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Warum ich drei Jahre lang keinen Zucker gegessen habe – und jetzt wieder damit anfange

Meinem Körper geht es besser, dennoch muss ich die Notbremse ziehen.

Vor fast genau einem Jahr habe ich während meines Jobs bei der Tageszeitung Kurier das erste Mal darüber geschrieben, dass ich seit 18 Monaten keinen künstlichen oder raffinierten Zucker esse. Ja, ich weiß, ganz arg. Wie kann man nur so leben? Geht’s mir eigentlich gut? Brauch ich Hilfe?

So oder so ähnlich haben meisten Menschen, auf meine Ernährung reagiert. Ich habe meistens mit einem breiten Grinsen geantwortet: “Keine Sorge, bei mir ist alles OK.” Aber in Wahrheit war nicht alles OK. Und deswegen fange ich nach drei Jahren auch langsam damit an, wieder Zucker zu mir zu nehmen.

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Viele vermuten jetzt vielleicht, dass ich zu Süßigkeiten und Junkfood zurückkehre, um mir nach dieser überdurchschnittlich langen Fastenzeit endlich mal wieder eine Tafel Schokolade in den Mund zu schieben. Aber das ist gar nicht der Fall. Auch wenn es für viele unvorstellbar ist: Mir fehlen Süßigkeiten überhaupt nicht. Ich habe ich jetzt fast drei Jahre darauf verzichtet. Das hätte ich wohl kaum durchgehalten, wenn ich meine innere Naschkatze nicht im Zaum halten könnte.


Aus dem VICE-Netzwerk:


Der Grund, warum ich erneut meine Ernährung umstelle, hat nichts mit physischem Verlangen zu tun – sondern mit psychischem. Denn während der Zuckerverzicht meinem Körper gut getan hat, hat sich meine Körperwahrnehmung in der Zeit so sehr verschlechtert, dass ich jetzt die Notbremse ziehen muss.

Ich war schon immer unzufrieden mit meinem Körper und meinem Gewicht. Im Gymnasium habe ich zum ersten Mal bemerkt, dass ich dick bin. Es war eine sehr unterbewusste Erkenntnis, zuerst nicht unbedingt negativ, aber sie war da. Fast alle meine neuen Freundinnen waren dünn und groß, ich eher klein und mollig.

In den Kinderserien und Filmen waren die beliebten Mädchen und Frauen schlank, die Dickeren wurden gemobbt oder nur dann akzeptiert, wenn sie lustig und selbstironisch waren (eine Eigenschaft, die ich mir deshalb auch angeeignet habe). Es war eine ganz einfache Formel, die sich schon in jungem Alter in mein Gehirn eingebrannt hat: Dünn ist schön und dick ist es nicht.

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Alle Fotos im Artikel wurden von der Autorin zur Verfügung gestellt

Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich ein sehr liebevolles Umfeld hatte, dass mich nie für mein Aussehen, meinen dicken Bauch oder meine Schenkel verurteilt hätte. Viele Kinder und Jugendliche haben dieses Privileg nicht.

Leider bedeutet das aber nicht, dass ich mich deshalb in meiner Haut wohlgefühlt habe. Je älter ich wurde, desto unsicherer wurde ich. Im Alter von 15 Jahren habe ich angefangen, sehr weite Stoffhosen und T-Shirts aus der Männerabteilung zu tragen, ich hoffte, dass sie mich kleiner und dünner aussehen ließen.

Erzählt habe ich das niemanden, nicht meinen Eltern und auch nicht meinen Freunden, ich wusste, dass ihre Antwort “Du bist doch überhaupt nicht dick!” gewesen wäre. Und obwohl das stimmte, war ich immer noch dicker als alle anderen. Und in meinem Kopf war das etwas, für das ich mich schämen sollte.

Je älter ich wurde, desto mehr habe ich mich unter Druck gesetzt gefühlt. Von wem oder was genau, weiß ich bis heute nicht. Nur, dass ich mich im Spiegel angeschaut habe und jedes Mal dachte: Du bist nicht schön. Dein Körper ist nicht schön. Du bist fett.

