FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Ich habe einen Tag in einem Spielcasino verbracht

Keine Freaks, dafür Tristesse wie bei einem Sarah-Connor-Konzert—was fünf Stunden an einem Spielautomaten aus einem Menschen machen kann.
Foto: El Ronzo | Flickr | CC BY-ND 2.0

Ich lebe seit fünf Jahren in Berlin. Zwar ist meine direkte Nachbarschaft um die S-Bahn-Station Prenzlauer Allee noch nicht vollständig zu dem klischeehaften Ökomütter-Kinder-Grätzl mutiert, den man aus grauen YouTube-Videos kennt, aber viel fehlt tatsächlich nicht mehr. Kinderwagen parken bereits in zweiter Reihe und nicht selten kann man beobachten, wie Mama Jutta und Papa Hans an der Kasse eines Bio-Supermarktes Englisch auf einen im Tragegurt schlummernden Säugling einreden. Es regiert die neue Spießigkeit und wer neu in das Viertel zieht, muss es sich leisten können.

Anzeige

Und doch findet man zwischen den Kinderläden, den hochpreisigen japanischen Restaurants und Bio-Supermärkten überraschend viele Automatencasinos—und trotzdem hatte ich noch nie eines betreten. Zeit, das zu ändern. Ich nahm mir vor, gleich einen ganzen Tag in einem Spielcasino zu verbringen. Aus rein journalistischen Gesichtspunkten natürlich.

10:50 Uhr

Bis zum Filter gerauchte Zigarettenstummel liegen zwischen Luxusbier-Kronkorken und Plastikschälchen mit eingetrockneten Bulgursalat-Resten. Es ist kurz vor elf. Unschlüssig stehe ich ein paar Meter abseits des „Crown-Lounge-Casinos" in der Prenzlauer Allee und versuche, möglichst unauffällig und dennoch selbstbewusst zu schauen. Dunkle Sonnenbrille, Lederjacke, verwaschene Jeans. Schade, dass ich nicht rauche, das würde meine Rolle vervollständigen. Der Plan ist, ins angenommene Zocker-Klientel zu passen. Vermutlich sehe ich aber aus wie ein Zivilpolizist. Und ein bisschen so fühle ich mich auch. Ich war noch nie in meinem Leben in einem Automatencasino und die Vorstellung hat einen Hauch von Kriminellem. Irgendwie unseriös. Ich habe mich für dieses Spielcasino entschieden, weil es zu Fuß von meiner Wohnung aus zu erreichen ist, aber dennoch weit genug von mir zu Hause entfernt liegt, so dass mich niemand kennt und ich nicht ständig daran vorbeigehen muss, falls etwas schiefläuft.

Laut meiner Internetrecherche ist die „Crown-Lounge" 23 Stunden am Tag geöffnet. Ein Irrtum, wie sich schnell herausstellt. Die Eingangstür ist verschlossen und laut Aushang öffnen die Pforten erst um 11:00 Uhr. Um 02:00 Uhr soll dann schon wieder Schluss sein. Typisch Prenzlauer Berg. Ich hole mir im Geschäft nebenan etwas zu trinken, um die Zeit totzuschlagen.

Anzeige

11:01 Uhr

Die blickdichte, mit bunten Kronen, Münzen und Geldstapeln verzierte Fassade des Spielcasinos lässt nicht erkennen, was im Inneren passiert. Die letzte halbe Stunde hat sich zumindest davor absolut nichts getan. Anscheinend bin ich der Einzige, der um diese Uhrzeit spielen möchte.

Es wirkt vermutlich nicht sonderlich souverän, wie ich, in der Annahme, es sei jetzt geöffnet, an der Eingangstüre rüttle. Erst nach mehrmaligem Ziehen fällt mein Blick auf die verdreckte Klingel am Türrahmen.

Foto: Roxanne Ready | flickr | CC BY-SA 2.0

Drinnen ist es duster. Die wenigen Fenster sind mit Jalousien verdunkelt. Die einzigen Lichtquellen sind zwei staubige Notausgang-Schilder und ein gutes Dutzend blinkender Spielautomaten, die sich über den kahlen Raum verteilen. Grauer Teppichboden, Raufaser. „Rauchen verboten" steht in roten Lettern über einem ockerfarbenen Theke neben dem Eingang. Trotzdem stinkt es nach Rauch, der sich scheinbar über Jahre im Teppich festgefressen hat. Vielleicht gibt es diese Art Teppich auch ausschließlich mit vorgeprägter Duftnote zu kaufen.

