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Mein Leben mit Narben

Die Reaktionen von fremden Menschen auf meine vernarbten Arme sind entsetzlich.
Vlue | Shutterstock

Laut einer deutschen Studie verletzen sich 15 bis 26 Prozent der Jugendlichen selbst. Für Österreich und die Schweiz gibt es zwar keine offiziellen Zahlen, doch aufgrund der kulturellen Nähe ist davon auszugehen, dass die Zahlen ähnlich aussehen. Die allermeisten haben Erfahrungen mit dem Thema, weil entweder sie selbst oder Menschen aus ihrem Umfeld betroffen sind. Trotzdem wird selbstverletzendes Verhalten mit Scherzen über „ritzen" trivialisiert. Dabei ist jede Art von Selbstverletzung ein Zeichen dafür, dass es der Person nicht gut geht. Egal, ob es ein Kratzer oder ein tiefer Schnitt ist. Während manche Menschen, die mitten in der Krankeit stecken, kaum Hilfe bekommen, werden andere wegen ihrer Narben ständig angesprochen, obwohl sie schon komplett verheilt sind. Dabei sollte es genau anders herum sein. Es braucht also dringend Aufklärung. Eine junge Frau, die seit Jahren mit selbstverletzendem Verhalten und den Folgen davon lebt, erzählt hier ihre Geschichte.

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Erst letzte Woche hat mir die Sprechstundenhilfe bei meiner Gynäkologin den Arm gestreichelt. „Was hast du dir da angetan?", fragte sie besorgt. Ja, ich habe viele Narben auf den Armen. Ich habe mal versucht sie zu zählen und habe bei 60 aufgehört—da war ich noch nicht einmal bei der Hälfte. Ich bin seit sieben Jahren tagtäglich mit neugierigen Blicken und besorgten Fragen konfrontiert. Trotzdem weiß ich noch immer nicht, wie ich auf solche Situationen reagieren soll.

„Warum? Warum? Warum?"

Mir ist bis heute nicht klar, was sich die Leute durch ihr Nachbohren erwarten. Ich habe Ewigkeiten nach der richtigen Antwort gesucht, aber es gibt keine. Früher habe ich einfach nichts darauf gesagt. Danach hat eine Zeit lang „das ist Vergangenheit" ganz gut funktioniert. Vor ein paar Wochen habe ich auf der Straße einer Frau eine Zigarette gegeben. Als ich sie ihr gereicht habe, hat sie die Narben auf meinem Arm gesehen und gefragt: „Warum machst du das?" Ich: „Das ist Vergangenheit." Sie hat aber nicht lockergelassen: „Warum? Warum? Warum?" Ich bin dann erschrocken weggegangen.

Am angenehmsten finde ich es, wenn ich gar nicht auf meine Narben angesprochen werde. Oder wenn zumindest mein Abwinken respektiert wird. In der U-Bahn sprechen mich zwar kaum Leute an, dafür starren sie so lange, bis sie bemerken, dass ich sie auch anstarre. Ich traue mich erst seit ein paar Jahren wieder Kleidung mit kurzen Ärmeln zu tragen. Wegen solcher Blicke habe ich meine Arme jahrelang versteckt.

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„Deine Freundin ist ein Emo!"

Die schlimmste Zeit waren die Jahre, in denen Emos total in waren. Damals habe ich mir die ganze Zeit anhören dürfen, wie „Emo" ich nicht bin. Mit 14 Jahren war ich bei einer Homeparty meines damaligen Freundes. Da hatte ich noch frische Narben. Es war extrem heiß und ich habe mich geweigert, meine Weste auszuziehen. Irgendwann war ich so betrunken, dass es mir egal war und ich sie doch ausgezogen habe. Dann habe ich mit freien Armen angefangen auf einem E-Piano zu spielen, bis jemand meinem damaligen Freund zugerufen hat: „Oida, deine Freundin ist ein Emo!" Ich bin aufgesprungen, hab mich am Klo eingesperrt, geheult und mich erst recht geschnitten. Ich sage bewusst geschnitten statt geritzt, weil es meine Erfahrung besser beschreibt.

