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Drogen

Wie diese Stadt zu "Europas Hauptstadt der Drogentoten" wurde

"Streng dich nicht an, nach Drogen zu suchen. Sie werden zu dir kommen."
Illustration zeigt eine Pille in den Farben der schottischen Flagge auf einer ausgestreckten Zunge.
Illustration: Eliot Wyatt

Als ich in Dundee eintreffe, liegt eine euphorische Spannung in der Luft. Für Tausende Studierende startet gerade das erste Semester, außerdem wird an diesem Wochenende das neue Victoria-and-Albert-Museum eröffnet – das millionenteure Herzstück von Dundees Bemühungen, sich neu zu definieren. Trotzdem kann die Freude über das neue Museum nicht von dem düsteren Rekord ablenken, den die Stadt seit Kurzem hält.

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Im Vergleich zur Einwohnerzahl hat Dundee die höchste Rate an Drogentoten in Europa. Die Stadt an der Ostküste Schottlands ist damit das traurige Symbol für eine Entwicklung, die das ganze Land im Griff hat. Im vergangenen Jahr wurden in Schottland 934 drogenbedingte Todesfälle registriert, die höchste Zahl seit Beginn dieser Datenerhebung im Jahr 1996. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl verdoppelt.

In Dundee registrierten die Behörden im vergangenen Jahr 57 Drogentote, im Jahr zuvor waren es 38. Eine sehr hohe Zahl, bedenkt man, dass Dundee 148.000 Einwohner hat. Mit dem Titel "Europas Hauptstadt der Drogentoten" geriet die Stadt deshalb in den Fokus zahlreicher TV- und Zeitungsberichte über eine arme Unterschicht, die von Drogensucht und Überdosen geplagt wird. Doch es sind nicht Heroin oder Fentanyl, die den Sozialarbeitern der Stadt die meisten Sorgen bereiten. Die meisten Todesfälle stehen mit neuen, hochdosierten Beruhigungsmitteln in Verbindung.

Ich treffe den Sozialarbeiter Danny Kelly im Büro der Hilfsorganisation Gowrie Care. Er leitet unter anderem das Spritzentauschprogramm der Organisation, das sich vor allem an Heroinabhängige richtet. "Jeder, der hier durch die Tür kommt, wird freundlich und vorurteilsfrei empfangen", erzählt mir Kelly bei einer Tasse Tee. "Wir machen aber noch mehr, als die Menschen mit Nadeln zu versorgen." Die Organisation geht davon aus, dass von den schätzungsweise 2.500 Konsumierenden der Stadt, die spritzen, fast die Hälfte ihren Service in Anspruch nimmt.

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Mann setzt sich eine Spritze.

In Dundee spritzen schätzungsweise 2.500 Menschen Heroin | Foto: Mike Goldwater | Alamy Stock Photo

Viele von ihnen konsumieren nicht nur Heroin, sondern trinken auch Alkohol und nehmen Benzodiazepine – Beruhigungsmittel, die gegen Schlaflosigkeit, Angstzustände und Panikattacken verschrieben werden, aber auch auf dem Schwarzmarkt verfügbar sind. Vor allem diese Beruhigungsmittel bereiten Sozialarbeitern wie Kelly große Sorgen, denn sie sind höher dosiert und gefährlicher als Diazepam – auch bekannt als Valium –, das schon lange bei Drogenabhängigen verbreitet ist.

"Sozialarbeiter nennen es inzwischen 'Street Valium'. Es kann um ein Vielfaches stärker sein als herkömmliche Beruhigungsmittel wie Diazepam", erzählt mir Kelly. "Noch schlimmer ist, dass seine Wirkung mit einer Verzögerung von bis zu drei Stunden eintreten kann. Diazepam hingegen fängt nach 40 Minuten an zu wirken."

Diese verzögerte Wirkung kann fatale Folgen haben. "Während der langen Wartezeit nimmst du vielleicht ein bisschen Methadon und trinkst Alkohol. Dabei hast du bereits diese ganzen Opiate genommen, die dein Zentralnervensystem betäuben. Sie signalisieren deinem Gehirn quasi, dass du aufhören sollst zu atmen."

Darum kommt es zu einer Überdosis. "Das kannst du buchstäblich sehen. Umgangssprachlich ist es als 'Todesrasseln' bekannt. Es wirkt so, als ob die betroffene Person wegdöst. Die Speiseröhre zieht sich unter dem Sauerstoffentzug zusammen und die Opiate setzen sich auf die Opiatrezeptoren im Gehirn."


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Dr. Andrew McAuley von der Glasgow Caledonian University erklärt mir, dass die Drogentodesfälle in Schottland, bei denen Benzodiazepine im Spiel waren, rapide angestiegen sind. Noch vor zehn Jahren wurde nur ein Sechstel der Todesfälle mit Benzodiazepinen in Verbindung gebracht – im vergangenen Jahr waren es 552 von insgesamt 934, also fast 60 Prozent.