Eine verlebt aussehende Frau Anfang vierzig steht hinter der Bar und mustert mich so kurz wie desinteressiert. Ihr Teint passt farblich zum Teppich.

Mein „Guten Morgen!" wirkt viel zu ambitioniert für die Szenerie. Jetzt nicht aus der Rolle fallen! Wie zum Ausgleich huste ich trocken, ziehe etwas Schleim hoch und steuere zielstrebig auf den mir am nächsten platzierten Automaten zu.

Anzeige

11:08 Uhr

Der Sessel vor meinem Spielautomaten ist überraschend bequem. Von zwei Raumtrennwänden flankiert sitze ich vor einer aus zwei Bildschirmen bestehenden Maschine, mit dem Rücken zum Eingang. Ich stelle meinen Rucksack mit zwei heimlich mitgebrachten Wasserflaschen neben mich und ziehe, auffällig laut klimpernd, mein Kleingeldsäckchen—für in Hosentaschen gefundene Münzen—aus dem Vorderfach. Der Inhalt ist mein heutiges Limit. 12 Euro und 40 Cent beträgt mein Bankroll, den ich, noch lauter klimpernd, in einen (vermutlich) dafür vorgesehenen Pappbecher schütte. Mein Automat flackert in freudiger Erwartung. Ab und zu ertönt eine Art glucksender Laut. Maschinenmagenknurren.

Eine Broschüre in einem Seitenfach meines Sessels warnt vor Spielsucht und empfiehlt mir, eine bestimmte Nummer anzurufen, falls ich nicht mehr mit dem Zocken aufhören könnte. Ein anderer Flyer erklärt mir die einzelnen „Games", die mir zur Auswahl stehen. Ich studiere beides, auch um etwas Zeit zu gewinnen. Ich habe vor, möglichst lange im „Crown-Lounge-Casino" zu bleiben und will nicht direkt mein ganzes Budget in den ersten Minuten verjubeln.

11:32 Uhr

Leider habe ich bei der Wahl meines Platzes nicht bedacht, dass ich weder den Eingang noch die dort an der Bar sitzende Mitarbeiterin im Blick haben würde. Ertappt zucke ich zusammen, als diese plötzlich hinter mit steht. „Willst du nicht spielen? Sitzt nur rum?", motzt Frau Teppichteint mich mit schneidend-russischem Akzent an, der ihrem argwöhnischen Blick etwas Furchteinflößendes verleiht. Bin ich aufgeflogen? Die letzte halbe Stunde habe ich WhatsApp-Nachrichten geschrieben, meine E-Mails, Twitter und Facebook gecheckt und mir Notizen gemacht.

„Ich, ähm, warte noch auf jemanden", stottere ich, einen großen „LÜGNER!"-Stempel auf der Stirn. Auf wen sollte ich denn hier warten? Hier kommt offensichtlich her, wer einsamer nicht sein könnte. Um meinem Gestammel Nachdruck zu verleihen, schiebe ich etwas selbstbewusster hinterher, dass ich meinen Flieger verpasst hätte und gleich, nachdem ich „das geregelt" hätte, „richtig loslegen" würde. Eine Geschichte, die ich mir selber nicht abnehme. „Aha." Die Frau glaubt mir kein Wort, hat aber offensichtlich auch keine Lust, weiter nachzuhaken und lässt mich zufrieden. Ich werfe meinen ersten Euro in die leuchtende Maschine.

Anzeige

11:35 Uhr

Die Spiele haben Namen wie „Eternal Shine", „Book of Ra", „Diamond Wild" oder „Aladdin's Legacy" und grafisch erinnern die Startbildschirme eher an Arcade-Spiele der 90er als an Spielbank-Casino-Feeling. Nachdem ich mich per Touch-Bildschirm gut fünf Minuten durch die Kategorien der „Games" gedrückt habe, entscheide ich mich für einen Spielmodus, der im Aufbau dem eines Einarmigen Banditen gleicht. Eine Bonusoption vervielfacht den möglichen Gewinn, wenn man bestimmte Einsatzlimits überschreitet. Glaube ich. Im Grunde drücke ich unkoordiniert auf die Knöpfe und hoffe das Beste. Ein bisschen so wie mein Vater, als ich als Kind zu Weihnachten eine PlayStation geschenkt bekam und ihm den zweiten Controller zum Spielen in die Hand drückte.