Alle meine Freundinnen hatten plötzlich Freunde und Verehrer, nur mich schien niemand attraktiv zu finden. Ich habe mir die ganze Zeit eingeredet, dass ich das ganze Drama sowieso nicht brauche und mir das alles egal ist. Bis zu einem gewissen Grad hat das auch gestimmt, aber mein Unterbewusstsein hat trotzdem wieder alles auf mein Gewicht geschoben.

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Da war ich also nun, mit meinen 17 Jahren, 1,70 Metern und 72 Kilogramm, weit entfernt von ungesundem Übergewicht und einem Selbsthass, der nichtsdestotrotz immer größer wurde. Zufälligerweise hat uns einer meiner Lehrer während der Schulstunde nebenbei erzählt, dass er aufgehört hat, Fruchtsirup zu trinken und durch den Zuckerverzicht plötzlich mehrere Kilo abgenommen hat – ganz ohne Sport oder Diät. Ich wurde natürlich sofort hellhörig. Wenn es eines gab, was ich wollte, dann war es abzunehmen. Es war die perfekte Lösung für mich: Kein Sport, keine verrückte Ein-halbes-Ei-und-eine-Tasse-Kaffee-am-Tag-Diät sondern einfach keine Schokolade und Chips mehr. Ich hatte diese Snacks zwar sehr gerne, aber auch noch nie ein Problem damit gehabt, gewisse Lebensmittel aus meinem Ernährungsplan zu streichen. Vor ein paar Jahren hatte ich genau das gleiche mit Fleisch und Fisch auch getan, als ich Vegetarierin wurde.

Ich habe mir selbst wieder und wieder eingeredet, dass ich für meine eigene körperliche Gesundheit auf den Zucker verzichtet habe, obwohl ich ganz genau wusste, dass es eine Lüge war.

Von einem Tag auf den anderen habe ich also alle Produkte von meinem Essensplan gestrichen, die künstlichen oder raffinierten Zucker enthalten. Als Ersatz habe ich Obst, Agaven- und Ahornsirup oder Kokosblütenzucker verwendet. Jeden einzelnen Tag bin ich auf die Waage gestiegen und habe eine Liste gemacht, in der ich eintrug, wie viel Gewicht ich verloren hatte. Das war im April 2015. Wenn ich so zurückdenke, wünsche ich mir, dass es nicht funktioniert hätte. Denn während meine Kilo nur so weg schmolzen, ist meine psychische Gesundheit auf der Strecke geblieben. Das war mir damals noch egal. Ich stand jeden Tag mit einem breiten Grinsen auf der Waage und beobachtete, wie die Zahl immer kleiner wurde.

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Innerhalb von vier bis fünf Monaten habe ich so 13 Kilo verloren. Ich war glücklicher wie noch nie zuvor. Alle meine Freunde und meine ganze Familie waren genauso begeistert. Mein Gesicht war plötzlich schlank, meine Arme waren dünn. Ich musste neue Kleidung kaufen, weil mir alles zu groß war. Es war eine komplett neue Welt für mich. Ich habe mir selbst wieder und wieder eingeredet, dass ich für meine eigene körperliche Gesundheit auf den Zucker verzichtet habe, obwohl ich ganz genau wusste, dass es eine Lüge war. Aber es war eine angenehme Ausrede, die ich sowohl mir selbst als auch anderen auftischen konnte, ohne dass sich irgendjemand Sorgen machen musste.

Natürlich war ich immer noch nicht zufrieden. Ich fand immer noch, dass mein Bauch und meine Beine zu dick waren, mein Hintern einfach zu groß und mein Rücken nicht schlank genug. Wenn ich meinen Freundinnen die Bilder von damals zeige, staunen sie und meinen "Du warst ja eh schon sehr schlank!" Ich habe das aber nie so gesehen. Das fiese an einer Körperwahrnehmungsstörung ist nämlich, dass man nie zufrieden ist. Aber auch das habe ich unterdrückt und mir eingeredet, dass ich einfach öfter auf das Frühstück verzichten und mehr Smoothies und flüssige Nahrung zu mir nehmen sollte. Dann würde auch mein Bauch zur Gänze flach werden und meine Schenkel endlich dünner.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits meinen Artikel im Kurier geschrieben und wurde deshalb sogar von ORF2 in die Talkshow von Barbara Stöckl eingeladen, weil sie meine Zuckergeschichte gelesen hatten. Für mich war das eine große Ehre. Als ich dem Publikum über meinen Zuckerverzicht berichtete, sind sie in tosenden Applaus ausgebrochen. Das heißt genau genommen: Das Publikum ist in tosenden Applaus ausgebrochen, als ich erwähnte, dass ich in weniger als einem halben Jahr mehr als 10 Kilo verloren hatte.

