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Sex

Was eine geflüchtete Afghanin über Sex und Liebe denkt

"Wenn du ein Leben lang hörst, dass du als Frau nichts wert bist, denkst du das irgendwann wirklich" – Zahra, 20
Symbolfoto einer jungen Afghanin, die über Liebe und Sex spricht
Nicht unsere Gesprächspartnerin || Symbolfoto: imago | Photocase

Wie spricht man mit jemandem über Sex, der das Wort "Sex" nicht ausspricht? Wenn Zahra über die Liebe redet, erröten ihre Wangen und sie kichert wie ein Mädchen. Bei unserem ersten Treffen schaut sie mir kaum in die Augen, stattdessen blickt sie oft zu Boden. Auf meine Fragen antwortet sie anfangs nur mit einem Kopfnicken, oder einem knappen Nein. Weil Zahra Angst vor der afghanischen Community in Österreich hat, möchte sie lieber anonym bleiben. Über Sex spricht man nicht – schon gar nicht als junge Frau. Zahra aber traut sich für dieses Interview trotzdem, weil sie weiß, dass das Frauenbild, mit dem sie aufgewachsen ist, gefährlich ist.

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Zahra ist vor vier Jahren von Afghanistan nach Österreich geflüchtet und führt seither ein Leben, das in ihrer Heimat nicht möglich gewesen wäre. Zahra wächst in einem Umfeld auf, das Frauen verachtet: Wer Sex vor der Ehe hat, ist schmutzig; Frauen, die kein Kopftuch tragen, kommen in die Hölle; Kontakt zu Männern ist strengstens untersagt. Zahra hat den Sexismus verinnerlicht. Noch ist es ihr nicht gelungen, ihn vollständig abzulegen.


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VICE: Lieben Afghanen anders als Österreicher?
Zahra: Ich war schockiert, als ich das erste Mal ein Paar in der U-Bahn gesehen habe, das sich geküsst hat. Das wäre in Afghanistan undenkbar gewesen.

Ist das Liebesleben der Österreicher eine Herausforderung für dich?
Der Alltag ist für mich schon eine tägliche Herausforderung: Fremden Männern in die Augen sehen, mit ihnen sprechen oder ihnen die Hand schütteln. Dann ist da auch noch überall nackte Haut zu sehen. Das ist mir alles völlig neu. Ihr empfindet das als normal, aber ich muss das erst lernen.

Bist du auf Tinder?
Was ist Tinder?

Eine Datingapp.
Ich höre davon jetzt zum ersten Mal. Ich kenne "Badoo". Aber ich würde mich nie auf einer Datingapp anmelden.

Wieso nicht?
Ich glaube, bei diesen Apps geht es nur um Sex. Eine dieser Plattformen hat mit einem Melanzani-Emoji geworben. Das hat mich abgeschreckt.

Was schreckt dich noch ab?
Die Szenen im Kino! Eine meiner Betreuerinnen hatte den Besuch organisiert. In dem Film waren Sexszenen zu sehen. Ich habe mich so schuldig gefühlt. Ich hab die Augen fest zugekniffen und weder nach links noch nach rechts geschaut. Auch wie die im Film ständig "Fuck you" gesagt haben. Als der Film vorbei war, konnte ich keinem der Jungs, die dabei waren, in die Augen sehen.

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Als du nach Österreich gekommen bist, hast du erstmals in einer betreuten WG gelebt, und zwar mit Männern. Wie war das für dich?
Ich habe mir mit dem plötzlichen Kontakt zu fremden Männern schwergetan. In Afghanistan kannst du als Frau nicht alleine leben, das wäre viel zu gefährlich. Einer der Betreuer war sehr nett zu mir, ich hab ihn lange gemieden. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ein Mann einfach so, ohne Hintergedanken, freundlich zu mir ist. Ich hatte riesige Angst. Nachts habe ich immer das Zimmer zugesperrt.

Mit welchem Frauenbild bist du aufgewachsen?
Meine Mutter hat immer diesen Spruch gebracht: Die besten Mädchen sind die, die nur dann den Mund aufmachen, wenn sie essen. Männern nah zu kommen, mit denen ich nicht verwandt war, war streng verboten. Das ist auch der Grund, warum es mir lange so wichtig war, Jungfrau zu bleiben. Sind Frauen erstmal verheiratet, sind sie nur noch dazu da, Männer zu befriedigen. Wenn du ein Leben lang hörst, dass du als Frau nichts wert bist, denkst du das irgendwann wirklich.

