Forrest Gump hat uns gelehrt, das Leben sei wie eine Schachtel Pralinen, weil man nie weiß, was man kriegt. Wenn man per Anhalter fährt, ist diese Weisheit allerdings weniger niedliche Philosophie und mehr ernste Warnung. Nicht umsonst hat man uns als Kind eingetrichtert, niemals bei Fremden ins Auto zu steigen. Du bist dem Fahrer mehr oder weniger hilflos ausgeliefert, zumindest bis das Auto stehenbleibt – und wenn das zufällig in einer komplett verlassenen Gegend passiert, na dann viel Glück.
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Und heutzutage gibt es ja auch Uber und Mitfahr-Plattformen. Wozu also das Risiko eingehen? In manchen Ländern sind die Entfernungen allerdings so groß und die Bevölkerung so spärlich, dass viele Menschen ohne eigenes Auto weiterhin den Daumen rausstrecken. Ein solches Land ist Kanada.Um zu verstehen, wer heutzutage eigentlich noch per Anhalter fährt – und warum so viele es sein lassen – haben wir uns in Kanada umgehört. Die seltsamsten und furchterregendsten Geschichten haben wir hier für euch gesammelt.
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Im Sommer 2004 war ich mit einem sehr abenteuerlustigen anarchistischen Aktivisten zusammen. Wir waren beide Anfang 20 und wollten in unseren Semesterferien die 2.000 Kilometer aus London in der Provinz Ontario nach Halifax an der Ostküste fahren.Wir hatten große Rucksäcke und wenig Geld dabei – aber das war Teil des Abenteuers. Wir haben uns nicht mal Motelzimmer genommen, sondern einfach am Straßenrand, in Parks oder hinter Schulgebäuden unsere Schlafsäcke ausgerollt.Dabei fühlte ich mich eigentlich nie unsicher, bis auf ein Mal. Es war ein verregneter Sonntagnachmittag. Wir wollten aus Quebec City weg, aber niemand nahm uns mit. Wir hatten stundenlang am Highway gestanden. Endlich hielt ein großer Truck. Der Fahrer war ein bärtiger junger Hippie-Typ mit langem blondem Haar, freundlich und gesprächig.
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Der Kiffer – Kamilla, 35
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Neben seiner Gangschaltung lag ein fetter Beutel Gras, und er griff immer wieder rein und drehte sich einhändig Joints, während die andere Hand am Steuer blieb. Außer dem Grasbeutel hatte er aber auch noch einen etwa fünfjährigen Jungen dabei, was mir Sorgen machte. Der saß hinten und zog immer wieder einen Vorhang auf und zu. Ich weiß nicht, wie viel THC im Passivrauch von Joints steckt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass der Kleine ein bisschen benebelt sein musste.Der Fahrer selbst schien so ein Super-Stoner zu sein, dass das Kettenkiffen ihm gar nichts anhaben konnte. Er hatte bestimmt schon drei dicke Tüten vernichtet. Ich beobachtete ihn, um abzuschätzen, ob er uns vielleicht in den Gegenverkehr und damit in den Tod steuern würde. Aber er war ein extrem guter Multitasker, unterhielt sich vernünftig mit uns, achtete auf die Straße und auch auf den Jungen.Für die 2.000 Kilometer nach Halifax haben wir letztendlich sechs Tage gebraucht. Wir wurden nur einmal nassgeregnet und einmal von einem Security-Typen von unserem Schlafplatz verscheucht – keine schlechte Bilanz für einen Roadtrip durch halb Kanada."Außer dem Grasbeutel hatte er noch einen fünfjährigen Jungen dabei"
Der Frauenmörder – David, 36
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Zu meinen Freundinnen sagte er, was es für eine Freude sei, sie kennenzulernen. Dann sagte er, ich solle unter meinen Sitz greifen, dort liege ein Geschenk für die Frauen. Inzwischen hatte er sein kleines Auto auf Maximalgeschwindigkeit hochgeschraubt. Ich zog eine Schachtel unterm Sitz hervor, und darin waren 30 oder 40 Steine, auf die er "BC girls rock" gepinselt hatte. Lauter Steine, die ein Loblied auf Mädchen aus British Columbia singen, fand ich schon sehr unheimlich, aber nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass der Mann gefährlich war.
