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LGBTQ

Queere Menschen erzählen, wie sie Homofeindlichkeit auf dem Land erlebt haben

"Ich musste mich auf dem Schulweg verstecken, weil ich bedroht wurde."
Queere Menschen
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung der Protagonisten

In den grossen Städten der Schweiz gibt es einige Clubs und Bars für queere Menschen, auf dem Dorf höchstens eine Eckkneipe. Besonders in Zürich ist die Gay-Szene gross. In der Weihnachtszeit glitzern nicht nur die Lichter der Zürcher Bahnhofstrasse, sondern auch die Fummel der Dragqueens. Und wenn LGBTQ-Personen während der Zürcher Pride die Regenbogenflagge schwingen und durch die Stadt tanzen, scheint es niemanden zu stören. Doch fährt man mit dem Zug ein paar Stationen weiter ins ländliche Gebiet, ist es noch lange nicht selbstverständlich, wenn sich zwei Frauen oder zwei Männer auf der Strasse küssen. Je weiter man sich von einer Stadt entfernt, desto kleiner wird die queere Szene.

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In den kleinen Schweizer Dörfern spricht es sich schnell herum, wenn sich jemand als homosexuelle Person outet. Besonders in ländlich und katholisch geprägten Kantonen werden LGBTQ-Personen deswegen diskriminiert. Viele ziehen daher vom Dorf in die anonymere, aber oft auch offenere Grossstädte. Auch wenn Ende November beschlossen wurde, dass ein neuer Gesetzesartikel Homosexuelle vor Hatespeech schützen soll, leiden sie in der Schweiz noch immer unter Anfeindungen. Besonders subtile Homofeindlichkeit, wie missbilligende Blicke, oder Jugendliche, die "schwul" als Beleidigung verwenden, lässt sich schwer bekämpfen.

Wir haben mit queeren Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind, darüber gesprochen, wie sie Homofeindlichkeit erlebt haben.

"Ich bin noch heute nicht gerne in Muttenz unterwegs, weil ich die Leute von damals nicht antreffen möchte" – Lukas, 27

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VICE: Wo bist du aufgewachsen?
Lukas: In Muttenz, das ist eine S-Bahnstation von Basel entfernt. Da leben etwa 17.000 Menschen.

Wie alt warst du, als du dich geoutet hast?
Mein offizielles Outing hatte ich mit 17 Jahren, aber die meisten ahnten es schon in der Primarstufe.

Wie hat sich das bemerkbar gemacht?
Ich wurde ständig gemobbt, weil ich mehrheitlich mit Mädchen befreundet war und mit Polly Pockets gespielt habe. Dazu kam, dass ich meinen Stimmbruch sehr spät hatte, und meine Stimme sehr quirlig war. In der Schule riefen mir die Jungs "Schwuchtel" und "Schwuler” zu.

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Wie bist du damit umgegangen?
Ich wusste damals ja selbst nicht genau, ob ich schwul bin, ich hatte zwar meine Präferenzen, hatte aber gleichzeitig auch Freundinnen. Ich dachte lange, es sei etwas falsch mit mir und habe mich deshalb nicht gegen die Beleidigungen gewehrt.

Merkst du einen Unterschied, jetzt wo du in Basel lebst?
Muttenz ist ja nicht weit von Basel entfernt, trotzdem merke ich schon da einen Unterschied, Basel ist einfach viel diverser und die Gay-Szene ist grösser. Ich bin noch heute nicht gerne in Muttenz unterwegs, weil ich die Leute von damals nicht antreffen möchte.

Zeigst du auf dem Land öffentlich, dass du homosexuell bist?
Nein, weil ich weiss, dass die Leute auf dem Land nicht so oft mit Homosexualität konfrontiert werden wie in der Stadt. Man müsste es deshalb eigentlich gerade öffentlich zeigen, aber ich habe noch immer Angst davor. In Basel gehe ich zwar offener damit um, aber vor grossen Männer-Gruppen habe ich auch in der Stadt Angst.

Was müsste sich auf dem Land verändern, damit die Leute nicht mehr homofeindlich sind?
Es würde bestimmt helfen, wenn mehr LGBTQ-Personen nicht in die Stadt ziehen, sondern die Leute auf dem Land mit Homosexualität konfrontieren würden. Das ist aber natürlich leichter gesagt, als getan.

"Mir fehlte auf dem Dorf vor allem eine queere Frau in meinem Umfeld" – Luana, 25

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VICE: Wo bist du aufgewachsen?
Luana: In Dierikon, das ist ein kleines Dorf etwa 20 Minuten von Luzern entfernt.

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Wussten die Leute im Dorf, dass du lesbisch bist?
Nein, es war ein sehr konservatives Umfeld, deshalb habe ich versteckt, dass ich lesbisch bin. Ich kann mir aber vorstellen, dass es viele vermutet haben, weil ich schon als Kind sehr androgyn gekleidet war.