McAuley zählt einige hochdosierte Benzodiazepine auf, die in letzter Zeit in Schottlands Drogenszene Einzug gehalten haben, darunter Phenazepam, Etizolam und Xanax. Vor allem Etizolam ist laut McAuley typisch für die neuen Beruhigungsmittel: Es macht extrem abhängig, ist online leicht verfügbar und bis zu zehnmal so stark wie herkömmliches Valium. Im Jahr 2017 war es für 229 Tode in Schottland (mit)verantwortlich, in der Regel in Kombination mit anderen Substanzen wie Methadon und Alkohol.

Illegale Beruhigungsmittel sind seit den 1980ern ein fester Bestandteil von Schottlands Heroin-Szene. Diazepam wird von Heroinkonsumierenden oft gemeinsam mit Alkohol genommen, um die Comedowns, also das Runterkommen von den Drogen, und Entzugserscheinungen besser zu überstehen. Seit einigen Jahren ist Diazepam in Schottland nur noch auf dem Schwarzmarkt verfügbar und seitdem noch hochdosierter geworden. "Die Leute wissen gar nicht, was sie da nehmen", sagt McAuley.

In Dundee ist es lächerlich einfach, an diese Drogen zu kommen. Als ich Drogenkonsumierende auf der Straße frage, wie schwer es ist, an die Pillen zu kommen, lachen die meisten: "Streng' dich nicht an, nach Drogen zu suchen", lautet der Tenor, "sie werden zu dir kommen."

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"Die Dealer kommen am helllichten Tag auf dich zu, mitten in der Stadt", erzählt mir ein Mann. Außerdem sind die Pillen sehr günstig: Etizolam gibt es bereits ab knapp einem Euro das Stück, sie sind noch billiger, wenn man eine große Menge kauft.

Genauso wie Spice (synthetisches Cannabis) ist das "Street Valium" von den Online-Verkaufsplätzen auf die Straßen übergeschwappt. Für Dealer scheint der Handel mit Benzodiazepin sehr lukrativ, denn über Portale wie Facebook sind die in China hergestellten Pillen leicht zu beschaffen und versprechen auch bei kleinem Startkapital hohe Gewinne.

Schottische Polizisten während einer Razzia

Mit Razzien versucht die schottische Polizei gegen den Drogenhandel vorzugehen | Bild: Ian Georgeson | Alamy Stock Photo

Um gegen Benzodiazepine und Heroin auf Dundees Straßen vorzugehen, hat die schottische Polizei in diesem Sommer mehrere Razzien durchgeführt. Dabei beschlagnahmten sie 18.000 Benzodiazepin-Pillen und 12,5 Kilogramm Heroin im Wert von insgesamt etwa 860.000 Euro. Auch wenn diese Beschlagnahmungen als Erfolg im Kampf gegen die Drogen gefeiert werden, haben sie wohl nur einen Bruchteil der Mengen aus dem Verkehr gezogen, die unbemerkt in die Stadt gelangen.

Ein weiteres Problem verschärft die Lage in Dundee: Zu wenige der Drogenkonsumierenden bekommen die medizinische Versorgung, die sie benötigen. Statistisch gesehen haben Konsumierende höhere Überlebenschancen, wenn sie sich in Behandlung befinden. Doch Dundee ist die einzige Stadt in Schottland, in der es keine einzige Reha-Klinik gibt.

Nachdem Dundee wegen der zahlreichen Drogentoten in den Schlagzeilen landete, wurde eine Drogenkommission gegründet, die die Vorfälle und Zusammenhänge untersuchen soll. Ihr Leiter, Andy Perkins, erklärt mir im Gespräch, warum er die Bezeichnung "Europas Hauptstadt der Drogentoten" nicht zutreffend findet. "Man kann die Daten unterschiedlich interpretieren", sagt er. "Wenn man die Todesfälle auf die gesamte Einwohnerzahl rechnet, sieht es für Dundee schlecht aus. Aber wenn man sich die Todesfälle pro Drogenkonsument anschaut, steht Dundee in Großbritannien nicht an der Spitze."

Der Kampf gegen diese Epidemie ist zwar langsam und unglamourös, doch in Dundee geht er weiter. Mit Medikamenten und Tests geht die Hilfsorganisation Gowrie Care radikal gegen Hepatitis-C-Erkrankungen bei Heroinabhängigen vor. Inzwischen bekommen auch mehr Menschen Zugang zu Naloxon, einem lebensrettenden Medikament bei einer Opioid-Überdosis. Zwar ist es kein Allheilmittel und ersetzt auch keine Therapie, aber es rettet Leben, sagt der Sozialarbeiter Kelly.

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