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Popkultur

Auf Netflix: Diese irre Sendung versucht, normale Menschen zu Mördern zu machen

'Pushed to the Edge' lockt ahnungslose Personen in ein Sozialexperiment mit Dutzenden Schauspielern und versteckten Kameras. Am Ende fragt man sich: Könnte ich auch einfach so töten?
Screenshot: YouTube

"Das ist der einzige Ausweg", sagen sie. "Du musst es tun!" Chris Kingston soll töten, er soll einen Mann vom Dach eines Veranstaltungsgebäudes stoßen. Davon versuchen ihn gerade vier Menschen zu überzeugen. Sie stehen im Halbkreis vor ihm und drohen, dass er sonst im Gefängnis landen werde. Chris beißt sich auf die Lippen, er schüttelt den Kopf, hält immer wieder die Hände vor sein Gesicht. Ein Mann aus der Runde lehnt seinen Oberkörper drohend in Richtung des 29-Jährigen und sagt: "Entweder tust du es oder du gehst."

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Was Chris nicht weiß: 50 Kameras filmen ihn schon den ganzen Abend. Er ist Teil der unglaublich perfiden Fernsehsendung Pushed to the Edge. Denn sie will Menschen zu Mördern machen.

Das britische Fernsehen hat die Show bereits 2016 ausgestrahlt, am 27. Februar erscheint sie auch in Deutschland auf Netflix. Dahinter steckt der britische Zauberkünstler Derren Brown. Schon in der Vergangenheit hat er mit allerlei Stunts für Aufsehen gesorgt: Er hat Russisches Roulette gespielt, Menschen dazu gebracht, einen Geldtransporter auszurauben und Kunst zu stehlen. Einen ahnungslosen Mann hat er hypnotisiert und ihn glauben lassen, die Welt sei nach einem Meteoriteneinschlag untergegangen. 200 Schauspieler waren notwendig dafür, darunter Freunde und Familie des Mannes, die sich als Zombies verkleidet haben. Brown hatte sogar einmal geplant, aus einem heterosexuellen einen homosexuellen Mann zu machen.


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Kritiker werfen ihm vor, Gewalt zu verherrlichen und Menschen zu Straftaten anzustiften. "Es ging immer darum, Dinge zu tun, die sich dramatisch anfühlen", hat Brown darauf dem britischen Telegraph gesagt.

Und so versucht er sich in seiner neuesten Produktion Pushed to Edge am nächsten großen Sozialexperiment: ganz normale Menschen dazu bringen, eine andere Person zu töten. Dafür hat er ein kompliziertes Szenario erstellt, das von falschen vegetarischen Würstchen letztendlich zu dem Moment führt, an dem Chris einen alten Mann vom Dach stoßen soll.

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Derren Brown hat Chris mit einem Test ausgewählt, er hatte per Aufruf nach Freiwilligen für eine Show gefragt. Dann hat er aus allen Bewerbern die Mitläufer herausgesucht, diejenigen, die sich am ehesten sozialem Druck beugen. Seine Methode: In einem Raum sitzen drei Schauspieler, die einen Fragebogen ausfüllen. Nach und nach werden die Bewerber auf die Stühle neben ihnen geführt. Eine Klingel ertönt und die Schauspieler stehen auf. Sie ertönt erneut und die Schauspieler setzen sich. Die Bewerber, die es ihnen einfach nachmachen, kommen weiter. Denn wer diesen Ablauf nicht hinterfragt, so die Logik, zögert am Ende auch nicht, jemanden umzubringen.

"Chris ist jetzt in ein Netz von Lügen verstrickt."

Brown wählt vier Personen aus, darunter Chris. Damit sie keinen Verdacht schöpfen, erzählt er ihnen aber, dass sie nicht genommen wurden.

Einige Zeit später bekommt Chris, der Inhaber einer Designfirma ist, eine Einladung zur Spendengala einer Jugendorganisation, die mit ihm zusammenarbeiten will. Vor Beginn des Events trifft er auf den Millionär Bernie. Der ist ein wichtiger Unterstützer der Organisation und stirbt kurz später plötzlich. Einer der Veranstalter drängt Chris dazu, ihm zu helfen, die Leiche zu verstecken, damit der Abend wie geplant stattfinden kann.

