nach einem Gadget aus irgendeinem futuristischen Sci-Fi-Film klingt, um tatsächlich wahr zu sein. Ich ignorierte meine Zweifel kurz und forschte ein wenig nach.

Der Hauptbestandteil des intravenösen Cocktails ist Nicotinamidadenindinukleotid, auch als NAD+ bekannt. Dieses Coenzym wurde 1906 entdeckt und lässt sich in allen lebenden Zellen finden. Laut Dr. Mark Collins, einem Facharzt für Psychiatrie am Priory Hospital in London, ist es "im Grunde für die Verarbeitung von Kohlenhydraten zu Zellenergie verantwortlich".

Das Internet sagt mir, dass NAD+ in der "Anti-Aging-Community" unglaublich beliebt ist—dank einer Studie der Harvard Medical School, die dem Coenzym "Fähigkeiten in Bezug auf den Altersrückgang bei Mäusen" zuschreibt. Außerdem ist es noch gut für eine Detox-Kur bei Alkohol- und Drogenproblemen, fördert den Energiefluss und die Konzentration, bekämpft chronische Müdigkeit, kurbelt den Stoffwechsel an und verbessert die kardiovaskuläre Gesundheit.

So ganz traute ich der Sache trotzdem nicht. Es gab jedoch nur einen Weg, die Wahrheit herauszufinden: Ich musste NAD+ selbst ausprobieren. Da ich in dieser Woche auch mit dem Trinken aufgehört hatte, kam mir die wundersame Wirkung von Nicotinamidadenindinukleotid natürlich sehr gelegen. Ich buchte direkt einen Termin für den darauffolgenden Tag.

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Zen Healthcare befindet sich in der Nähe des berühmten Kaufhauses Harrods und hat sich auf Behandlungen spezialisiert, die man in einer Arztpraxis in einer reichen Gegend auch erwartet: "maßgeschneiderte Abnehmtherapien", Impfungen für Reisen in exotische Länder, Botox, "Vampir-Liftings" und natürlich auch Gehirn-Neustart-Infusionen. Letztgenanntes kostet übrigens 500 britische Pfund [knapp 560 Euro].

Ich war etwas zu früh dran, aber Dr. Yassine empfing mich trotzdem freundlich und erklärte mir direkt einige der Nebenwirkungen, die während der Behandlung auftreten können.

"Ihre Brust wird sich wie zusammengeschnürt anfühlen und es treten vielleicht Kopfschmerzen auf", sagte er. "Das geht aber alles wieder vorbei."

Ich unterschrieb ein paar Verzichtserklärungen und wurde anschließend in ein Zimmer gebracht, wo Dr. Yassine meinen glücklicherweise normal hohen Blutdruck maß.

"Haben Sie Angst vor Nadeln?", fragte er mich.

"Nein, alles gut."

Nach 30 Minuten fragte ich mich, was ich da eigentlich machte, denn mein Kopf schmerzte, das unangenehme Gefühl wurde langsam unerträglich

Dr. Yassine legte mir den Tropf und kurz darauf strömte der "Gehirn-Neustart-Cocktail" durch meine Adern. Wie bereits angekündigt, schnürte sich meine Brust zusammen. Nach 30 Minuten fragte ich mich, was ich da eigentlich machte, denn mein Kopf schmerzte, das unangenehme Gefühl wurde langsam unerträglich und mir war plötzlich bewusst, dass sich eine fremde Substanz nun wohl schon komplett in meinem Blutkreislauf ausgebreitet hatte. Ich überlegte, ob ich den Buzzer drücken sollte, den mir Dr. Yassine in die Hand gedrückt hatte. Damit könnte ich die Behandlung abbrechen. Ich entschied mich jedoch dazu, bis zum Ende durchzuhalten.

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Nach 50 Minuten überkam mich ein positives Gefühl der Ruhe. Dr. Yassine schaute kurz rein, um mir zu sagen, dass ich noch zehn Minuten hatte. Die restliche Zeit verging wie im Flug und beim Entfernen des Tropfs fragte mich Dr. Yassine, wie ich mich fühle.

"Irgendwie verträumt", antwortete ich.

"Viele Patienten haben ähnlich reagiert. Passen Sie auf Ihrem Nachhauseweg lieber etwas auf."

Ich bedankte mich übertrieben überschwänglich und verließ die Praxis.

Draußen traf es mich dann wie ein Schlag: Ich verspürte einen richtigen Energieschub, ohne zappelig oder nervös zu werden. Meine Stimmung war viel besser. Ich fühlte mich selbstsicher, positiv und energiegeladen. Ich weiß noch, wie ich "Wie geil das ist" dachte und dann sogar laut aussprach. Ich stieg in die wie immer übervolle U-Bahn, aber in diesem Moment störte mich der ganze Rückenschweiß und dessen Nähe zu meinem Gesicht kein bisschen.