Motherboard: Die neuen Könige des Donkey Kong.

Einmal drücken, um die digitalen Symbolwalzen zu starten, ein zweites Mal, um sie zu stoppen. Man kann eine Spielrunde so auf ein paar Sekunden rauszögern, bis man neu setzen muss. Blinken, polyphone Fanfaren. Nach zwei Minuten habe ich meinen Einsatz erst halbiert und dann verdreifacht.

11:45 Uhr

Was als kleine Glückssträhne begann, hat sich zu einer ganzen „Glücksfrisur" mit Salontönung, Extensions und Kopfmassage entwickelt. Ich bin sagenhafte 8 Euro im Plus. Führ mich zum Schotter! Mein Automat blinkt und blitzt wie ein kleines Las Vegas. Schön, wie sich eine Maschine mit einem freuen kann. Triumphierend drehe ich mich um Richtung Eingang. Niemand da. Und noch immer bin ich der einzige Gast. Na, da warte ich mit dem Auszahlen, bis ich mehr Publikum habe.

11:48 Uhr

Kurz hintereinander betreten zwei Männer die Spielhalle. Der Erste im Jogginganzug aus feinster Ballonseide. Lila, pink und weiß. Die kompletten 90er als bequemer Zweiteiler. Der Klassiker. Dazu trägt er lässig Adidas und selbstverständlich Tennissocken. Sportlich elegant im Dresscode. Von den Automaten angestrahlt, leuchtet seine rotadrige Schnapsnase, als müsste er den Schlitten des Weihnachtsmannes durch tiefstes Schneegestöber führen. Eine Klischeeexplosion. Er nickt in meine Richtung und setzt sich an einen Spielautomaten außerhalb meines Sichtfeldes.

Gast Nummer zwei, Typ Langzeitstudent, sieht aus dem Augenwinkel betrachtet so nichtssagend aus, dass ich ihn kurz in Verdacht habe, ebenfalls „Undercover" im Zockermilieu unterwegs zu sein. Er wählt den Automaten neben meinem und beginnt sofort zu spielen.

Anzeige

Foto: jayneandd | Flickr | CC BY 2.0

11:55 Uhr

Mein Lauf stagniert. Ich habe mich bei 9 Euro Plus festgespielt und beschließe, alles—bis auf meinen als Grundeinsatz investierten Euro—ausschütten zu lassen. Tabula Rasa per Moneyrain. Die Münzen scheppern in die bauchige Eisenwanne auf Höhe meiner Knie. Die süße Symphonie des Reichtums. Ich schaufle die vier gewonnen Zwei-Euro-Münzen in meinen Pappbecher und fühle mich wie Dagobert Duck in seinem Geldspeicher.

12:15 Uhr

Der in den Adidas hat auch gewonnen. Anscheinend richtig viel. In den Eingeweiden seines Spielautomaten rumort es, dann erbricht dieser kiloweise Geldstücke. Vielleicht hat Rudolf ihm was untergemischt. Er scheint die Tricks zu kennen. Kurz darauf verlässt Rudolf das Casino—als mutmaßlich gemachter Mann. So muss man es machen. Vielleicht sollte ich mehr Risiko gehen?

12:55 Uhr

Langsam erarbeite ich mir ein System. Ich setze in 5-Cent-Schritten. Wenn ich nach 10 Runden nicht gewonnen habe, verdopple ich den Einsatz, spiele weitere 10 Runden und so weiter, bis ich gewinne, oder Geld nachwerfen muss. Dann beginne ich wieder von vorne. Ich mag mein System. Ich mag den Gedanken, „strategisch" zu spielen und die Maschine mit überlegtem Vorgehen zu dominieren. Ich knacke den Code! Ich überliste die Mechanik!

Wir müssen superintelligente Killer-Roboter davon abhalten, die Welt zu übernehmen.

Gewinne und Verluste halten sich bisher in etwa die Waage. Das ist gut. Schließlich will ich möglichst lange hier sitzenbleiben und die Menschen beobachten.