Wie haben die Leute im Dorf auf dein androgynes Aussehen reagiert?
Einmal, am Mittagstisch in meiner Tagesschule, sagte eine Betreuung zur anderen: "Nur Lesben tragen weite T-Shirts und Baggyhosen." Sie hat natürlich mich gemeint – da war ich etwa 11 Jahre alt.

Wann hast du dich geoutet?
Erst mit 15 Jahren, als ich in Luzern ins Gymnasium ging. Mein bester Freund war selbst schwul und nahm es natürlich gut auf. Meinen Mitschülern und Mitschülerinnen habe ich aber gesagt, ich sei bisexuell, nicht lesbisch. Ich traute mich nicht, mich ganz zu outen.

Was hat dir auf dem Land als queere Person gefehlt?
Mir fehlte vor allem eine queere Frau in meinem Umfeld. In dem Dorf, wo ich aufwuchs, gab es gar keine Angebote und in Luzern gab es nur den "Stammtisch für Queers", da waren aber vor allem ältere Personen.


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Gibt es in der Stadt mehr Angebote und Gleichgesinnte?
Jetzt gibt es in Luzern die Milchjugend, da treffen sich queere Jugendliche einmal pro Woche. Genau so etwas hätte ich damals gebraucht. In Basel habe ich einige queere Frauen kennengelernt. Wir treffen uns jede Woche und haben eine Facebook-Seite für lesbische Frauen gegründet. Ich setze jetzt das um, was mir damals gefehlt hat.

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"Würde man als schwules Paar aufs Land ziehen, könnte das problematisch sein" – Benjamin, 24

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VICE: Wo bist du aufgewachsen?
Benjamin: Meine Kindheit habe ich in Reinach, im Kanton Baselland verbracht, einem 18.000-Einwohner-Ort. Mit 15 Jahren bin ich mit meiner Mutter nach Luzern gezogen.

Warst du in Reinach geoutet?
Ich bin nicht hin gestanden und habe gesagt: "Hallo, ich bin übrigens schwul." Ich denke, die meisten haben es vermutet. Ich hatte nie eine Freundin und habe mich meistens für andere Dinge als die Jungs in meiner Klasse interessiert.

Hast du in Reinach Homofeindlichkeit erlebt?
Ja, das ging schon in der Primarstufe los. Ich musste mich teilweise auf dem Schulweg verstecken, weil ich bedroht wurde. Die Jungs riefen mir "Schwuchtel" und weitere Beleidigungen zu. Die Mädchen hatten nie ein Problem mit mir.

Und wie war es in Luzern?
Als ich mit 15 Jahren nach Luzern zog, war ich so traumatisiert von meiner Schulzeit in Reihnach, dass ich eine Freundin erfunden habe. Ich dachte, die Situation würde sich sonst wiederholen. Doch ich konnte mir in Luzern einen Freundeskreis aufbauen, der mich unterstützt hat, und mich bei ihnen outen. Trotzdem haben die männlichen Mitschüler hinter meinem Rücken über mich getuschelt.

Wo lebst du jetzt?
Seit ich 19 Jahre alt bin, lebe ich in Basel. Ich bin wegen meines Medizinstudiums hierher gezogen. Luzern ist zwar auch eine Stadt, aber aufgrund der Grösse um einiges weniger divers als Basel. Ich habe die meisten Menschen auch als konservativer wahrgenommen.

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Hältst du in Städten öffentlich Händchen?
Ich war vor Kurzem in Amsterdam mit meinem Freund, dort haben wir öffentlich Händchen gehalten und das war kein Problem. Zurück in der Schweiz haben wir das beibehalten, da fiel uns auf, dass es hier Leute gibt, die uns komisch anschauen und es als aussergewöhnlich empfinden.

Würdest du in einem kleinen Bergdorf öffentlich zeigen, dass du schwul bist?
Mit dem Erwachsenwerden wurde ich auch selbstbewusster, deshalb würde ich es heutzutage tun – auch als Protest. Ich kenne aber viele, die es nicht tun würden.

Würdest du zurück aufs Land ziehen?
Nein, das kommt für mich gar nicht in Frage, nicht zuletzt wegen meiner sexuellen Orientierung. Ich denke, würde man als schwules Paar ins Appenzell ziehen, könnte das problematisch sein.

Wie könnte man das Mindset der Leute auf dem Land ändern?
Man sollte Kinder schon von Anfang an dafür sensibilisieren, dass es unterschiedliche Arten von Sexualität und Genderidentität gibt. Zudem sollte der Staat ganz klar ein Zeichen setzen, dass Hatespeech gegen Homosexuelle und Genderidentität nicht akzeptiert wird, dies ist bis jetzt leider nur bei der Homosexualität der Fall.

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