Wir waren schon mitten in der Wildnis von British Columbia, als er anfing, etwas von einer Hütte im Wald zu erzählen, die er uns gern zeigen würde. Ständig suchte er nach einer guten Highway-Ausfahrt. Und irgendwann fuhr er dann auch wirklich auf eine kleinere Landstraße, angeblich damit wir "das echte British Columbia" mal sehen konnten. Das war auch ungefähr der Zeitpunkt, wo ich dachte, dass wir vielleicht sterben würden. Ich nahm mein Messer raus und hielt es unauffällig die ganze Zeit in der Hand. Ich schlief aber immer wieder ein, meine Freundinnen rüttelten mich jedes Mal wach. Wir hatten alle Todesangst.Wir kamen zu dem Ort Salmon Arm, und dort hielt er vor einem Postamt. Wir stiegen aus, griffen uns schnell unsere Sachen und rannten um unser Leben. Nicht weit entfernt stand ein Polizeiauto, also sagten wir dem Beamten, dass wir einen verdächtigen Vorfall melden wollten – es gebe da einen Mann, der für Anhalterinnen extrem gefährlich sein könnte. Ich hatte seinen Namen, sein Nummernschild, und bat den Polizisten, sich das alles zu notieren, aber er weigerte sich. "Per Anhalter fahren ist in British Columbia verboten", sagte er. Statt den potentiellen Frauenmörder aufzuschreiben, drohte er uns mit einer Anzeige. Es war schrecklich. Ich murmelte etwas darüber, dass es kein Wunder sei, dass so viele Frauen in British Columbia spurlos verschwänden, aber mehr konnte ich in dem Moment nicht tun."Wir hatten Todesangst"
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Der Mann mit dem Ketamin – Eugene, 27
Aber wir fuhren auch mit 100 km/h den Highway lang, also konnten wir schlecht einfach rausspringen. Er schien in Eile zu sein. Irgendwann fragte er: "Feiert ihr gern?" Wir waren alle Anfang 20 und sagten einfach: "Ja, klar." Dann fragte er: "Habt ihr was dagegen, wenn ich feiere?" Das musste er uns erstmal erklären, irgendwie ergab die Frage keinen Sinn. "Habt ihr was dagegen, wenn ich ein bisschen Ketamin nehme?" Ja, hatten wir, das sagten wir ihm auch."Irgendwann fragte er: 'Feiert ihr gern?'"
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Er sah peinlich berührt aus, und überrascht. Das Ganze schien ihn wirklich aus dem Konzept zu bringen. Ich fragte: "Bist du schon die ganze Zeit auf Ketamin, während du uns hier dabeihast?" Er antwortete nicht. Ich kommunizierte mit Blicken mit meinen Kumpels und behielt den Fahrer ansonsten durchgehend im Auge.Wir ließen uns von ihm weit von unserem eigentlichen Ziel absetzen. Wir hatten keine Angst vor ihm, aber wir wollten um jeden Preis vermeiden, dass er sich zu unserer Hüttenparty selbst einlud.Vor einigen Jahren machte ich einen langen Roadtrip mit meiner besten Freundin. Wir starteten in Halifax und nahmen einen Bus bis vor die Stadt, um von dort per Anhalter zu fahren. Unser erster Fahrer war ein Mann mittleren Alters, der wie einer vom Land wirkte.Er sagte, er mache sich ein wenig Sorgen um uns zwei Anhalterinnen, und gab uns seine Visitenkarte. Ich habe sie nicht mehr, aber ich weiß noch ziemlich sicher, dass er als Beruf "Schweinebräter" angegeben hatte, was ich sehr seltsam fand. Dann fing er an, uns von zwei Frauen zu erzählen, die er zehn Jahre zuvor mitgenommen hatte. Die beiden waren Backpackerinnen gewesen, genau wie wir. Er sagte, ein paar Monate später habe die Polizei ihn angerufen, weil die Frauen ermordet irgendwo in der Wildnis gefunden wurden – in der Tasche noch seine Visitenkarte.Er sagte, er habe der Polizei erzählt, dass er sie im Auto mitgenommen und ihnen die Karte für Notfälle gegeben hatte. Während er redete, klappte ich mein Handy auf und wählte schonmal die Notrufnummer – ich dachte, wenn es jetzt gefährlich würde, könnte ich einfach auf "Anruf" drücken und die Person am anderen Ende würde mithören. Man habe ihm niemals ein Verbrechen zur Last gelegt, sagte er. Ich denke auch nicht, dass er unbedingt der Mörder war – aber sicher bin ich mir da absolut nicht. Ich meine, wenn du willst, dass jemand sich bei dir wohlfühlt, erzählst du dann so eine Story? Das war das letzte Mal, dass ich per Anhalter gefahren bin.
Der Schweinebräter – Shaina, 33
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Das überraschende Coming-Out – Rob, 37
Er mied meinen Blick, starrte einfach nur aufs Lenkrad. Ich machte mir richtig Sorgen. "Hey, meinst du echt, du kannst noch gut fahren?" Vielleicht war er ja sogar so betrunken wie ich, und ich hatte es nur nicht bemerkt. Immerhin hatten wir uns an der Bar getroffen. Wir fuhren wieder weiter, bis er dann irgendwann ein drittes Mal anhielt. Er atmete tief durch und schaute mir in die Augen. "Ich wollte schon immer mal einem anderen Mann einen blasen." "Ach soooo, das ist hier los!", dachte ich."Das schmeichelt mir jetzt schon, aber … gerade nicht, danke. Danke, aber nein danke", sagte ich. Da war es ihm dann offensichtlich unfassbar peinlich. Ich sagte, dass ich den Rest des Weges auch laufen könne, und stieg aus. Ich war nicht mal ansatzweise in der Nähe meiner Adresse, und damals gab es noch keine Handys. Rückblickend habe ich ein etwas schlechtes Gewissen. Der Kerl hatte vermutlich bei mir sein Coming-out. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist, aber ich hoffe, er ist inzwischen glücklich mit sich selbst und seiner Orientierung.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat."Vielleicht war er so betrunken wie ich, und ich hatte es nur nicht bemerkt"