Anzeige

13:07 Uhr

Mein Spielautomat ist eingefroren. Ein rotes Warn-Fenster auf dem Bildschirm ermahnt mich, fünf Minuten Zwangspause zu machen. Anscheinend habe ich „alarmierend lange" an dem Gerät gesessen. Ich schaue mich um. Der Langzeitstudent ist verschwunden, die Casino-Mitarbeiterin ist nirgendwo zu sehen. Zäh zählt der Countdown meines Time-Outs die Sekunden runter. Heimlich trinke ich einen Schluck aus einer meiner reingeschmuggelten Wasserflaschen. Seltsamerweise habe ich aber eher Lust auf ein Bier.

13:42 Uhr

Offenbar ist eine halbe Stunde vergangen, seit mein Spielautomat mir erlaubt hat, weiterzuzocken. In den letzten paar Minuten habe ich mein bisher erspieltes Plus bis auf 80 Cent verloren. Ein Desaster. Eine Erfolgskurve wie am „Schwarzen Donnerstag" 1929. Ich klicke mich ins Hauptmenü, wähle ein „Game", bei dem man Diamanten in einem Pyramidendiagramm erspielen muss, setze meine 80 Cent und gewinne 3 Euro. Wie ferngesteuert klicke ich mich zurück zum „Einarmigen Banditen", um meine Strategie weiter zu perfektionieren.

Foto: Garry Knight | Flickr | CC BY 2.0

14:12 Uhr

Zwangspause. Zwangspause! Schon wieder Zwangspause! Die fünf Minuten, die ich jetzt nicht spielen darf, dauern länger als die 60, die ich eben durchgezockt habe. Die gewonnenen 3 Euro sind weg und ich habe ein bisschen den Überblick verloren, wie viel von meinem anfänglichen Bankroll noch übrig ist. Beruhigenderweise sind noch gut Münzen in meinem (vermutlich) dafür vorgesehenen Pappbecher.

Ich nehme einen tiefen Schluck aus meiner inzwischen offen neben mir stehenden Wasserflasche und verschwinde Richtung Toilette.

Anzeige

15:10 Uhr

Die Zeit verrinnt inzwischen wie mein Geld. Zwar gewinne ich mit meinem System immer wieder so viel, dass ich nicht auf dem Trockenen sitze, aber insgesamt geht es unaufhaltsam bergab. Ärger steigt in mir hoch, wenn mich der Zufallsgenerator gewinnen lässt, kurz bevor ich nach meinem System den Einsatz erhöht hätte. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ist die Maschine gezinkt? Um unberechenbar zu bleiben, erhöhe und verringere ich meine Einsätze sprunghafter.

15:17 Uhr

Zwangspause. Ich wechsle den Automaten, um die fünf Minuten nicht sinnlos absitzen zu müssen.

16:15 Uhr

Tunnelblick. Ich werfe meinen letzten Euro in den Spielautomaten, setze ihn in 20-Cent-Schritten und bin pleite. Griechisches Roulette. Christian Varoufakis. Ein komisches Gefühl der Leichtigkeit erfüllt mich. Ich bin fix und fertig. Mein Sichtfeld zieht sich zusammen und ich bin komplett durchgeschwitzt. Kurz wächst in mir der Drang, nach Hause zu gehen, frisches Geld zu holen und weiterzuspielen, dann besinne ich mich jedoch eines Besseren. An die letzte Stunde kann ich mich so gut wie nicht erinnern. Ich glaube, es waren noch ein paar Spieler an den anderen Geräten gesessen, beschwören kann ich es aber nicht. Ich blättere durch meine dünnen Notizen für den Artikel, bleibe noch zehn Minuten sitzen und verlasse schließlich das Spielcasino. Enttäuscht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in diesem Spielcasino absolut nichts passiert ist und dass das Automatencasino einer der traurigsten Orte war, an dem ich mich jemals aufgehalten habe. Und ich war tatsächlich schon einmal auf einem Sarah-Connor-Konzert. Freaks? Skurrilitäten? Blödsinn. Im Endeffekt bezahlt man im Automatencasino für rasende Langeweile und wird übermannt von der Aussicht auf kleine Ausflüchte aus der von einem selbst erschaffenen Monotonie. Minimale Kicks gegen den Stumpfsinn, während Zeit und Geld verrinnen. Ich bin froh, dass ich gerade noch mal so die Kurve gekriegt habe.

Wenn ihr wissen wollt, was Christian sonst noch so in seinem Leben macht, folgt ihm doch bei Twitter.


Titelfoto: El Ronzo | Flickr | CC BY-ND 2.0