Am darauffolgenden Tag wachte ich um sieben Uhr morgens auf und fühlte mich überraschenderweise nicht komplett gerädert. Eher im Gegenteil. Das anfängliche Gefühl der Benommenheit war endgültig verflogen und ich merkte richtig, wie mein Energielevel, meine Konzentration und meine Zielstrebigkeit einen Schub erhalten hatten. Daran änderte sich auch in den darauffolgenden acht Tagen nichts. Aber wie stand es um die angeblichen Auswirkungen auf meine ansonsten ungebrochene Liebe für Bier?

"Es ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass sich hohe Dosen an Vitamin B3—sozusagen der NAD+-Boost des kleinen Manns—positiv auf Alkoholiker auswirken, sowohl in Bezug auf die Entgiftung als auch in Bezug auf den Rückgang von Verlangen und Stress nach dem Entzug", schrieb Dr. Collins in einer Mail.

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Diese Theorie scheint immer noch Bestand zu haben: In dem Zeitraum, in dem ich die Wirkung der Behandlung verspüren konnte, hatte ich zu keinem Zeitpunkt Lust auf frisch gezapften, kühlen Gerstensaft.

An dieser Stelle muss ich anmerken, dass mein Verlangen eben auch nur Verlangen ist. Ich bin nie komplett alkoholabhängig gewesen, ich trinke nur ab und zu gerne mal was. Um herauszufinden, wie hilfreich die NAD+-Therapie in Bezug auf richtige Drogen- oder Alkoholsucht ist, habe ich Dr. Yassine deswegen darum gebeten, mir zu erklären, wie genau die Gehirn-Neustart-Infusion bei einem Entzug weiterhelfen kann.

"NAD+ mindert die Entzugserscheinungen, indem es die Neurotransmitter-Balance wiederherstellt. Die verschiebt sich nämlich deutlich, wenn die Droge nicht mehr konsumiert wird", erklärte er. "Deshalb treten bei den Patienten während und nach dem Infusionszyklus auch fast gar keine Entzugserscheinungen auf."

Dr. Yassine arbeitet allerdings in einer Arztpraxis, die diese Behandlung anbietet. Deswegen liegt ihm wohl viel daran, NAD+ gut darzustellen. Aber auch Dr. Collins, der keinen wirklichen Grund hat, die Behandlung anzupreisen, äußerte sich positiv—wenn auch etwas vorsichtiger: "Ich habe jetzt schon mehrere Patienten gesehen, die sich diesem Verfahren unterzogen haben. Die Kurzzeitergebnisse sind sehr beeindruckend. Hier ist jedoch noch viel Forschung vonnöten—vor allem in Form von Studien zu den Langzeitfolgen."

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Dr. Yassine leitete mich an einige Patienten weiter, die mir davon erzählten, wie die Behandlung bei ihnen gewirkt hat.

"Ich habe die letzten Monate Kodein genommen", sagte Jeff*. "Alles hat mit Rückenschmerzen angefangen und mir war nie bewusst, wie schnell das Zeug abhängig macht. Dann wollte ich aufhören und durchlebte die Hölle. Die NAD+-Infusionen machen den Kodein-Entzug leichter und ich leide nicht mehr an den Symptomen, die vor der Behandlung auftraten."

Dem ehemaligen Crack- und Heroinkonsumenten Ian* erging es ähnlich.

"Er wäre gelogen, wenn ich sage, dass ich nicht manchmal daran denke, wieder Drogen zu nehmen. Dieses extreme 'Verlangen', das viele Süchtige bestimmt kennen, ist aber nicht mehr da", meinte er. "Ich mache zusätzlich noch eine Therapie, um herauszufinden, warum ich mich so verhalte. Derzeit habe ich aber eine Art der Selbstkontrolle, wie schon lange nicht mehr. Auf mich warten noch viele Behandlungen und ich werde wohl bis in alle Ewigkeiten eine Therapie brauchen."

Ian spricht hier einen wichtigen Punkt an: Die NAD+-Therapie ist zwar offenbar hilfreich, aber leider kein Wunderheilmittel. Die Hemmung des Verlangens tritt vielleicht nicht bei allen Patienten auf und das Ganze funktioniert auch nur in Verbindung mit zusätzlichen Therapien sowie anderen Behandlungsmethoden.

Bei mir hat die NAD+-Behandlung genau das bewirkt, was mir versprochen wurde. Dazu kommen dann noch die vielversprechenden Entwicklungen in Bezug auf die Alkohol- und Drogensucht. Bei den Anti-Aging-Effekten oder den Folgen für den Stoffwechsel sowie die kardiovaskuläre Gesundheit ist es noch zu früh, um ein erstes Fazit zu ziehen. Dr. Collins hat schon recht, wenn er sagt, dass in diesem Bereich noch viel Forschung nötig ist.

*Name geändert