Damals wurde ich nicht ernst genommen. Schneiden war für die anderen ein Modetrend, der zum Emo-Dasein dazugehört hat. Emo-Witze halte ich noch immer nicht aus. „Was ist der Unterschied zwischen einem Emo und einer Pizza? Der Emo schneidet sich selbst!" oder „Ritze ratze Emo-Fratze". Das Letztere haben sie in der Schule oft zu mir gesagt. Als ich mit 13 Jahren mit dem Schneiden angefangen hatte, habe ich ein Schweißband über die Stelle am Unterarm getragen. Weil ich damals immer nur traurig auf meinem Platz gesessen bin, gingen Gerüchte um, bis jemand auf mich zugerannt ist und mir das Schweißband heruntergerissen hat. Als ich in der 4. Klasse von einem Psychiatrieaufhalt zurück in die Schule gekommen bin, wurde ich mit „Was? Ich dachte, du hast dich schon umgebracht?" empfangen.

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Gemeinsames Schneiden in der Psychiatrie

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist meine Erkrankung zu einem Teil meiner Identität geworden. Ich habe eine Freundin gefunden, der es egal war, wer ihre Narben sieht und habe meine auch nicht mehr versteckt. Die Leute schauen sich dort alles voneinander ab. Die, die noch nicht so lange krank sind, fragen die, die damit schon mehr Erfahrung haben, wie sie sich am besten tief schneiden können. Manche zeigen es ihnen sogar. Die sperren sich dann zusammen in die Toilette ein und schneiden sich zusammen, manchmal sogar mit derselben Klinge. An übertragbare Krankheiten wie HIV denkt niemand.

Ich glaube, Selbstverletzung ist so interessant für andere Leute, weil es eine aktive Handlung ist. Wenn jemand depressiv ist und deswegen die Wohnung nicht verlässt, ist es ein Nicht-Tun und damit irgendwo unspektakulär. Wenn ich die Klinge in die Hand nehme und mich schneide, tue ich absichtlich und aktiv etwas, das mir schadet. Depressionen werden zwar immer mehr als Krankheiten akzeptiert, doch auch das kann in die Gegenrichtung ausschlagen. Ich höre immer mehr Leute Sachen sagen wie „es sind doch eh alle Menschen depressiv". Damit werden psychische Krankheiten nicht entstigmatisiert, sondern trivialisiert, was wieder dazu führt, dass sich Betroffene seltener Hilfe holen.

„Tut das nicht weh?"

„Tut das nicht weh?", werde ich oft gefragt. Ja, schon. Aber so einfach ist es nicht. Schmerz ist ein negativ-konnotiertes Wort. Wenn ich mich aber selbst verletze, ist dieser Schmerz etwas Positives für mich. Dabei ist die Absicht essentiell. Wenn ich mich beim Kochen unabsichtlich in den Finger schneide, tut es weh und fühlt sich nicht gut an. Wenn ich einen kontrollierten Schnitt setze, ist es ein gutes Gefühl. Mir ist klar, dass das absurd klingt—und das ist es auch. Vor allem ist es aber gefährlich.

Ich habe seit einem Jahr den Plan, dass ich mir die Narben weglasern lasse, aber irgendwie schaffe ich den Schritt nicht. Die Narben dokumentieren eine schwere Zeit, die ich überlebt habe. Sie gehören zu mir. Wenn ich sie wegmachen lasse, habe ich das Gefühl, ich würde sie verleugnen. Bei vielen weiß ich auch noch ganz genau, in welcher Situation ich mich geschnitten habe. Manche Narben mag ich richtig. Es sind vor allem die, die ein Selbstmordversuch waren. Sie sind eine Warnung an mich selbst. Ich habe von vielen gehört, dass die gelaserten Arme wie ein unbeschriebenes Blatt Papier sind und Rückfälle triggern. Bei mir war der Platz nie ein Problem. Ich habe immer drübergeschnitten. Dabei springen die alten Narben manchmal wieder auf.

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„Jetzt erst recht."