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Screenshot ORF TVthek

Ich habe auch darüber geredet, dass meine Haut reiner geworden ist, ich besser schlafen und mich auch in der Schule viel besser konzentrieren konnte – aber da blieben die Leute im Studio still. Mir fiel das erst auf, als mich einige Zeit später eine Freundin darauf angesprochen und mich gefragt hat, ob ich mich deswegen nicht traurig gefühlt hätte. Meine Antwort war ein klares Nein. Ähnlich wie die Leute im Publikum war auch ich der festen Überzeugung, dass nur mein Gewichtsverlust zählte – der Rest war Nebensache und anscheinend keinen Applaus wert.

Für die Sendung bewusst gesund produzierte der ORF sogar noch einen weiteren Beitrag über meinen Zuckerverzicht, was die Idee, dass ich in meinem früheren Aggregatzustand – also Zucker essend und mit 72 Kilo auf der Waage – nicht begehrenswert oder interessant war, noch tiefer in meinem Unterbewusstsein verankerte. Mit 59 Kilo und ohne Süßigkeiten war ich plötzlich mutig. Ein Idol. Eine journalistische TV-Geschichte. Vorher war ich nur irgendein dickes, unsicheres Schulmädchen. So habe ich das zumindest wahrgenommen.

Nach zwei Jahren ohne Zucker passierte das Unausweichliche: Mein Gewicht pendelte sich schließlich ein. Unnötig zu sagen, dass mir das gar nicht gepasst hat. Ich war nach wie vor zu faul für Sport, weil der Fortschritt einfach viel zu langsam sichtbar wurde. Ich wollte dünn sein und zwar jetzt und sofort. Ich weiß nicht, wie es weitergegangen wäre, hätte ich schließlich nicht wieder zugenommen. Ich möchte auch gar nicht spekulieren, da ich weiß, dass ich offensichtlich psychisch nicht sehr stabil war. Ich bin unendlich dankbar, dass ich keine ernsthafte Essstörung entwickelt habe.

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Ich war das Mädchen, das es geschafft hatte, abzunehmen und dann doch wieder "fett" geworden ist.

Wie kam es also dazu, dass ich plötzlich wieder zugenommen habe? Das war natürlich keinenfalls beabsichtigt. Mit 19 habe ich beschlossen, ein Auslandssemester in Amsterdam zu machen und man kann wohl sagen, dass mir das auf eine verquere Art und Weise den Arsch gerettet hat. Aufgrund des emotionalen Stresses und der vielen Veränderungen habe ich einen sehr anderen Tages- und Essensrhythmus entwickelt. Viele Austauschstudierende verstehen das sicher. Plötzlich ist alles anders und wenn man dann auch noch eine ohnehin sensible Psyche hat, entwickelt der Körper oft Schutzmechanismen. In meinem Fall war es das Essen. Ich hatte das Gefühl, dass ich in Amsterdam durch den Ortswechsel und die vielen neuen, unbekannten Gesichter ein bisschen loslassen konnte. Zucker habe ich immer noch strikt gemieden – aber Kohlehydrate habe ich verschlungen, als müsste ich ein Loch füllen.

Meine Beziehung zu Essen veränderte sich also fast schlagartig. Ich spürte richtig, wie ich anfing, wieder zuzunehmen. Weil es mir psychisch aus anderen Gründen oft schlecht ging, konnte ich es aber nicht aufhalten. Mein Körper wollte Essen und ich habe es zugelassen. Meine Kleidung wurde mir wieder zu klein, meine Eltern fragten mich auf Skype, warum ich denn plötzlich wieder dick aussah und meine Psyche zerbröckelte immer mehr.

