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Schwarz-blaue Geschichten

Michael Köhlmeier hat Schwarz-Blau nicht mit dem Holocaust verglichen – wer das falsch versteht, tut es absichtlich

Zum ersten Mal scheint ein Vorwurf gegen Schwarz-Blau bis zu Sebastian Kurz durchgedrungen zu sein. Seine Antwort zeugt aber von wenig Verständnis.
Imago | Horst Galuschka

Michael Köhlmeier, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller, hat eine Rede gehalten. Soviel dürfte inzwischen im ganzen Land bekannt sein. Es ist eine Rede über den Nationalsozialismus und die Verantwortung der österreichischen Bevölkerung dafür. Er wolle keine "zu Phrasen geronnenen Betroffenheiten von ’Nie wieder‘ und bis ’Nie vergessen‘ aneinander reihen", so der Schriftsteller. Und doch hat seine Rede genau die Idee eines "Nie wieder" bedient wie keine andere seit Beginn der schwarz-blauen Koalition. Auch ganz ohne Phrasen.

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Bundeskanzler Sebastian Kurz, der bisher vor allem durch sein Schweigen zu den beinah wöchentlichen antisemitischen Ausfällen seines Koalitionspartners auffällig geworden war, scheint durch Köhlmeiers Angriff erstmals aus seiner apathischen Haltung gelockt worden zu sein. Von Einsicht fehlt aber jede Spur. Im Gegenteil. Anstatt die von Köhlmeier sehr deutlich und gleichzeitig sehr distinguiert geübte Kritik anzunehmen, ging der Bundeskanzler ausgerechnet am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, zum Angriff gegen den Schriftsteller über.

Wie schon diverse FPÖ-Politikervor ihm, warf Kurz Köhlmeier vor, mit seiner Rede einen Vergleich zwischen der aktuellen österreichischen Regierung und dem Nationalsozialismus zu ziehen. Köhlmeier würde damit den Holocaust relativieren. Das ist nicht nur erschreckend, sondern faktisch völliger Nonsens. Verteidigen wir also die Wahrheit. Verteidigen wir Köhlmeier.


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Michael Köhlmeier hatte in seiner Rede anlässlich einer NS-Gedenkveranstaltung im Parlament am Freitag vergangener Woche gesagt: "Es hat auch damals schon Menschen gegeben, die sich damit brüsteten, Fluchtrouten geschlossen zu haben." Die Aussage war an Sebastian Kurz gerichtet. Das ist unbestritten. Fragwürdig war aber die Reaktion des Kanzlers am 8. Mai, als dieser gegenüber der Tiroler Tageszeitung sagte: "Die Aussage, dass es auch damals Menschen gegeben hat, die Fluchtrouten geschlossen haben, zielt eindeutig auf Nazis und Nazi-Kollaborateure ab." Das ist falsch und wurde von Köhlmeier so nie behauptet.

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Köhlmeiers Aussage war anders gemeint, als es uns der Kanzler jetzt weismachen will. Was uns Sebastian Kurz verschweigt, ist dass etwa auf der internationalen Flüchtlingskonvention von Evian 1938 zwar zahlreiche Staaten die Notwendigkeit zur Flucht für die vom NS-Regime Verfolgten betonten, aber keiner der Staaten bedingungslos bereit war, eben jene Verfolgten auch aufzunehmen.

"Es gibt zahlreiche Parallelen in den Argumentationen, mit denen die potenziellen Aufnahmeländer ihre Abschottungspolitik damals begründet haben und heute begründen. Es wird vor den Folgen für den Arbeitsmarkt gewarnt, es ist von ’Überfremdung‘ die Rede und davon, dass ’das Boot voll‘ sei, also ein weiterer Zustrom von ’Fremden‘ politisch nicht zu verkraften sei", sagte etwa Gabriele Anderl, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung und Mitglied der österreichischen Historikerkommission, im Rahmen eines Symposions zum Thema Flucht an der Uni Wien im Novermber 2014 in Wien.

