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nichtmehrwegschauen

Nein heißt nein – aber habe ich überhaupt Nein gesagt?

Sexuelle Übergriffe können auch traumatisierend sein, wenn eigentlich „eh nichts passiert ist“. Das einzige, was da noch weniger hilft als ein #AllWomen-Hashtag, ist Wegschauen.

Sophie war Bassistin bei The Boys You Know und kellnert in Linz. Foto mit freundlicher Genehmigung.

Jetzt ist schon wieder was passiert. Und zwar mir, vor gar nicht allzu langer Zeit. Eines frühen Morgens fand ich mich in der schönen Situation wieder, die Wohnung eines Bekannten nicht ganz so einwandfrei verlassen zu können, wie ich es normalerweise erwarten würde. Und das ist natürlich ein verdammter Euphemismus dafür, wie es mir wirklich ging. Die Vorstellung, nach einer Nacht voller Bier, Musik und Gras alleine einzuschlafen, war meinem Bekannten wohl genauso wenig sympathisch wie für mich jene, nach einer Nacht voller Bier, Musik und Gras nicht entspannt und müde und ALLEIN in meinem eigenen Bett einschlafen zu können.

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Nachdem die wiederholten Versuche, mich in sein Bett zu ziehen, trotz aller Beteuerungen, dass „jo eh nichts passieren" würde, fehlgeschlagen waren, hielt er es immer noch für angebracht, mich gegen eine Wand zu drücken und „spaßeshalber" zu versuchen, mich zu küssen. Das war wirklich ein großer Spaß—insbesondere die Tatsache, dass es mich ganze drei ermüdende Versuche gekostet hatte, mich aus der unfreiwilligen Umarmung zu lösen, bevor ich endlich gehen durfte. Er verabschiedete mich freundlich und wünschte mir eine gute Nacht. Alles easy.

Im Grunde hatte er Recht, es war eh überhaupt gar nichts passiert. Komischerweise war der zweiminütige Heimweg trotzdem wahnsinnig anstrengend. Ich tat mir schwer, die Fassung zu behalten und war so erleichtert wie noch nie, endlich die Haus- und schließlich die Wohnungstüre hinter mir zusperren zu können. Obwohl ich völlig erledigt war, war an Schlaf fürs Erste natürlich nicht mehr zu denken. Ich konnte überhaupt nicht beurteilen, was da gerade wirklich passiert oder eben nicht passiert war und versuchte zuallererst, mein eigenes Verhalten von Anfang bis Ende durch zu analysieren. Zirka das Erste, das mir in den Kopf schoss, war „Habe ich das provoziert? Habe ich ihm unfreiwillig zu verstehen gegeben, dass das akzeptabel sein könnte? Bin ich schuld? Und reagiere ich überzogen?" Kurz darauf folgten dann Gedanken wie: „Hätte ich mich mehr wehren sollen? Oder wäre das nur kontraproduktiv gewesen? Ist es vielleicht besser, das ‚geringere' Übel zu wählen?"

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Foto via TED Conference

In den nächsten Stunden schanzte mir mein Gehirn alle möglichen Gedanken zu, von Eigenschuldzuweisungen über Vorbeugungs- und „Nachsorge"maßnahmen. Alle möglichen müden Erklärungsversuche eines erschöpften Denkapparats. Und immer wieder der verzweifelte Verharmlosungsversuch, dass ich das vielleicht alles völlig überbewertete, es vergessen und schlafen sollte. Gegen Ende konnte ich jeden ekelhaften Selbstjustizgedanken nachvollziehen, den man sich vorstellen kann. Was blieb, war das lähmende Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und der einzige eindeutige Schluss, den ich ziehen konnte: Im Ernstfall hätte ich nicht die geringste Chance, mich zu wehren. Kein unförmiges, ausgebeultes Sweatshirt, kein jahrelang zurückliegender Selbstverteidigungskurs, und sei er noch so erfolgreich absolviert worden, kein Pfefferspray, kein Schlagring oder sonstiges legales oder illegales Selbstverteidigungsmittel, kein Selbstbewusstsein und kein #SolidarityStorm- oder #NichtMehrWegschauen-Hashtag dieser Welt könnte mich beschützen.

Aber wer oder was könnte mich denn sonst beschützen? Paradoxerweise sehnte ich mich im ersten Moment nach genau dem, wovon ich mich zur gleichen Zeit alles Andere als angezogen fühlte: einem starken Mann an meiner Seite.

Im Grunde versteh ich den Beweggrund dahinter ja sogar. Geil sein ohne Aussicht auf Sex ist scheiße, und einsam sein ohne Aussicht auf Gesellschaft ist auch scheiße. Und das nämlich nicht nur als Mann, ich kenne beides auch aus eigener Erfahrung sehr gut. Aber damit muss man, zumindest im Jetzt und Gleich, leben. Genauso wie ich mir viel zu viel wert bin, mich nackt auf die Straße zu stellen und „DUA ERM EINI, ICH BIN GEIL!" zu schreien—obwohl ich es könnte und vielleicht sogar erfolgreich damit wäre, sollte sich doch eigentlich jeder Mensch selbst viel zu viel wert sein, sich einem anderen aufzuzwingen, oder noch schlimmer, ein Vertrauensverhältnis irreversibel zu schädigen? Gewalt entsteht aus Hilflosigkeit, und Hilflosigkeit entsteht aus Gewalt.

Was mich an dieser „Nicht-Situation" so erschreckt, ist dass 10 Minuten nicht nur quälend lang sein, sondern auch ein gefestigtes Selbstbild völlig über den Haufen werfen können. Ich bin es allein schon berufsbedingt gewohnt, auf dümmste und verachtenswerteste Weise angegraben zu werden. Ich bin routiniert darin, andere zurückzuweisen und oft die Erste, die anderen Frauen in unangenehmen Momenten mit Wort, Tat und notfalls Entourage zur Seite steht. Auch die betreffende Person meines dieses Ereignisses erlebe ich regelmäßig beim couragierten Einschreiten. Ich bin sogar der Ansicht, dass das von ihm gezeigte Verhalten in dieser speziellen Situation gar nicht so beabsichtigt und er sich der Wirkung momentan einfach nicht bewusst war. Ich bin ihm nicht einmal böse.

Aber NEIN, es gibt KEINE Entschuldigung dafür. Ich sollte mich nicht wehren müssen. Niemand sollte das. Nicht bei einem Fremden und schon gar nicht bei jemandem, dem man eigentlich vertraut. Und das Vertrauen ist dahin. Denn wie gesagt: Kein selbstbewusstes Auftreten hilft einem, wenn der andere einfach stärker ist.

Diese Scheiße passiert nicht nur Frauen und vor allem passiert sie nicht nur Menschen, zu denen ihr keinen Bezug habt. Sie passiert nicht nur nachts in zwielichtigen Gegenden (oder tagsüber auf der Straße). Vor allem passiert sie viel zu oft, weil niemand hinsehen will. Ein Aufschrei in einer Wohnung ist den Menschen noch viel, viel egaler als draußen, am meisten berührt oder nervt (!) er sie—uns!—noch auf Twitter. Und diese Wegschau- und „Passiert mir schon nicht"-Mentalität bringt niemandem irgendwas, außer vielleicht den netten Schein durch die rosa Brille im Alltag aufrechtzuerhalten. Wer damit leben kann, soll es tun. Ich kann und will es jedenfalls nicht mehr.