Bei manchen Menschen ist die Selbstverletzung ein Hilfeschrei. Das heißt natürlich, dass sie Aufmerksamkeit wollen und das aus gutem Grund. Psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen werden meist viel zu spät erkannt. Absurderweise hilft selbstverletzendes Verhalten dabei, die Krankheiten früher zu erkennen, weil es plakativer ist als nicht zu essen. So ein Hilfeschrei sollte immer ernstgenommen werden. 2012 sind in Österreich etwas doppelt so viele Menschen an Suiziden gestorben als an Verkehrsunfällen. Wenn die Person in ihrem Hilfeschrei nicht ernstgenommen wird, steigt das Risiko, dass sie sich denkt: „Jetzt erst Recht."

Bei mir hat sich das Schneiden zu einer Sucht entwickelt. Klingen waren mein Stoff. Jedes Mal, wenn auch nur etwas Blödes passiert ist, habe ich mich geschnitten. Schlechte Noten, eine Meinungsverschiedenheit mit meiner Mutter—ich habe immer einen Grund gefunden. Ich habe mich geschnitten, so wie ich heute Zigaretten rauche. Manchmal einfach, weil ich mir gedacht habe: „Ah, heute hab ich noch nicht."

Schneiden als Überlebensstrategie

Für mich war Selbstverletzung eine Strategie zu Lebensbewältigung. Schneiden hat gegen den Drang, mich umzubringen, geholfen. Ich habe mit der Zeit gelernt, mich so zu schneiden, dass der kleinstmögliche Schaden entsteht. Bei unkontrolliertem Schneiden kann es passieren, dass Muskeln oder Nerven verletzt werden und man beispielsweise einen Finger nicht mehr bewegen kann. Um das zu vermeiden, habe ich mich statt einmal tief, mehrmals oberflächlich geschnitten. Wenn ich versucht habe, den Drang aufzuschieben, ist er irgendwann so stark geworden, dass ich ihn nicht mehr unter Kontrolle hatte. Also habe ich angefangen, den Drang sofort zu befriedigen, um schlimmere Konsequenzen zu vermeiden. Das war natürlich ein dürftiger Kompromiss, der nur eine Übergangslösung sein durfte.

Angehörige müssen verstehen, dass es oft ein langer Weg zur Gesundung ist. Für die meisten ist es nicht möglich ist, mit einem Mal aufzuhören, wenn man sich davor täglich geschnitten hat. Wenn Selbstverletzung als Ventil funktioniert, braucht man einen Ersatz. In der Psychiatrie habe ich Schritte gelernt. Der erste Schritt ist, nach dem Schneiden zum Pflegepersonal zu gehen und es ihnen zu sagen. Beim zweiten soll ich mich danach selbst verbinden, als eine Art Wiedergutmachung für mich. Der nächste Schritt ist, vor dem Schneiden zu kommen. Dann habe ich zum Beispiel ein Coolpack gegen den Drang bekommen.

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Skills und Hilfe

So etwas wird „Skill" genannt. Das ist also ein Ersatz für selbstverletzendes Verhalten. Die müssen aber richtig antrainiert werden. Wenn ich heute ein Coolpack verwenden würde, würde es zwar helfen, aber bei weitem nicht so gut wie damals. Eine Zeit lang habe ich auch ein Gummiringerl am Arm gehabt und damit gegen die Haut geschnalzt. Nach einiger Zeit hat mich das aber getriggert.

Ich habe mich früher selbst als hoffnungslosen Fall abgestempelt. Heute liebe ich mein Leben und habe meinen Drang im Griff, auch wenn er nicht komplett weg ist. Es ist eine Überwindung, aber es lohnt sich immer, sich die Hilfe zu holen, die man braucht. Die sieht für jeden Menschen anders aus. Mir hat Psychotherapie geholfen. Anderen bringt es am meisten, mit ihren Freundinnen und Freunden über ihre Probleme zu reden. Eins ist sicher: Niemand ist hoffnunglos.

Wenn du eine Person mit frischen Wunden siehst, die nicht verarztet sind, biete ihr deine Hilfe an. Wenn du selbst Hilfe brauchst, kannst du zum Beispiel die Telefonseelsorge entweder anrufen oder mit ihnen chatten. Bei Notfällen ruf den Psychosozialen Dienst an: (01) 31330


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