Derren Brown, der alles von einem Nebenraum aus beobachtet, sagt zu den Zuschauern: "Chris ist jetzt in ein Netz von Lügen verstrickt."

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Nachdem sich Chris schließlich auch noch für den Millionär ausgegeben und eine Rede vor Gästen gehalten hat, stellt sich heraus, dass Bernie gar nicht tot ist, sondern an einer Schlafkrankheit leidet. Es kommt zum Finale auf dem Dach. Bernie ist wütend, beschimpft Chris und fuchtelt dabei mit einem Diktiergerät herum. Das habe er in seiner Tasche gehabt und alles aufgenommen. "Ich gebe euch keinen einzigen Penny", sagt er.

Um sich zu beruhigen, setzt sich der Millionär auf eine Stahlkonstruktion, die über das Dach des Gebäudes ragt, und raucht eine Zigarette. Da kommt einem der Mitarbeiter der Jugendorganisation die Idee: "Ein Unfall." Schließlich sei alles noch in Ordnung gewesen, als Bernie vermeintlich tot war.

"Niemals", sagt Chris. Seine Hände wandern vom Gesicht an die Hüfte, dann presst er sie aneinander, als würde er beten. Hektisch wandert sein Blick durch die Nacht, während die Gruppe weiter auf ihn einredet. "Geh einfach rüber zu ihm, leg deine Hand auf seinen Rücken und gib ihm einen festen Stoß", sagt einer. "Auf keinen Fall", antwortet Chris. "Auf keinen Fall." Er schüttelt den Kopf. Lieber gehe er ins Gefängnis.

Auch die drei anderen Kandidaten, die Derren Brown ausgewählt hatte, haben das Szenario durchlaufen. Eine Zusammenfassung zeigt, wie ähnlich sie sich verhalten haben. Mit einem Unterschied: Auf dem Dach haben der Mann und die beiden Frauen gezögert, haben weggeschaut und geweint – dann aber Bernie vom Dach gestoßen. Dabei kam niemand wirklich zu Schaden, Brown und sein Team hatten eine lebensechte Puppe und Sicherungsseile benutzt.

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Sind wir alle Mörder?

Pushed to the Edge wirkt wie die düstere Version der Truman Show. Die Handlung ähnelt auch dem Film The Game mit Michael Douglas, in dem sich der Hauptdarsteller in einem Spiel wiederfindet, das nach und nach sein Leben zerstört und ihn am Ende seinen Bruder erschießen lässt.

Auch für Derren Browns neue Show gab es Kritik. Der Guardian schrieb, dass er versuche, sich selbst mit immer absurderen Ideen zu übertreffen. Die Szene auf dem Dach sei eine Farce und "unangemessen".

Die Sendung mag zwar stellenweise komplett wahnsinnig sein, aber nicht ganz abwegig. Brown macht Chris mit kleinen Schritten gefügig. So hat ihm absichtlich niemand mitgeteilt, im Anzug bei der Spendenveranstaltung zu erscheinen. Dass er als einziger nur ein Hemd trägt, soll dazu führen, sich unwichtig zu fühlen. Weil er dem Organisator anfangs hilft, bei der Vorbereitung der Snacks zu betrügen, packt er später auch bei bedenklicheren Dingen an. Und so wird jemand, der Fähnchen mit der Aufschrift "vegetarisch" in fleischhaltige Würstchen steckt, zu einem, der eine Leiche verschwinden lässt.

Natürlich passiert es nicht alle Tage, dass jemand vor einem stirbt, man keine Hilfe rufen darf, dann auch noch die Leiche verstecken muss, diese Leiche dann, weil sie doch keine Leiche ist, verdammt wütend ist und rein zufällig alles aufgezeichnet hat. Doch weil sich die Schlinge um Chris so langsam zuzieht, weil das Leben eben manchmal unvorhersehbar ist, fragt sich der Zuschauer am Ende: Was würde ich tun? Könnte ich töten?

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