Das klingt, als würden Frauen ihren Männern nur dienen – hast du das so erlebt?
Als Kind habe ich dutzende Male erlebt, wie Verwandte ihre Frauen schlagen. Das haben sie nicht heimlich gemacht, sondern vor anderen. Niemand hat was gesagt oder etwas dagegen getan. Mein Vater hat meine Mutter auch regelmäßig verprügelt. Das hat mein Verhältnis zu Männern sehr geprägt.

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Was hast du als junges Mädchen darüber gedacht?
Für mich war das sehr schlimm. Für meine Familie war es ganz normal, dass Mädchen mit 10 oder 11 Jahren verheiratet werden. Ich durfte anders als die Burschen in meinem Alter nicht alleine raus, hatte kein Recht auf eine eigene Meinung und musste die Anweisungen männlicher Verwandter stillschweigend akzeptieren. Mein Bruder wollte mir dieses Schicksal ersparen, deswegen sind wir in den Iran geflohen und haben dort etwa fünf Jahre gelebt.

Du bist mit elf Jahren in den Iran geflüchtet. Hat sich dein Leben als Frau im Iran denn verbessert?
Nein. Ich wurde diskriminiert und beschimpft, weil ich Afghanin bin. Einmal hat mir ein Mann am helllichten Tag "afghanische Schlampe" hinterhergerufen. Erst in Österreich habe ich begonnen, das afghanische Frauenbild zu hinterfragen. Ich habe sogar das Kopftuch abgelegt, allerdings erst nach eineinhalb Jahren.

Wieso hast du dich gegen das Kopftuch entschieden?
Ich wollte nicht die "Fremde" sein. Ich hab mich unter dem Kopftuch isoliert und einsam gefühlt. Ich hatte das Gefühl, das Kopftuch erschwert mir den Zugang zur österreichischen Gesellschaft. Ich hab mein Hijab irgendwann mehr als Belastung, denn als Zeichen meiner Religion gesehen. Seit ich es abgelegt habe, bewege ich mich freier.

Hast du mittlerweile auch mehr Kontakt zu Männern?
Eigentlich nur zu meinem Bruder. Die meisten Männer, die mich kontaktieren, kommen aus Afghanistan. Sie schreiben mir auf Instagram, dass sie mich hübsch finden oder sie sprechen mich an, wenn sie mitbekommen, dass ich Afghanin bin. Ich meide sie aber, die wollen dich ja direkt heiraten. Das kommt für mich nicht infrage. Um ehrlich zu sein, habe ich auch große Angst, vergewaltigt zu werden.

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Woher kommt deine Angst, vergewaltigt zu werden?
Ich wurde mit 13 von einem Mann im Iran in meiner Straße angegriffen. Er hat seinen Gürtel geöffnet und ist auf mich zugekommen. Ich habe ihn weggeschubst und bin losgelaufen, aber weil ich meinen Schlüssel nicht mit hatte, konnte ich unser Tor nicht öffnen. Ich hab geschrien, aber niemand war zuhause. Irgendwie habe ich das Tor dann aufbekommen – ich weiß nicht, was passiert wäre, hätte ich das nicht geschafft. Jede Afghanin, die ich kenne, war schon einmal in so einer, oder sogar in einer noch viel schlimmeren Situation.

Wünscht du dir nicht dennoch manchmal Nähe?
Ja, tue ich. Aber ich habe zu große Angst, dass Männer direkt mit mir schlafen wollen.

Warst du schon mal verliebt?
Ja. Aber es ist schwierig, mir diese Gefühle zu erlauben. Wenn ich einen gut aussehenden Mann auf der Straße sehe, nehme ich ihn schon wahr. Das Problem ist aber, dass ich mich sofort schuldig deswegen fühle. Mich überkommt ein schlechtes Gewissen, wenn ich auch nur an einen Mann denke. Das verfolgt mich. Obwohl ich in Österreich viel gelernt habe, bekomme ich das nicht ganz weg. Ich hab mir so oft gewünscht, irgendwo anders geboren worden zu sein. Ich fühle mich ständig schmutzig und schlecht. Das belastet mich.

