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Sex

Prostatamassagen sind das neue sexuelle Grenzerlebnis

Wie es scheint, wagen immer mehr Paare den Schritt ins Unbekannte. Mehrere Experten erklären uns das Phänomen hinter der Prostatamassage.
stilisierte Darstellung der Prostata
Titelbild: Koji Yamamoto

Vor ein paar Jahren bekam der amerikanische Sexkolumnist Dan Savage eine Nachricht von einem sehr besorgten Mann: "Ich lasse eine Freundin an meinem Arsch 'herumexperimentieren'. Was als kleiner Kink mit ihrem Finger anfing, hat sich zu einem voll ausgewachsenen Fetisch mit ihrem Dildo (nicht in Form eines Penis) entwickelt. Ich habe versucht, zu Schwulenpornos zu masturbieren. Aber das ist nicht mein Ding. Ich habe nach wie vor kein sexuelles Verlangen nach anderen Männern, Dan, aber ich LIEBE es, Sachen in meinen Arsch geschoben zu bekommen. Heißt das, ich werde schwul?"

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Savage, dem diese Frage scheinbar häufiger gestellt wird, beruhigte den Mann: "Wenn ein Mann und eine Frau es miteinander tun – egal was –, dann ist das ein heterosexueller Geschlechtsakt."

Doch auch in offeneren und ungehemmteren Kreisen war es bis vor Kurzem noch ein absolutes Tabuthema, sich als heterosexueller Mann auf der Empfängerseite von Analspielen zu befinden. Stattdessen sah man darin ein Zeichen von latenter Homosexualität. "Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich vor etwa zehn Jahren mal einen Blogbeitrag über anale Stimulation bei heterosexuellen Männern geschrieben habe – speziell über Pegging", sagt Timaree Schmit, Sexualpädagogin und Moderatorin des Podcasts Sex With Timaree. "Der Beitrag wurde häufiger kommentiert als alle anderen Beiträge, die je zuvor auf der Seite erschienen waren." Allerdings nutzten viele die Kommentarspalte nur, um zu sagen, dass "jeder Mann schwul ist, der darauf steht, sich an den Arsch fassen zu lassen".


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Hilfsmittel für anale Penetration und Prostatastimulation bei heterosexuellen Männern sind längst ein Millionengeschäft.

Welchen Unterschied doch zehn Jahre ausmachen können. Anale Penetration und Prostatastimulation bei heterosexuellen Männern liegen derzeit voll im Trend. Über den "P-Punkt" wird mittlerweile ganz unabhängig von sexuellen Orientierungen diskutiert und selbst von trendorientierten Medien wie Shape, Men's Health, Psychology Today und GQ wird das Thema regelmäßig aufgegriffen. Auch in Filmen und Serien gab es schon verschiedene männliche Charaktere, die von Frauen "gepeggt" wurden (ein Begriff der von Dan Savages Leserschaft eingeführt wurde) – vom Historiendrama Marco Polo über die Comedy-Serie Broad City bis hin zu Deadpool, dem Slapstick-Superheldenfilm, der letztendlich als nicht jugendfrei eingestuft wurde. Aber auch Online-Shops haben ihr Sortiment an Prostatastimulatoren aufgestockt und haben mittlerweile sogar eigene Kategorien mit Sexspielzeugen nur für Männer – und der Umsatz steigt.

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"Zwischen 2015 und 2016 konnten wir beobachten, dass unsere Verkäufe in dieser Kategorie um knapp 13 Prozent gestiegen sind", sagt Katy Zvolerin, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit der amerikanischen Sexspielzeugkette Adam & Eve. "Allerdings legen die Prognosen für 2017 nahe, dass wir auch diese Zahl in den Schatten stellen werden. Das liegt auch daran, dass immer mehr Prostataspielzeuge und Anal-Kits auf den Markt kommen." Zvolerin bezeichnet den Markt als "zukunftsweisend" und erklärt: "Wir führen alles – von einem kleinen, unbedrohlich wirkenden Plug aus weichem Silikon bis hin zu moderneren, vielseitig einsetzbaren Spielzeugen, die sowohl als Penisring als auch als Analplug verwendet werden können."

"An den Verkäufen lässt sich am besten ablesen, wie sich die sexuelle Einstellung der Menschen verändert", sagt Charlie Glickman, ein Sexualpädagoge und Paartherapeut aus San Francisco und Koautor des Buches The Ultimate Guide to Prostate Pleasure ist. Verkaufszahlen sind ein wertungsfreier Maßstab.

Auch Wissenschaftler sagen, dass sich heterosexuelle Männer im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten mittlerweile ganz ohne das Stigma und die ganze Hysterie um die eigene sexuelle Identität Sachen in den Hintern schieben können.

"Wir konnten eine fundamentale Veränderung beobachten", sagt Eric Anderson, ein amerikanischer Wissenschaftler, der an der Universität von Winchester in Großbritannien im Bereich Sport, Gender und Sexualität forscht. Im Rahmen einer seiner Studien stellte er fest, dass sich ein Drittel der befragten britischen Studenten schon einmal von einer ihrer Partnerinnen einen Vibrator oder ein anderes Objekt in das Rektum einführen ließen. "Im Grunde ist Homophobie ein zentraler Akteur bei allen möglichen Stigmata", erklärt er, "aber Millennials erleben nicht mehr so viel Homophobie, sodass sich auch das Stigma langsam auflöst."