Fakt ist auch, dass zwischen März 1938 und Jänner 1939 etwa 65.000 als Juden Verfolgte aus dem österreichischen Teil des Deutschen Reiches flüchteten. Etwa ein Drittel davon war in den Aufnahmeländern als "illegale Flüchtlinge" registriert.


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Natürlich gibt es wesentliche Unterschiede zwischen der Flucht vor dem Terror der Nazis damals und Flucht nach Europa heute. Aber gerade, wenn man diese differenzierenden Fragen stellt, ergeben sich auch viele Parallelen. Potentielle Aufnahmeländer schotten sich heute genauso gegen schutzsuchende Menschen ab wie damals. Denn auch die in Nazideutschland mit Mord bedrohten Menschen konnten keineswegs bedingungslos auf die Aufnahme im Ausland hoffen.

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Bereits ab der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland 1933 waren Fluchtbewegungen von Deutschland ins Ausland, vor allem aber nach Westeuropa, zu beobachten.

Mit dem Anschluss von Österreich und dem Novemberpogrom kam es ab 1938 dann zu einer Massenflucht aus Nazideutschland. Zwischen 1938 und 1939 verließen knapp 500.000 Juden und Jüdinnen das Land, wobei die meisten davon in den USA, Argentinien, Großbritannien und Palästina Zuflucht fanden. Etwa 100.000 Juden und Jüdinnen suchten innerhalb von Europa Schutz. Die meisten davon in den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Viele von den damals Geflüchteten waren auf Fluchthelfer angewiesen.

In Deutschland selbst galt Fluchthilfe ab 1941 als schweres Delikt, das oftmals mit KZ-Haft bestraft wurde. Mit der zunehmenden Ausbreitung des Nationalsozialismus in Europa, verschoben sich die Fluchtrouten zunehmend auf andere Kontinente. Die wichtigsten Aufnahmeländer wurden die USA, Palästina und Länder in Südamerika. Gleichzeitig kam es innerhalb Europas, aber auch im außereuropäischen Ausland zu verschärften Repressalien gegen Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich und ihren Helfern.


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"Während der Phase der systematischen Vertreibung, also bis zum Verbot der jüdischen Auswanderung im Oktober 1941, kam es vor allem in den Zufluchtsländern zur Verurteilung von Fluchthelfern", erklärt Gabriele Anderl. "Aus vielen Ländern wurden illegal Eingereiste abgeschoben, auch zurück nach Deutschland, etwa aus Belgien und der Schweiz. Häufig wurden illegal Eingereiste auch in Lagern interniert, etwa von den Briten in Palästina", so die Historikerin.

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Die politische Rhetorik, die Argumentationen und das Verhalten potentieller Aufnahmeländer für Flüchtlinge glich damals der heutigen Situation in Europa, schreibt auch Irene Messinger, Expertin für Migrations- und Exilforschung an der Universität Wien. So seien für Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich etwa Großbritannien und die USA begehrte Ziele gewesen. Die beiden Staaten hätten jedoch nur eine begrenzte Anzahl an Flüchtenden aufgenommen, die noch dazu nach bestimmten Kriterien, etwa der wirtschaftlichen Nützlichkeit für das Aufnahmeland, ausgewählt wurden. Wer nicht ausgewählt wurde, dem blieb nur die illegale Einreise und Flucht über teils penibel kontrollierten und oftmals geschlossenen Fluchtrouten.

"Während die Nationalsozialisten auf systematische Vertreibung setzten und diese mit der vollständigen Beraubung der Verfolgten verknüpften, fehlten die entsprechenden Aufnahmemöglichkeiten in andere Ländern. Es wurden Flüchtlinge aufgenommen, aber vielfach nur widerstrebend und in viel zu geringer Zahl", erklärt Gabriele Anderl.