Erzähl mir mehr von deiner ersten Liebe, hat sich das auch verboten angefühlt?
Das war im Iran, ich war 14 Jahre alt. Ich war zu dieser Zeit sehr gläubig und fest davon überzeugt, dass ich diesen Mann heiraten werde. Das war mein größter Wunsch. Wir haben Händchen gehalten und uns heimlich getroffen. Allerdings nur alle zwei Monate. Seine Familie hat dann meinen Bruder und meine Schwägerin besucht, damit wir uns verloben können. Aber sie konnten sich aber nicht auf die Mitgift einigen. Wir mussten uns trennen. Das hat mir das Herz gebrochen.

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Habt ihr euch geküsst?
Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, gaben wir uns einen kurzen Kuss. Danach habe ich nie wieder gesehen. Sechs Jahre ist das her. Heute kommt mir das so fremd vor.

Hast du in der Zwischenzeit schon mal mit jemandem geschlafen?
Nein. Ich bin in dem Wissen aufgewachsen, dass eine Frau schmutzig ist, wenn sie vor der Ehe mit jemandem schläft. Sex bereite keinen Spaß, Sex sei eine Verpflichtung dem Ehemann gegenüber.

Fragst du dich manchmal, wie sich ein Orgasmus anfühlt?
Ich habe erst in Österreich angefangen, darüber nachzudenken. Neulich habe ich mit Freundinnen darüber gesprochen und in der Schule war es auch mal kurz ein Thema. In Afghanistan war das natürlich ein völliges Tabu. Ich habe aber einmal gelauscht, als sich Frauen aus meiner Familie unterhalten haben. Eine Verwandte hat erzählt, dass sie immer nur völlig angezogen Sex mit ihrem Ehemann hat. Einmal hat sie sich dann ausgezogen, daraufhin ist er wütend geworden und hat sie gefragt, wie sie auf diese bescheuerte Idee kommt.

Kannst du dir nach vier Jahren in Österreich vorstellen, mit jemandem zu schlafen, ohne verheiratet zu sein?
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich denke nicht mehr, dass Sex eine Sünde ist, für die ich in die Hölle komme. Wenn ich jemanden kennenlerne, den ich wirklich sehr liebe, könnte ich mir vielleicht vorstellen, mit ihm zu schlafen. Das kommt mir jetzt aber noch sehr weit weg vor. Ich war hier noch nie verliebt. Ich habe bisher keinen Mann kennengelernt, der ähnliche Werte vertritt wie ich. Vielleicht bin ich auch zu feministisch?

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An dieser Stelle muss Zahra lachen. Aber es ist kein kindliches Lachen. Vielleicht hat sie recht?

Hast du schon einmal für jemanden in Österreich geschwärmt?
Ich hatte mal einen jungen Lehrer, der war total nett und schön. Er war meine Ansprechperson, wenn ich Probleme hatte. Plötzlich habe ich mir gewünscht, mehr Probleme zu haben. ( Auch hier muss Zahra lachen)

Als der Kurs vorbei war, habe ich ihm einen Schlüsselanhänger geschenkt. Aber als ich ihm eine Freundschaftsanfrage auf Facebook schicken wollte, habe ich gesehen, dass er eine Freundin hat. Damit hatte sich meine Schwärmerei erledigt.

Du hast erzählt, dass du im Iran sexualisierte Gewalt erlebt hast. Ist dir so etwas auch in Österreich passiert?
Ja. (zögert) Einer der afghanischen Jungs aus der WG, in der ich früher gelebt habe, hat sich in mich verliebt. Ich habe ihm von Anfang an gesagt, dass ich nur mit ihm befreundet sein möchte, aber er hat mein Nein nicht akzeptiert. Einmal hat er trotzdem versucht, mit mir zu schlafen. Er war in meinem Zimmer und hat mich gepackt, ich hab ihn darauf weggestoßen und bin aus dem Zimmer gestürmt. Ich habe nach einem Messer gegriffen und mich im Badezimmer eingesperrt.

