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Drogen

Die bizarre Geschichte von psychedelischen Drogen als Medizin

Eine Expertin erklärt, warum MDMA schon bald als Medikament zugelassen werden könnten. Und wie Ärzte versuchen, Erinnerungen zu löschen.
Links: eine Medizinflasche mit Lithiumcarbonat von 1895  | Foto: New York Historical Society | Getty Images || rechts: Pilze aus den Niederlanden | Foto: Roger Cremers | Bloomberg via Getty Images 

"Alle für die Pillen aufstellen!", schallte es während meiner zwei Jahrzehnte hinter Gittern zweimal täglich aus der Lautsprecheranlage des Gefängnisses. Ich saß wegen LSD-Handels. Zwar bin ich jetzt schon seit mehreren Jahren wieder in Freiheit, aber diese Pillenroutine hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt.

Als ich wieder zurück in die normale Welt kam, war ich überrascht: Ich hätte nie gedacht, dass so viele Menschen in den USA – laut einer Studie jeder Sechste – verschreibungspflichtige Medikamente gegen Depressionen, Angstzustände und andere psychische Krankheiten nehmen.

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Auch in Deutschland bekommen immer mehr Leute Psychopharmaka verschrieben. Psychedelische Drogen gelten als vielversprechende Behandlungsmethode, ein Schweizer Psychiater setzt LSD sogar schon jetzt offiziell gegen Angstzustände und Migräne ein.


Auch bei VICE: Die Wahrheit über Ecstasy: High Society


In ihrem bald erscheinenden Buch Blue Dreams: The Science and the Story of the Drugs That Changed Our Minds beschäftigt sich Lauren Slater mit der außergewöhnlichen Geschichte der Psychopharmakologie in den USA – von Antidepressiva über die Entdeckung des medizinischen Potenzials von Psychedelika bis hin zu Medikamenten, die Erinnerungen löschen. Im Gespräch erklärt sie uns außerdem, warum Drogen wie MDMA oder LSD schon bald legal sein könnten.

VICE: Du nimmst wegen Depressionen jetzt schon seit 35 Jahren Medikamente. Was hast du gelernt, das Laien vielleicht nicht wissen?
Lauren Slater: Keines der Medikamente ist eine langfristige Lösung. Als ich anfing, das Antidepressivum Fluoxetin zu nehmen, lag meine Dosis bei 10 Milligramm. Nach einiger Zeit folgte die Erhöhung auf 20 Milligramm, bis ich irgendwann schrittweise bei 120 angekommen war. Das ist das Sechsfache der Standarddosis. Mein Körper hatte sich eben an das Medikament gewöhnt. Deswegen musste ich auf ein anderes umsteigen. Selbst ein wirkungsvolles psychotropisches Medikament ist keine Garantie dafür, dass die Symptome der Krankheit komplett wegbleiben. Mit der Zeit lernt man, mit den manischen Schüben umzugehen.

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Heutzutage wird oft kritisiert, dass wir zu oft zum Arzt gehen oder zu schnell zu Medikamenten greifen. Dabei wurden Menschen mit psychischen Problemen früher richtig schlimm behandelt.
Da setzte man vor allem auf körperliche "Maßnahmen". Patienten wurden in abgeschottete Räume eingesperrt oder ohne Betäubung einer Elektroschock-Therapie unterzogen. Die Ärzte pumpten Menschen mit Insulin voll, sie sollten in ein Koma fallen und nach dem Aufwachen wieder zurechnungsfähiger sein. Wir haben Menschen an Betten gefesselt, in Eisbäder geschmissen und bei Lobotomien Teile ihrer Gehirne entfernt.

Zum Glück ist das alles vorbei, die heutigen Behandlungsmethoden sind viel humaner. Wir verstehen unser Gehirn und seine Macken immer besser. Trotzdem wird es noch lange dauern, bis wir die Ursachen von mentalen Krankheiten komplett erfasst haben und diese wirklich wirksam behandeln können.

"Ich denke, dass US-Behörden MDMA oder Ecstasy 2021 für die Behandlung von schlimmen Traumata zulassen."

Wie sind Depressionen vor allem in den USA zu einer Art Volkskrankheit geworden?
In den 60er und 70er Jahren sprach dort niemand von Depressionen, sondern nur von Angstzuständen und schwachen Nerven. Dagegen bekam man Valium oder Clonazepam. Dann kam Ende der 80er das Antidepressivum Fluoxetin unter dem Namen "Prozac" auf den Markt und landete als eine Art Wundermittel direkt auf den Titelseiten verschiedener Magazine. Man sagte, dass es nicht nur gegen Depressionen helfe, sondern den ganzen Charakter verändere: Reizbarkeit wird zu Freundlichkeit, Traurigkeit zu Fröhlichkeit, Schüchternheit zu Selbstvertrauen. Jeder wollte das Medikament nehmen. Um es zu bekommen, gaben auf einmal viele Menschen an, unter Depressionen zu leiden.

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Wird es psychedelische Drogen in Zukunft als Medizin geben?
Ich denke, dass US-Behörden MDMA oder Ecstasy im Jahr 2021 für die Behandlung von schlimmen Traumata zulassen. Bei Testläufen hat das schon sehr gut geklappt. Vielleicht gibt man irgendwann auch LSD und Psilocybin gegen Schmerzen oder Todesangst bei unheilbaren Krankheiten frei. Das ist aber Zukunftsmusik. Bei alltäglichen Wehwehchen werden Psychedelika eh nie zum Einsatz kommen. Auch nicht als Hilfe beim spirituellen Wachstum – obwohl sie das wirklich sind.

"Der Ruf von Psychedelika als Hippiedrogen verschwindet immer mehr."

Klingt nach einer Art Revival. Schon in den 50er und 60er Jahren war es quasi in Mode, psychische Leiden mit Psychedelika zu behandeln.
Viele Psychiater finden langsam heraus, dass Psychedelika den menschlichen Geist neu formen können. Und der Ruf solcher Mittel als Hippiedrogen oder Realitätsflucht verschwindet immer mehr. Studien zeigen, dass Psychedelika einen Menschen wirklich zum Positiven verändern können. Es geht ja nicht nur um Psilocybin und MDMA, sondern auch um Ayahuasca, LSD und viele andere psychedelische Drogen. Ich glaube, da steht uns sehr bald ein neues goldenes Zeitalter bevor.

Es soll sogar schon Medikamente geben, die Erinnerungen löschen – wie die Agenten im Film Men in Black.
Es gibt tatsächlich eine Arznei namens "ZIP", die zumindest schon bei Nagetieren Erinnerungen löscht. Bis man so etwas als Behandlungsmethode bei Menschen freigibt, dauert es aber wohl noch sehr lange. Die ethischen Fragen, die solche Medikamente aufwerfen, sind sehr kompliziert.

Vergewaltigungsopfern oder Soldaten, die im Krieg grausame Dinge erlebt haben, könnte es besser gehen, wenn man bei ihnen gewisse Erinnerungen löscht. Andererseits spielen diese Erinnerungen – so schlimm sie auch sein mögen – eine Rolle in ihren Leben und in ihrem Weltverständnis. Außerdem gibt es ja noch Mittel wie MDMA, die bei Traumata effektiv weiterhelfen, ohne direkt Erinnerungen zu löschen. Das halte ich für einen viel vernünftigeren Ansatz.

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