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Die Prostata gehört zu den erogenen Zonen des Mannes. Wird sie massiert, fühlen sich die Orgasmen intensiver an.

Die Verbindung zwischen Analspielen und Homosexualität basiert mehr auf dem vermeintlichen Verhalten homosexueller Männer als auf konkreten Kenntnissen über die menschliche Biologie. Menschen aller Geschlechter und aller Orientierungen besitzen ein dichtes Geflecht aus Nerven im Anus, von denen viele mit den Genitalien verbunden sind. Die Prostata, die sich etwa sieben bis zehn Zentimeter innerhalb des Rektums ertasten lässt, gehört mit zu den erogenen Zonen des Mannes. Durch die Massage der Prostata können das sexuelle Lustempfinden und die Orgasmen bei Männern intensiviert werden. Diese Verdrahtung existiert bei heterosexuellen genau wie bei homo- oder bisexuellen Männern.

"Ein Organ hat keine sexuelle Orientierung", sagt Susan Stiritz, Professorin für Gender und Sexualität an der Washington University und Koautorin der 2012 erschienenen Studie Teaching Men's Anal Pleasure. Sie vergleicht die Prostata mit der mindestens genauso häufig missverstandenen Klitoris, von der man vor dem 20. Jahrhundert auch noch dachte, "dass sie ein lesbisches Organ sei, das bei heterosexuellen Sex vollkommen nutzlos wäre".

Außerdem wird die vermeintliche Fixierung schwuler Männer auf den Hintern vollkommen übertrieben dargestellt. Eine Studie aus dem Jahr 2011 hat ergeben, dass lediglich ein Drittel der befragten Personen bei ihrer letzten sexuellen Begegnung Analsex hatte.

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Dass solche homophoben Ansichten über mehrere Generationen hinweg immer weiter zurückgedrängt wurden, gibt heterosexuellen Männern auch die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren, die früher als "schwul" galten. "Ein heterosexueller Mann in einer homophoben Gesellschaft kann niemals beweisen, dass er heterosexuell ist", sagt Anderson. "Ein einziger Schnitzer genügt, um als 'Schwuchtel' abgestempelt zu werden. In den 80ern war das noch die Regel." Männer haben sich nur selten umarmt und wenn überhaupt, dann haben sie absolut primitiv und machohaft über ihr Sexleben gesprochen, sagt er.

Wie Anderson und andere Wissenschaftler festgestellt haben, räumen heterosexuelle Millennials in Großbritannien hingegen ganz offen ein, dass sie sich an verschiedenen "homosozialen" Verhaltensweisen beteiligen. Beispielsweise haben knapp neun von zehn Befragten schon mal einen anderen Mann geküsst und in etwa genauso viele haben auch schon mal mit einem Menschen desselben Geschlechts gekuschelt. "Millennials ist das komplett egal", sagt Anderson. "Sie haben Dreier, wichsen in einem Raum mit anderen Männern oder kommen aus dem Badezimmer und sagen: 'Hey, ich habe mir gerade einen runtergeholt.' Das hat man zu meiner Zeit noch von niemandem gehört."

Was spricht eigentlich dagegen, als Mann seine nervenreiche Rückseite zu erforschen?

Wenn heterosexuelle Männer "schwule" Verhaltensweisen nicht mehr länger meiden, weil sie auch keine Angst mehr haben, als "schwul" abgestempelt zu werden, was spricht dann noch dagegen, seine nervenreiche Rückseite zu erforschen?

Auch feministische Bewegungen haben einen positiven Einfluss auf das Sexleben von Männern. Jüngere Männer "sehen es eher entspannt, Sachen zu machen, die traditionell immer Frauen vorbehalten waren – sei es im Beruf, in modischer Hinsicht oder eben bei Analspielen", sagt Schmit. Während bisher also ausschließlich der weibliche Part beim Sex penetriert wurde, kann diese Rolle auch von Männer übernommen werden und zwar ganz ohne Stigma. Genauso wie "schwule" Verhaltensweisen nicht mehr länger vermieden werden müssen, um nicht "schwul" zu wirken, müssen also auch "weibliche" Verhaltensweisen nicht mehr vermieden werden.

Und dann wären da noch Pornos – ein prägender sexueller Einfluss für jeden, der mit einem DSL-Anschluss aufgewachsen ist. Es hat allerdings so seine Tücken, von Pornos über Analsex aufgeklärt zu werden. Obwohl einige Seiten wie PornHub und xHamster mittlerweile auch lehrreichen Content anbieten, sieht man in den meisten Pegging-Videos nicht, dass der Hintern mit warmem Wasser, den Fingern oder Gleitgel vorbereitet wird.

Glickman rät Paaren, die Analspiele ausprobieren wollen, in Ruhe darüber zu reden – das heißt, nicht während des Sex. Vorbereitung ist alles. Und so gut gemacht und attraktiv einige der teuren Prostatamassagegeräte oder Umschnalldildos auch sein mögen, fangt (wortwörtlich) lieber klein an.

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