Wie war deine Reaktion auf diesen Übergriff?
Ich wollte nicht ihn verletzen, sondern mich. Plötzlich ist mir alles zu viel geworden. Alles, was in Afghanistan und im Iran passiert ist, das neue Leben in Österreich – ich habe das einfach nicht mehr gepackt. Und ich habe mich unfassbar schmutzig gefühlt. Ich war mir sicher, dass ich schuld daran bin, dass er mich vergewaltigen wollte.

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Denkst du das noch immer?
Ehrlich gesagt schon. Ich habe gelernt, dass alles, was falsch läuft, meine Schuld ist. Ich hätte nie mit ihm reden sollen. Es ist mir unfassbar unangenehm und am meisten schäme ich mich vor mir selbst. Das ist auch der Grund, warum ich es bis jetzt niemandem erzählt habe. Ich wollte nicht, dass sich das herumspricht. Ich hatte zu große Angst, dass mich die Menschen dafür verurteilen werden. Ich weiß ja, wie viele aus unserem ‘Kulturkreis’ so etwas denken.

Hast du dich niemandem anvertraut?
Der Junge und ich haben monatelang in der gleichen WG gelebt und wir sind in die gleiche Schule gegangen. Ich habe mich nur einer Lehrerin anvertraut und sie gebeten, dass sie mich keine Gruppenarbeiten mit ihm machen lässt, weil ich ihm aus dem Weg gehe. Sie hat mich ohne weitere Details verstanden.

Und der Junge, hat er dich danach in Ruhe gelassen?
Er hat weiterhin Kontakt zu mir gesucht. An dem Abend, als es passiert ist, hat er sich 1000 Mal entschuldigt und sogar geweint. Später hat er behauptet, dass Männer eben so sind, wenn sie verliebt sind. Sie können sich dann nicht kontrollieren.

Österreichische Medien berichten regelmäßig über das gefährliche Frauenbild afghanischer Männer. Wie stehst du dazu?
Das Problem ist: Zuhause konnten sie tun, was sie wollten. Sie wussten, dass Frauen dort keine Rechte haben. Es ist schwer, aus diesem Denkmuster auszubrechen. Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Manchmal kann ich verstehen, wieso es ihnen schwer fällt, ihre Ansichten zu verändern. Gleichzeitig sind es aber genau diese Ansichten, die mir mein Leben erschwert haben und vor denen ich schlussendlich geflohen bin.

Was glaubst du, müsste sich passieren, damit sich ihr Frauenbild verändert?
Viele Afghanen haben keine Ahnung von einer gesunden Beziehungen zwischen Mann und Frau. Sie erleben einen Kulturschock, wenn sie in Österreich ankommen. Ich glaube, es müsste viel mehr Wert auf guten und langfristigen Sexualunterricht gelegt werden – in der Schule und in eigenen Kursen. Sie müssen dort lernen, dass Frauen die gleichen Rechte wie sie haben, dass ein Nein immer Nein bedeutet und dass weibliche Sexualität etwas völlig Normales ist.

Würdest du sagen, dass du mittlerweile ein gesünderes Verhältnis zu Liebe und Sex hast?
Ich arbeite stetig an meinen Ansichten, auch wenn es mir schwer fällt. Ich nehme mir ein Beispiel an meinen Freundinnen. Eine ist aus Griechenland, ich bewundere sie für ihre Direktheit und ihre selbstbewusste Einstellung. Wenn wir auf der Straße unterwegs sind und ein Mann schiebt einen dummen Kommentar, weist sie ihn sofort zurecht.

Was hilft dir, an deinem positiven Selbstbild zu arbeiten?
Es gab eine iranische Betreuerin, die mich ermuntert hat, selbstbewusster zu sein. Sie hat mir gesagt, dass ich Probleme alleine bewältigen kann, dass es dafür keinen Mann braucht. Sie ist in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen und konnte sich daher gut in mich hineinversetzen. Ich habe vor ein paar Monaten auch ein Video von einer Iranerin gesehen, die in Kanada lebt. Sie hat offen darüber gesprochen, wie schlimm sie Männer behandelt haben. Ich hab mich in ihren Worten wiedererkannt und ich bin mir sicher, sehr viele andere auch. Ich glaube, Vorbilder, die Tabus brechen und offen über Probleme sprechen, sind sehr wichtig.

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