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Ein Beispiel für die Schließung innereuropäischer Fluchtrouten während des Nationalsozialismus ist die Schweiz. Die Flüchtlingspolitik des neutralen Staates war damals von Abschreckungspolitik geprägt. Das übergeordnete Ziel war, die Schweiz und ihren Arbeitsmarkt vor "Überfremdung" zu schützen. Zwar nahm die Schweiz über 200.00 Flüchtlinge auf.

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Gleichzeitig kam es aber auch zu über 20.000 Zurückweisungen direkt an der Grenze. Juden und Jüdinnen galten in der Schweiz nicht als politisch Verfolgte, sondern anfangs als "Wirtschaftsflüchtlinge" und später als "rassische Flüchtlinge". In beiden Fällen wurde ihnen politisches Asyl verwehrt.

Am 13. August 1942 schloss die Schweiz zudem die Grenze für "rassische Flüchtlinge" aus dem Deutschen Reich gänzlich. Betroffen waren vor allem Juden, für die die Schließung der Fluchtroute in die Schweiz 1942 einem Todesurteil gleichkam. Ab 1996 arbeitete die Schweiz ihre eigene Rolle in der Flüchtlingspolitik während des Nationalsozialismus umfangreich auf und legte dazu 2002 einen eigenen Bericht vor.

Doch nicht nur die Schweiz schloss 1942 ihre Grenze für Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischem Terrorregime im Deutschen Reich. Bereits 1938 hatten fast alle Staaten der Welt ihre Grenzen für flüchtende Jüdinnen und Juden geschlossen. Einer der letzten Auswege für die deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden war damals Shanghai. Bis 1941 flüchteten etwa 18.000 Jüdinnen und Juden aus Europa nach Shanghai. Danach war diese Flüchtlingsroute wegen des Kriegseintritts Japans ebenfalls geschlossen.

Es war also nicht nur die vernichtende Politik der Nazis, die Menschen die Flucht unmöglich machte. Es war auch die unsolidarische Haltung der restlichen Welt.

Mechthild Leutner, Direktorin des Konfuzius Instituts an der Freien Universität Berlin erklärt dazu gegenüber dem Deutschland Funk: "Das war die letzte Möglichkeit durch ein Transitvisum oder durch gar kein Visum, einfach durch Vorzeigen einer Schiffspassage, die Ausreise bewilligt zu bekommen."

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Es war also nicht nur die repressive und vernichtende Politik der Nazis selbst, die Verfolgten des NS-Regimes die Flucht in demokratische, neutrale und alliierte Staaten unmöglich machte, wie Bundeskanzler Sebastian Kurz es derzeit darzustellen versucht. Es war vielmehr die teils unsolidarische Haltung und repressive Flüchtlingspolitik der restlichen Welt, die tausenden Menschen die Flucht vor Diskriminierung, Verfolgung, Folter, Mord und Vernichtung unmöglich machte. Ein Umstand, auf den Köhlmeier unter anderem aufmerksam macht.

"In der Vergangenheit schuf eine verfehlte Politik im Umgang mit Massenmigration die Voraussetzungen für eine unsägliche Katastrophe. Dies muss die Welt realisieren. Vom Holocaust kann die Welt lernen, was passiert, wenn für diese Probleme nicht auf internationaler Ebene Lösungen gesucht werden", warnte auch die Ehrenvorsitzende der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), Yehuda Bauer, im September 2015.

Und sie konkretisierte: "Die aktuelle Flüchtlingssituation unterscheidet sich deutlich von der Verfolgung der Juden und anderer Opfern vor, während und nach dem Holocaust; dennoch gibt es Parallelen zwischen der Behandlung von Flüchtlingen damals und heute - vor allem in Bezug auf die beschämende Schließung der Grenzen, den Anstieg der Fremdenfeindlichkeit und die Verwendung von menschenverachtender Sprache.

Eine solche Differenzierung wäre eines Kanzlers würdig. Ein Angriff auf einen Schriftsteller, der die problematische Haltung der aktuellen Regierung gegenüber der eigenen historischen Verantwortung Österreichs thematisiert, ist es hingegen nicht.

Paul auf Twitter: @gewitterland

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