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Schließlich kam ich wieder nach Wien zurück. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich wieder das 17-jährige Mädchen: Dick. Nicht schön. Unförmig. Mein ganzer Gewichtsverlust war genauso schnell beim Teufel wie er gekommen war. Ich habe es nie zugegeben, aber ich war am Boden zerstört. Plötzlich war mein Gewicht erneut in allen möglichen Konversationen mit Familie und Freundeskreis ein Thema. Aber ich war nicht mehr mutig. Nicht mehr das Idol. Keine TV-Geschichte mehr. Ich war das Mädchen, das es geschafft hatte, abzunehmen und dann doch wieder "fett" geworden ist. Egal wie oft mir meine Freunde sagten, sie hätten den Unterschied gar nicht gemerkt und ich würde toll aussehen – ich wusste, dass es nicht so war. Zumindest habe ich mir das eingeredet.

Und hier bin ich nun. Drei Jahre später. Seit ich aus Amsterdam zurückgekommen bin, habe ich mich nicht getraut, auf eine Waage zu steigen. Ich weiß nicht, wie ich auf die Zahl reagieren würde; und ich will es auch nicht wissen. Ich sehe im Spiegel immer noch einen Körper, der mir nicht gefällt und höre von meiner Familie oft, dass ich doch einfach wieder ein bisschen abnehmen sollte. Aber obwohl ich immer noch mit meiner Körperwahrnehmung kämpfe, ist mir eines klar geworden: Ich muss wieder anfangen, Zucker zu essen. Ich habe keine andere Wahl.

Jeder Mensch schuldet es sich selbst, ein positives Bild von seinem eigenen Körper zu haben – und dieses Bild fängt im Kopf an.

Jedes Mal, wenn ich Süßigkeiten sehe, schwebt vor meinem geistigen Auge ein riesiges Wort darüber, als wären sie Teil eines Videospiels: “Zunehmen” steht da in dicken Buchstaben. Und ich weiß, dass das ungesund ist, es nicht so sein sollte, sich ändern muss. Deshalb will ich mir nicht länger etwas vormachen. Ich habe tiefe, psychische Komplexe was die Wahrnehmung meines Körpers und die Beziehung zu meinem Gewicht angeht. Das ist Fakt und daran muss ich arbeiten. Der Zucker-Verzicht ist in meinem Kopf immer noch mit Abnehmen und Schönheit verbunden. Das muss sich ändern. Ich will endlich wieder ein Stück Schokolade essen können, ohne das Gefühl zu haben, dass ich danach – und DESHALB – ein Kilo schwerer bin. Ich will in den Spiegel schauen können und mir denken: “Du siehst gut aus.”

Vor drei Jahren habe ich aus allen falschesten Gründen abgenommen, die man sich vorstellen kann. Ich wollte nicht gesund oder sportlich sein, sondern einfach nur dünn. Ich wollte dazugehören. Ich wollte mich eigentlich auch selbst lieben – aber durch meine Handlungen habe ich das genaue Gegenteil getan. Niemand hat mir gesagt, ich soll aufhören, weil ja auch niemand wusste, wie schlecht es mir eigentlich ging. In den drei Jahren habe ich jedoch gelernt, dass dieser Weg eindeutig der falsche war.

Wenn es eine Sache gibt, die ich mit dieser Geschichte vermitteln will, dann ist es: Nehmt nicht aus den falschen Gründen ab. Hört auf euch und eure Psyche. Man kennt sich selbst nämlich eigentlich am besten, wenn man nur ehrlich mit seinen Motiven und Gefühlen ist. Und man weiß im Grunde ganz genau, wann man sich selbst belügt. Es ist einfach, eine Diät zu machen oder fünfmal pro Woche ins Fitnesscenter zu gehen. OK, vielleicht nicht einfach, aber es ist schaffbar; erst recht, wenn man so große Ziele wie Selbstliebe und einen flachen Bauch hat. Aber leider schafft es weder die psychischen Probleme, noch den Ekel vor dem eigenen Aussehen aus der Welt. Jeder Mensch schuldet es sich selbst, ein positives Bild von seinem eigenen Körper zu haben – und dieses Bild fängt im Kopf an, nicht während einer No-Carbs-Diät oder am Laufband.

Wenn ich eins gelernt habe, dann ist es, dass der Kampf mit meinem Gewicht nicht annähernd so schwierig ist wie der Kampf, den ich mit meinem eigenen Unterbewusstsein führe. Nach drei Jahren fühle ich mich endlich bereit, diesen Kampf anzugehen. Am besten mit einer Tafel Schokolade in der Hand.

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